Etwas leiser bitte
Ab morgen könnte der Ruf des Muezzins in Köln-Ehrenfeld erklingen, zwischen 12 und 15 Uhr für fünf Minuten. Heute will die türkisch-islamische Vereinigung Ditib die Bürgerinnen und Bürger über dieses Ritual aufklären. In der islamischen Welt werden die Gläubigen vom Muezzin zum Freitagsgebet gerufen.
Ich finde, das könnte man auch per WhatsApp-Nachricht machen. Und weiß nicht ohnehin jeder gläubige Muslim, wann das Gebet beginnt? So wie jeder gläubige Christ über die Zeiten des Gottesdienstes unterrichtet ist. In meinen Augen ist es ein Fehler, dass eine Religion auf diese Weise öffentlichen Raum beanspruchen darf.
Minarett der Ditib-Zentralmoschee und der Kölner Dom
Foto:
Rolf Vennenbernd / dpa
Mich stört gleichfalls, dass hier in Kreuzberg jeden Tag um 12 Uhr die Glocken klingen. Mich stört weniger der Lärm als die Anmaßung: Wir sind da, ihr müsst uns alle wahrnehmen. Das sind Rituale aus Zeiten, in denen die Bevölkerungen relativ homogen waren und in denen Religionen eine große Rolle in der Öffentlichkeit spielten, auch eine politische. Diese Zeiten sollten auslaufen, Religionen sind Privatsache. Den öffentlichen Raum können sie nicht beanspruchen.
Die Schrecken des Faschismus
Heute tritt in Rom das neugewählte Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Danach wird wohl der Staatspräsident Wahlsiegerin Giorgia Meloni den Auftrag erteilen, eine Regierung zu bilden – der Vorsitzenden einer postfaschistischen Partei, ziemlich genau hundert Jahre nachdem der Faschist Benito Mussolini seinen Marsch auf Rom unternommen und die Macht erobert hat.
Meloni in Rom bei einer Versammlung der gewählten Parlamentarier ihrer Partei
Foto:
Roberto Monaldo / dpa
Postfaschistisch heißt nicht, den Faschismus hinter sich gelassen zu haben, sondern heißt, im Faschismus verwurzelt zu sein. Melonis Fratelli d’Italia schmücken sich mit einem Wappen, das über einem Strich eine Flamme in den Nationalfarben zeigt. Der Strich symbolisiert den Sarg Mussolinis. Ist das zu glauben? Nachdem der Faschismus so viel Unheil angerichtet, so unendlich viel Leid ausgelöst hat, kehrt er in neuer Form nach Italien zurück.
Und wer glaubt, Mussolinis Faschismus sei harmlos gewesen gegenüber Hitlers Nationalsozialismus, der sollte »M« lesen, einen dokumentarischen Roman über Mussolini von Antonio Scurati, der auf drei Bände angelegt ist, zwei liegen vor: ein großartiges Werk – und bestürzend. Faschismus hieß bislang immer Schreckensherrschaft.
Schräge Präsidentschaft
Es gibt Amtszeiten, die sind kaum zu retten, obwohl sie noch am Anfang stehen. So könnte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ergehen. In seinen fünf ersten Jahren war er ein guter Präsident, mit seinem Einsatz für die liberale Demokratie, seinen Bürgerdialogen ohne Scheu vor der Kontroverse, seiner Erinnerungsarbeit für die demokratischen Revolutionen von 1848 und 1918.
Bundespräsident Steinmeier im April 2021 in Paris
Foto: Andrea Savorani Neri / Getty Images
Das setzt Steinmeier in seiner zweiten Amtszeit fort. Aber jetzt macht er das alles als ein Mann, der für die irrige Politik gegenüber Russland verantwortlich ist, als langjähriger Außenminister. Verantwortlich sind auch andere, allen voran die Bundeskanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel. Aber Steinmeier ist der letzte Spitzenpolitiker von damals, der noch ein Spitzenamt in der Bundespolitik bekleidet. Diese Bürde trägt allein er, und deshalb wirkt diese Präsidentschaft so schräg, obwohl er Reue gezeigt hat.
Heute redet Steinmeier beim 70-jährigen Jubiläum der Atlantik-Brücke, einem Verein von eingefleischten Freunden der USA.
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Ein bisschen Kritik an Putin: Bislang hat Indien Russland die Treue gehalten. Aber es deuten sich Risse im Verhältnis an. Ob sich Neu-Delhi von Moskau abwendet, hängt auch von Deutschland ab.
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Ukrainische Getreideexporte: Vom sicheren Korridor in den Superstau vor Istanbul. Mehr als hundert Frachter stecken vor der türkischen Küste fest. Trotz des ukrainisch-russischen Abkommens über Getreideexporte droht ein neuer Nahrungsmittelengpass. Ein Grund dafür: umfassende Inspektionen. Das Video.
Es geht wieder los
Passantin mit FFP2-Maske
Foto:
Marijan Murat / dpa
Die Maske kehrt zurück. So ganz ist sie nie verschwunden, sie muss weiterhin in Bussen und Bahnen getragen werden. Aber wenn es einer nicht tut, ist es meistens egal, außer in den ICEs, wo manche Zugbegleiter einen wackeren, zum Teil skurrilen Kampf gegen Maskenverweigerer führen, auch bei geänderter Wagenreihung.
Gestern jedoch überraschte die Berliner Gesundheitssenatorin Ulrike Grote mit der Ankündigung, sie wolle dem Senat vorschlagen, wieder eine Maskenpflicht in Innenräumen einzuführen, im Einzelhandel oder Museen zum Beispiel. Das passt zu den steigenden Infektionszahlen. Es ist richtig, frühzeitig mit den harmlosen Maßnahmen zu beginnen, um die Pandemie einzudämmen.
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Die Startfrage heute: Wie heißt der israelische Auslandsgeheimdienst?
Verlierer des Tages…
… ist die Aktion »Unternehmeraufstand MV«, die heute in acht Städten von Mecklenburg-Vorpommern protestieren und dabei den Verkehr behindern will. Ziele sind: Stopp der Waffenlieferungen für die Ukraine, Stopp der Sanktionen gegen Russland, sofortige Neuwahlen, »Rücktritt der gesamten Politik«, eine »freie und ehrliche Medienlandschaft«, »Abschaffung der Bürokratiehölle«.
Unternehmer sind traditionell eher Leute, die Angst vor Aufständen haben, weil sie das Geschäft bedrohen. Dieser Aufstand soll das Geschäft sichern. Doch wenn die gesamte Politik zurücktritt, wer soll dann regieren, wer soll die Ordnung garantieren, die Unternehmen brauchen, wenn sie nicht Baseballschläger produzieren? Frei und ehrlich gesprochen: Das Konzept dieses Aufstands scheint mir nicht durchdacht zu sein.
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Angestellter transportierte angeblich Unterlagen in Trumps Residenz – auf dessen direkte Anweisung: Im Mai wurde Donald Trump per Gerichtsbeschluss aufgefordert, alle vertraulichen Papiere aus seiner Amtszeit zurückzugeben. Kurz darauf wurde es offenbar hektisch in Mar-a-Lago.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit