Schulgebäude in der ehemaligen Colonia Dignidad (2016)
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SPIEGEL: Vor sechs Jahren gerieten die Verbrechen der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Es gab einen Kinofilm mit Daniel Brühl in der Hauptrolle, Frank-Walter Steinmeier lud 2016 als damaliger Außenminister die Opfer ins Ministerium ein. Was hat sich seitdem in der Aufarbeitung getan?
Stehle: Die Worte von Steinmeier waren sehr wichtig. Es gibt wenige Vergleichsfälle, wo die Bundesregierung ein so deutliches »mea culpa« ausgesprochen hat. Gleichzeitig war dieses Schuldeingeständnis überfällig, angesichts der Tatsache, dass es sich aus meiner Sicht um eines der größten Menschenrechtsverbrechen unter deutscher Beteiligung nach 1945 handelt. Noch im selben Jahr der Rede hat die grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast mit einer Bundestagsdelegation die Massengräber in der Kolonie besucht. Im Folgejahr verabschiedete der Bundestag einen Entschließungsantrag, in dem die Bundesregierung zu einer Reihe von Maßnahmen aufgefordert wurde. Leider wurden bislang nur die umgesetzt, die die am wenigsten wehtun und am wenigsten die deutsche Verantwortung in den Vordergrund rücken.
Grünenpolitikerin Künast
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SPIEGEL: Woran liegt das?
Stehle: Es ist ein Ping-Pong-Spiel der Verantwortlichen. Die Verbrechen wurden vornehmlich auf chilenischem Territorium begangen, aber von deutschen Staatsbürgern. Von daher haben beide Staaten eine Verpflichtung, sich an der Aufarbeitung zu beteiligen. Aber jede Seite deutet auf die andere, weil die vermeintlich eine höhere Verantwortung trage oder zuständig sei. Das führt am Ende zu einer Blockade.
Die Colonia Dignidad war ein Ort des Grauens : Kinder und Jugendliche deutscher wie chilenischer Herkunft wurden sexuell missbraucht, Bewohner mit Elektroschocks gepeinigt und zu Zwangsarbeit verpflichtet, Gegner des chilenischen Diktators Augusto Pinochet zu Hunderten gefoltert und zu Dutzenden getötet. Die damals minderjährigen Opfer leben heute meist verarmt und größtenteils traumatisiert in Chile oder auch in Deutschland , wohin immer mehr der ehemaligen Bewohner mittlerweile zurückgekehrt sind – Opfer, jedoch auch mutmaßliche Täter. Jahrzehntelang blieben die Verbrechen in der Kolonie, die Sektenführer Paul Schäfer 1961 gegründet und bis zu seiner Flucht 1997 angeführt hatte, weitgehend unentdeckt. Auch deshalb, weil Führungsmitglieder der Sekte enge Kontakte zu deutschen Politikern und Diplomaten hielten und die Botschaft in Santiago de Chile wie auch deutsche Ermittlungsbehörden nicht so genau hinsahen.
SPIEGEL: Sie forschen seit vielen Jahren zur Colonia Dignidad, Ihre Dissertation ist als Buch erschienen. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Stehle: Ich habe die erhebliche Mitverantwortung der bundesdeutschen Außenpolitik und Justiz für die Verbrechen der Colonia Dignidad dargelegt. Von Anfang an, seit den frühen 1960er-Jahren, erreichten die Bundesbehörden deutliche Hinweise auf schwere Verbrechen innerhalb der Kolonie. Obwohl diese Hinweise sich über die Jahre immer weiter verhärtet haben, ist weder die bundesdeutsche Diplomatie noch die zuständige Justiz von Nordrhein-Westfalen eingeschritten. So hat man zugelassen, dass immer weitere Straftaten und Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, immer weitere Opfer produziert wurden. Darin besteht aus meiner Sicht die bundesdeutsche Mitverantwortung.
SPIEGEL: Es geht dabei nicht nur um sexuellen Missbrauch von Kindern durch den pädophilen Sektenführer Paul Schäfer, sondern auch um Folter und Mord an Oppositionellen des damaligen Pinochet-Regimes. Warum haben deutsche Behörden dies alles stillschweigend geduldet?
Stehle: Das Ganze ging in den 1960er-Jahren in einem sehr fernen Land los, wo nicht dieselben Medienstrukturen wie heute bestanden und wo es einen Vertrauensvorschuss gab gegenüber allem, was sich deutsch gerierte. Die Colonia Dignidad hat sich ja eine wohltätige Fassade aufgebaut und sehr gezielt Lobbyarbeit gemacht, nicht nur in ihrem chilenischen Umfeld, sondern eben auch bei deutschen Diplomaten, Unternehmern und Politikern. Gegnerinnen und Gegner der Colonia hingegen wurden diffamiert und verfolgt. Die Colonia hat immer gut bezahlte Anwälte eingeschaltet, war vernetzt in allen hohen Sphären der chilenischen Wirtschaft und Politik. Die Opfer unter den Koloniebewohnerinnen und -bewohnern haben, wenn sie überhaupt jemand zu Gesicht bekommen haben, einen sehr kaputten Eindruck gemacht, weil sie unter anderem mit Psychopharmaka ruhig gehalten wurden. Und so gab es dann immer das Narrativ der Colonia-Führung: Das sind Menschen, die in ärztlicher Behandlung sind und die man nicht ernst nehmen könne. Den wenigen, die es schafften, aus der Kolonie zu fliehen, haben die deutschen Behörden keinen Glauben geschenkt. Und nach dem Putsch von 1973 gab es in der bundesdeutschen Diplomatie und Politik auch Sympathie für die Pinochet-Diktatur, die den demokratischen Weg zum Sozialismus von Salvador Allende gewaltsam beendet hatte.
SPIEGEL: Warum wurden Pinochet-Gegner in die Kolonie gebracht?
Stehle: Die Colonia wurde zu einem Schlüsselelement im Repressionsapparat der chilenischen Militärdiktatur, was auf die persönliche Beziehung zwischen Schäfer und Pinochet zurückzuführen ist. Dieses Thema ist aus meiner Sicht noch nicht genügend erforscht. Es gibt viele Belege dafür, dass Dutzende Gegnerinnen und Gegner der Diktatur – vermutlich mehr als hundert – auf dem Siedlungsgelände ermordet wurden, über zehn Prozent der insgesamt während der Diktatur in Chile verschwundenen Menschen. Die Colonia hat sehr eng mit der Spitze des chilenischen Geheimdienstes DINA zusammengearbeitet. Es wurden in ganz Chile Kommunikationssysteme in geheimen Haftzentren der DINA errichtet, sodass Verhöre in Echtzeit stattfinden konnten. Die Colonia hat Mitarbeitern der DINA einen Rückzugsort geboten, wo sie Ferien machen konnten, abgeschirmt von der Außenwelt. Der Geheimdienstchef Manuel Contreras ging ein und aus. Und dann traten da auch bundesdeutsche Figuren auf, wie der Waffenhändler Gerhard Mertins, der die Diktatur mit Waffen versorgt, zugleich für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat und auch in der deutschen Botschaft gut vernetzt war.
SPIEGEL: Es hat bis 1997 gedauert, dass Sektenführer Schäfer fliehen musste, weil der Druck zu groß wurde.
Stehle: Aber selbst als Schäfer in Argentinien im Untergrund war, haben deutsche Strafverfolgungsbehörden keinen Beitrag dazu geleistet, dass er 2005 festgenommen wurde. Es wurde nicht einmal eine Zielfahndung eingeleitet. Es waren letztlich fast immer engagierte Menschen außerhalb der Institutionen, Aktivistinnen und Aktivisten und vor allem die Betroffenen, die über Medien Druck gemacht haben, dass etwas passiert. Das ist leider bis zum heutigen Tage so.
SPIEGEL: Was hat der Bundestag 2017 in seinem Antrag von der Regierung gefordert?
Stehle: Er hat die Bundesregierung in acht Punkten aufgefordert, die Aufarbeitung voranzubringen. Insbesondere sollte die strafrechtliche Aufarbeitung befördert werden, doch die deutsche Justiz stellte kurz darauf alle Ermittlungsverfahren ein. Es wurde eine gemeinsame Kommission aus Abgeordneten aller Fraktionen, Vertretern des Auswärtigen Amts und anderer Regierungsstellen gegründet, die einen Hilfsfonds für die Opfer der Colonia Dignidad realisieren sollten. Opfer erhielten nun Hilfen in Höhe von 10.000 Euro. Auch ein einzigartiger Schritt, eine Anerkennung, jedoch keine Entschädigung für das jahrzehntelang erlittene Leid, wie sie angemessen wäre.
SPIEGEL: Wie viele Betroffene haben schon finanzielle Unterstützung bekommen?
Stehle: Bislang wohl rund 150, darunter Opfer unter den Bewohnerinnen und Bewohnern der Colonia sowie in der Siedlung missbrauchte Chilenen. Leider ist der Fonds nicht für chilenische Diktaturopfer gedacht, weil diese bereits vom chilenischen Staat Entschädigungen erhielten. So schafft man eine Asymmetrie, weshalb es umso wichtiger wäre, über symbolische Wiedergutmachung und Maßnahmen ein Gleichgewicht zu schaffen.
