Wann ist ein Krieg erklärt?
Deutschland ist vom russischen Überfall auf die Ukraine nicht überrascht worden. Also, Angela Merkel und Sahra Wagenknecht vielleicht schon. Möglicherweise auch die Bundesregierung. Ganz sicher aber nicht »die Dienste«, wie BND-Präsident Bruno Kahl nun in einer Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium in Berlin ausgesagt hat. Putins Handeln sei »eine Kriegserklärung an die gesamte freiheitliche demokratische Welt«. Und Thomas Haldenwang vom Verfassungsschutz erklärte, »aus der schwelenden Systemrivalitiät« sei »ein offener Kampf geworden« .
Geladen war neben Kahl (BND) und Haldenwang (BfV) auch Martina Rosenberg vom Militärischen Abschirmdienst (MAD), also die geheime Dreifaltigkeit der deutschen Geheimdienstbarkeit. Ihre Einschätzung des Status Quo unterschied sich allerdings kaum von einem handelsüblichen Leitartikel. Bedenklich war dann schon, welche Konsequenzen für die Sicherheit unseres Landes die »Schlapphüte« (entsetzlich verstaubter Begriff für Geheimdienstler, der hiermit ein allerletztes Mal verwendet werden soll) aus ihren Erkenntnissen ziehen – in einer Zeit immerhin, in der auf ominöse Weise die Deutsche Bahn stillgelegt wird oder Gasleitungen in der Ostsee plötzlich explodieren.
Die erwarteten Szenarien reichen offenbar von »politischen Morden« , wie sie auch bisher gelegentlich in Deutschland stattfanden, bis hin zum Einsatz »substrategischer Kernwaffen« auf dem Territorium der Ukraine. Substrategisch, das wäre dann taktisch. Ob es klug wäre und was dagegen zu tun sei, war nicht Gegenstand der Anhörung.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Deutsche Geheimdienstchefs sprechen von »Kriegserklärung« Putins an den Westen
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Faeser kündigt besseren Schutz von kritischer Infrastruktur an
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Ich sehe darin einen Versuch, die ukrainischen Streitkräfte abzulenken« Der belarussische Machthaber Lukaschenko lässt Tausende russische Soldaten ins Land, angeblich für den Grenzschutz. Politanalyst Artjom Schraibman über die Hintergründe – und die Frage, ob Belarus bald in den Krieg eintritt .
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Generalbundesanwalt leitet wegen »Nord Stream«-Sabotage Ermittlungsverfahren ein: Nach dem Angriff auf drei Röhren der »Nord Stream«-Pipeline ist die Bundespolizei mit Spezialisten der Bundeswehr am Tatort und sichert per Unterwasserdrohne Beweise. Nun schaltet sich der Generalbundesanwalt ein.
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Selenskyj ruft Bevölkerung zum Stromsparen auf, Belarus teilt Waffen aus: Zahlreiche Städte im Osten der Ukraine stehen unter russischem Beschuss. Kiew appelliert, den Stromverbrauch zu senken. Und: Soll sich die Ukraine westliche Waffen ausleihen?
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Wächst der Druck auf Teheran?
Was sich bewegt wie eine iranische Drohne, klingt wie eine iranische Drohne und explodiert wie eine iranische Drohne, könnte möglicherweise: eine iranische Drohne sein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beliefert das Regime in Teheran das Regime in Moskau mit seinen »Kamikaze«- Waffen. Aber was an Sicherheit grenzt, ist noch keine Sicherheit. Deshalb sucht die Europäische Union derzeit nach belastbaren Beweisen für ein solches Export-Geschäft.
Hintergrund ist die drohende Verhängung weiterer Sanktionen gegen das Land, bei denen es, wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn munkelte, »nicht mehr darum gehen« könnte, nur »einzelne Personen zu sanktionieren«. Da kommt also etwas ins Rutschen. Die Rede ist immerhin von einem Land, mit dem die EU noch bis vorgestern sehr gerne an einem Atomabkommen festgehalten hätte. Schon fordert SPD-Mitvorsitzende Saskia Esken ein Ende der entsprechenden Gespräche.
Mit einem Land überdies, das seit Tagen von Protesten – und mehr noch von deren brutaler Niederschlagung – erschüttert wird. Schätzungen von zufolge sind seit Beginn der Proteste mindestens 240 Menschen getötet worden, darunter 32 Minderjährige. Zudem seien in 111 Städten und Gemeinden mehr als 8.000 Menschen festgenommen worden. Im Evin-Gefängnis, in das Festgenommene gesteckt werden, gab es nun unter ungeklärten Umständenden einen Großbrand mit mehreren Toten. Außenministerin Annalena Baerbock hat nun EU-Sanktionen gegen Mitglieder der iranischen »Sittenpolizei« angekündigt.
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Lesen Sie hier mehr: Attacke der Kamikazedrohnen
Womit ist zu rechnen?
Seit Jahren ist die Schule ein Ort, von dem es Alarmierendes zu berichten gibt. So häufig, dass man bisweilen gar nicht mehr hinhören mag. Jaja, alles marode . Klar, zu wenig Lehrpersonal. Ach Gottchen, schon wieder das Pausenbrot vergessen. Von anderem Kaliber ist eine aktuelle Bildungstudie über Viertklässler. Fazit: »Der Anteil der Viertklässlerinnen und Viertklässler, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch«.
Solches schreibt mutmaßlich der Politik ins Stammbuch ein Forscherteam, für dessen korrekte Wiedergabe es dann doch Mindeststandards in Aufmerksamkeit und Rechtschreibung braucht, nämlich das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Berliner Humboldt-Universität. In Mathematik verfehlt demnach mehr als jedes fünfte Kind die Mindeststandards (»3 plus 3 mal fünf«, na?), im Lesen fällt ein knappes Drittel durch. »Es dürfte Einigkeit darüber bestehen«, sagen die Leute vom IQB, »dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind«.
Schuld an dieser Entwicklung sind wohl Unterrichtsausfälle während des Lockdown, aber auch soziale Faktoren – wie etwa der Umstand, dass nicht alle Familien sich Computer und WLAN leisten können, was bei einem Fernunterricht ganz hilfreich ist. Es verschärft sich also die bestehende Ungerechtigkeit und trifft die Schwächsten. Wer hätte das gedacht?
Schlusslichter in allen untersuchten Bereichen (Mathematik, Lesen, Zuhören, Rechtschreibung) sind übrigens zuverlässig Brandenburg, Bremen und Berlin. Und das Ergebnis, wie ich mit meinem pfälzischen Wegwerfabitur mühelos errechnet habe, lautet: 18.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Lesen, Schreiben, Rechnen – so schneiden Grundschüler in den einzelnen Bundesländern ab
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Finanzminister Hunt kündigt Rücknahme des Entlastungsprogramms an: Premierministerin Truss war mit einem milliardenschweren Konjunkturprogramm angetreten, doch nach schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten bleibt davon wenig übrig. Der neue Finanzminister verspricht eine Kehrtwende.
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Spektakulärer TV-Protest – Journalistin flieht mit Tochter aus Russland: Mit einem Live-Protest gegen Russlands Invasion in der Ukraine sorgte Marina Owsjannikowa für Aufsehen – und geriet ins Visier des Kreml. Nun hat sich die Journalistin zusammen mit ihrer Tochter ins Ausland abgesetzt.
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Landgericht Leipzig verschiebt Prozess gegen Gil Ofarim: Der Prozess gegen den Musiker Gil Ofarim ist vorerst geplatzt. Das Landgericht Leipzig hat die Termine um mindestens ein halbes Jahr verschoben. Es soll Zeit für noch offene Rechtsmittel geschaffen werden.
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Schwimm-Verband kündigt Bundestrainer Buschkow: Lutz Buschkow ist seinen Job los. Er soll von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs des Ex-Athleten Jan Hempel gewusst haben, ohne einzuschreiten. Der langjährige Wassersprung-Bundestrainer widerspricht und will vor Gericht ziehen.
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Kanye West will rechtslastigen Twitter-Rivalen Parler übernehmen: Nicht erst seit dem Sturm von Trump-Fanatikern auf das US-Kapitol gilt die Kommunikationsplattform Parler als Plattform für Rechtsextreme. Rapper Kanye West will sie nun kaufen.
Bücherherbst im SPIEGEL
Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse, aber schon heute startet bei uns die Buchwoche von SPIEGEL BESTSELLER. Jeden Tag wird es ein besonderes Programm geben, im Mittelpunkt steht natürlich die Literatur. Autorinnen und Autoren beantworten uns zum Beispiel in Gastbeiträgen Fragen, die eigentlich zu groß sind, um sie kurz zu klären.
Sie können sich bestimmt schon denken, dass unsere Autoren und Autorinnen es trotzdem versucht haben. Den Anfang macht heute die Musikerin und Schriftstellerin Judith Holofernes. Holofernes erläutert, was eigentlich nach dem Ruhm kommt und wie man einen Entzug von dieser Droge schafft (Spoiler: Easy ist das nicht, auch weil es kaum Rollenvorbilder gibt). In den kommenden Tagen können Sie sich noch auf die Gedanken von Lukas Bärfuss, Elina Penner oder El Hotzo freuen.
Und was gibt es sonst bei uns? Interviews mit Schriftstellerinnen, Porträts, Rezensionen der besten Bücher des Herbstes und die Tagebücher des ukrainischen Autoren Serhij Zhadan, der am Sonntag den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten soll.