Die Colonia Dignidad heißt jetzt Villa Baviera
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SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
Stehle: Ich meine insbesondere die Gedenkstätte, die in der Colonia Dignidad errichtet werden soll. Auch das ist Teil des Entschließungsantrags des Bundestags und des Mandats einer deutsch-chilenischen Regierungskommission. Das ärgerliche ist nur: Die Kommission wurde im Juli 2017 konstituiert und hat sich bis zum heutigen Tage noch nicht einmal öffentlich geäußert. Seit über fünf Jahren treffen sie sich, und keiner weiß, was dort besprochen wird.
SPIEGEL: Was genau ist der Auftrag dieser Kommission?
Stehle: Eine Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstelle zu errichten, Spuren und Dokumente zu sichern, die für die Aufklärung der dort begangenen Taten relevant sein könnten, und auch, die Vermögenswerte der Colonia Dignidad zu untersuchen, damit sie gegebenenfalls den Opfern zugutekommen. Bis heute bestehen die Unternehmensstrukturen, die von Paul Schäfer in den 1980er-Jahre gegründet worden sind. Dieselben Anwälte, die damals die Colonia vertraten, vertreten teilweise heute noch die Täter und die Firmen der ehemaligen Colonia Dignidad, die sich heute Villa Baviera nennt. Es gab eine Studie der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit über die Machbarkeit einer Vermögensuntersuchung. Dafür wurden meines Wissens über 100.000 Euro ausgegeben. Aber fast keiner darf wissen, was da drinsteht. Sie liegt auf der Geheimschutzstelle des Bundestags. Und so vergehen die Jahre, die Täterinnen und Täter werden älter oder versterben, die Betroffenen und die Angehörigen der Getöteten auch. Das Nichtstun trägt somit auch zu einer biologischen Straflosigkeit bei, wenn Verbrechen nicht mehr aufgeklärt werden, weil Täter und Opfer nicht mehr leben. Die überlebenden Opfer werden hierdurch retraumatisiert.
SPIEGEL: Alle Ermittlungsversuche, die in Deutschland lebenden Täter anzuklagen, sind versiegt. Selbst der damalige Sektenarzt, der vor seiner Haftstrafe in Chile nach Deutschland geflohen ist, lebt auf freiem Fuß. Woran liegt das?
Stehle: Das Landgericht Düsseldorf hat in letzter Instanz abgelehnt, dass der Arzt Hartmut Hopp hier seine chilenische Strafe absitzen muss, weil das Urteil gegen ihn nicht mit deutschen Rechtsstandards zu vergleichen sei. Außerdem seien in der Colonia nicht nur Verbrechen begangen, sondern es sei auch soziale Arbeit geleistet worden. Diese Begründung ist angesichts der Verbrechensgeschichte skandalös. Obwohl mittlerweile mehr Täter in der Bundesrepublik sein dürften als in Chile, hat es noch nie eine Anklage gegen einen von ihnen gegeben. Deutschland ist zum sicheren Hafen für mutmaßliche Täter geworden, deren Rolle hierzulande nicht untersucht wird. Das ist für die Opfer sehr belastend, die Sekte bleibt dadurch weiterhin am Leben. Und so findet eine zunehmende Historisierung dieser Verbrechen statt. Es entstehen Thriller- und Dokumentarfilm-Serien über die Colonia in den Streamingdiensten, aber da wird kaum das Versagen der deutschen Behörden und der deutschen Justiz thematisiert. Es müsste eine Historikerkommission zur Aufklärung geben, die Justiz müsste ein Strukturermittlungsverfahren anlegen, um den Komplex Colonia Dignidad als System aufzuklären. Aber all das geschieht nicht.
Spielplatz in der Villa Baviera, der ehemaligen Colonia Dignidad
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SPIEGEL: Wenn nun der thüringische Ministerpräsident und Bundesratspräsident Bodo Ramelow das Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad besucht, was erwarten Sie davon?
Stehle: Bodo Ramelow ist als Bundesratspräsident der höchstrangige deutsche Politiker, der die ehemalige Colonia Dignidad besucht. Dies hat eine wichtige Symbolkraft, insbesondere für die Betroffenen. Angesichts dessen, dass es Themen wie diese deutsche Siedlung in Chile gerade wegen der Weltkonjunktur schwer haben, ist ein Besuch eines so hochrangigen Politikers eine große Chance, dass es einen Schritt weitergeht. Nun ist jedoch die Bundesregierung und das von Annalena Baerbock geführte Auswärtige Amt am Zuge, es müssen zügig konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Die Gedenkstätte muss endlich Realität werden, es muss eine Trägerschaft entwickelt und eine Geschäftsstelle eingesetzt werden. Ich sehe keinerlei Grund dafür, dass sich das weiter in die Länge zieht. Am 11. September 2023 wird in Chile der 50. Jahrestag des Pinochet-Putsches begangen. Die Außenministerin sollte noch vorher nach Chile reisen und gemeinsam mit chilenischen Regierungsvertretern den Grundstein für die Gedenkstätte legen.