Im aktuellen Heft haben wir ein hyperentzückendes Gespräch, das meine Kollegin Eva Thöne mit Ingrid Noll geführt hat . Und wer es noch spannender mag, auf den (oder die) wartet eine Überraschung aus Maine in den USA, aus Derry oder Castle Rock, wer weiß…
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Lesen, Schreiben, Rechnen – so schneiden Grundschüler in den einzelnen Bundesländern ab: Die Defizite in Deutsch und Mathe sind erschreckend – das ist das Ergebnis einer groß angelegten Bildungsstudie mit Viertklässlern. Nur drei Bundesländer konnten das Leistungsniveau von 2016 einigermaßen halten .
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Bekommt man im Rest von Deutschland mit, was sich bei uns zusammenbraut? An Montagen kann ich nicht mehr sicher durch meine Heimatstadt Zwickau laufen. Hunderte Rechte ziehen dann durch die Straßen. Wer stoppt sie?
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Wie privat ist der Inkognitomodus wirklich? Gerichtsdokumente zeigen: Google-Mitarbeiter scherzen über den Inkognitomodus des Chrome-Browsers, der privates Surfen im Netz verspricht. Wovor schützt die Funktion wirklich, und wovor nicht ?
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Was kommt nach dem Ruhm, Judith Holofernes? Manche Fragen sind eigentlich zu groß, um sie kurz zu beantworten. Wir haben Autorinnen und Autoren gebeten, es trotzdem zu versuchen. Hier schreibt die Ex-Sängerin von Wir sind Helden über eine überraschende Erkenntnis .
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10.000 Swipes, zwei Dates, kein Sex: Wie oft muss man bei Tinder nach rechts wischen, um Erfolg zu haben? Ein enttäuschter Student ließ sein Verhalten in der App auswerten – und fand eine Analyse des Scheiterns .
Was heute weniger wichtig ist
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Emmanuel Todd Lopez, 7, ist an der Vogelgrippe erkrankt. Normalerweise müsste das keine besondere Besorgnis erregen. Aber Emmanuel hat im Internet bisher rund 13 Millionen Klicks generiert, also eine weltweite Fangemeinde. Und er ist ein Vogel. Das Tier lebt auf der kalifornischen Farm seiner Besitzerin Taylor Blake, 29, die mit TikTok-Videos des ebenso neugierigen wie renitenten Laufvogels (»Emmanuel, don’t do it!«) für Furore gesorgt hat, weil er »es« natürlich dann doch getan hat: Immer, wenn Blake über ihre anderen Tiere berichten wollte, machte sich Emmanuel über das Smartphone her. Nun haben offenbar Wildgänse das Virus eingeschleppt, sämtliches Federvieh auf der Farm hat bereits das Zeitliche segnen müssen – und auch Emmanuel geht es hundmiserabel. Er musste per Hand gefüttert werden, und neulich ist er nachts einfach umgefallen. Blake aber glaubt zu wissen, »dass Emmanuel Todd Lopez vollständig genesen wird und weiterhin Liebe, Licht und Freude verbreiten wird«. Ein Clip, in dem das Tier, durch ein Tuch aufrecht gehalten, erstmals seit Tagen wieder selbständig Wasser zu sich nimmt, ist bereit mehr als zwei Millionen Mal angeschaut worden. Wir sollten, wenn wir noch Kapazitäten frei haben, alle für Emmanuel beten.
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Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Brix und Kollegin Janneke (Margarita Broich) philosophierten im Laufe der Untersuchungen viel über das Pro und Contra psychoaktiver Instanzen.
Cartoon des Tages: Atomkraft
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Kochen! In Zeiten chromblitzender Kochroboter, labberiger Fertigpizzen und beunruhigender Weltlage hat die Zubereitung von Essen etwas sonderbar Heimeliges. Gerade, wenn man nebenbei einem Hörbuch lauscht (Tipp: »Die vierte Gewalt« von Precht/Welzer; kleiner Scherz, Zwinkerzwonker) oder Radio hört, Bayern 2 ist sehr fein, gerade zur Zubereitungszeit am frühen Abend. Oder, wie SPIEGEL-Kolumnistin Verena Lugert den Gesamtvorgang nennt: »Nervennahrung«. Diesmal widmet sie sich einem häufig eher schleimigen und daher unterschätzten Gemüse, dem Spinat. Landläufig gilt der grüne Matsch als ähnlich abstoßend wie, sagen wir, Lebertran, aber ich kann das nicht bestätigen. Spinat war, auch ohne propagandistische Nachhilfe von Popeye, immer essbar. Schließlich schmeckt er nach weitgehend nichts, anders als Rosenkohl. Dennoch las ich ich Rezept für Spinatknödel mit gesunder Skepsis. Aber dann kam ein Absatz, mit dem sie mich plötzlich am Haken hatte. Darin schwärmt Lugert vom Spinatknödel als »weich, grün, komplex im Geschmack, kugelrund – mit karamellig-süßlicher brauner Butter übergossen. Darüber Parmesanspäne, die langsam schmelzen«. Hmjam. Los geht’s.
Einen nervenschonenden Abend wünscht
Ihr Arno Frank
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