1. Zu den Waffen?
Frieden für die Ukraine, Schluss mit Putins Krieg. Wer will das nicht? Trotz des großen gemeinsamen Nenners in Politik, Gesellschaft oder am Familientisch bei den Wünschen für die nahe Zukunft fehlt Deutschland, so scheint es, eine klare Strategie, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Grob gesagt existieren zwei Konzepte: Die einen wollen Frieden schaffen mit mehr Waffen für die Ukraine. Die anderen fordern mehr Dialoganstrengungen gegenüber Putin.
Wolodymyr Selenskyj sprach heute vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Erneut forderte er deutlich mehr schwere Waffen zur Unterstützung. Die Ukraine hat laut ihrem Präsidenten nur zehn Prozent dessen, was sie beispielsweise für ihre Luftverteidigung brauche.
Könnte, müsste, sollte Deutschland nicht mehr tun, um die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen? Über diese Frage haben wir auch in der SPIEGEL-Redaktion immer wieder diskutiert, zum Beispiel in unseren morgendlichen Redaktionskonferenzen. Um Ihnen als Leserinnen und Leser die Diskussionsprozesse beim SPIEGEL so transparent wie möglich zu machen, haben wir Veit Medick aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro und den stellvertretenden Auslandsressortleiter Maximilian Popp gebeten, ihre Argumente schriftlich auszutauschen. Per Chatprogramm, das wir normalerweise nur für unsere interne Kommunikation nutzen. Hier können Sie das Nachrichtenduell der beiden nachlesen – und auch darüber abstimmen, welcher der beiden Kollegen Sie mit seinen Argumenten mehr überzeugt hat .
»Wir müssen Putin signalisieren, dass wir nicht an Russlands Zerstörung interessiert sind«, findet Veit Medick. Ihm bereitet Sorge, »dass dieser Krieg komplett aus dem Ruder laufen und in ein nukleares Desaster münden könnte, jetzt, wo Putins Strategie zu implodieren scheint«.
»Diese Angst habe ich auch«, sagt Maximilian Popp. Aber Putin eskaliere nicht, »weil Deutschland der Ukraine Waffen liefert. Er eskaliert, weil er den Krieg verliert. Ich sage nicht, dass wir uns über die Eindämmung des Konflikts keine Gedanken machen sollte. Ich bin nur nicht davon überzeugt, dass irgendetwas besser wird, wenn wir der Ukraine Unterstützung verwehren, die sie dringend braucht.«
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Lesen Sie hier das ganze Streitgespräch: Soll Deutschland jetzt Leopard-2-Panzer liefern?
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Dann gibt es keine guten Optionen mehr«: Wiederholt droht das russische Regime mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Der Analyst Pavel Podvig erklärt, wie groß das Risiko ist – und was getan werden muss, um es klein zu halten .
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»Wollen keinen Weltkrieg«: Bis kurz vor Kriegsbeginn glaubte Frankreichs Präsident offenbar daran, diesen durch Diplomatie verhindern zu können. Auch jetzt will Macron den Dialog mit Putin suchen. Gleichzeitig schickt Paris mehr Waffen nach Kiew.
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München benennt »Kiewstraße« in »Kyivstraße« um: München nennt aus Solidarität mit seiner Partnerstadt eine seiner Straßen um. Der Grund: Die bisherige Schreibweise war aus dem Russischen abgeleitet.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Formular des Schreckens
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Die Inflationsrate ist im September auf zehn Prozent gestiegen – und bremst laut einer Studie Deutschlands Sparer aus.
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Die Brauer hierzulande fürchten wegen der hohen Energiekosten eine Pleitewelle noch vor Ende des Jahres.
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Außerdem sind vier von fünf Städten aus aller Welt einer aktuellen Studie zufolge bereits heute Extremwettereignissen wie starker Hitze oder Überflutungen ausgesetzt.
Kurzum: Die Menschen in diesem Land haben andere Sorgen, als sich ums fachgerechte Ausfüllen der Grundsteuererklärung zu kümmern. Das sehen offenbar auch die Finanzminister der Länder so. Die Abgabefrist für die Grundsteuererklärung wird daher bundesweit einmalig von Ende Oktober bis Ende Januar 2023 verlängert. Nicht einmal jeder dritte Haus- und Wohnungsbesitzer habe seine Unterlagen bislang online abgegeben. Bayerns Finanzminister Albert Füracker (CSU) sagte, mit der Verlängerung der Abgabefrist bei der Grundsteuererklärung um drei Monate würden die Bürger, die Wirtschaft sowie die Steuerberater deutlich entlastet.
Tatsächlich empfinden viele Bürgerinnen und Bürger die Grundsteuererklärung als große Zumutung. Mein Kollege Jens Radü unterstellte Deutschlands Finanzbeamten mit ihrer Liebe zum unverständlichen Behördendeutsch gar eine »sadistische Absicht« und fragte: »Bin ich zu dumm, um dieses Formular auszufüllen?«
Mein Mann und ich hatten uns eigentlich fest vorgenommen, kommendes Wochende das Formular des Schreckens endlich auszufüllen. Dank der Fristverängerung werde ich ihn hoffentlich dazu überreden können, lieber die deutschen Brauer vor der Pleite zu bewahren. Mit einem Besuch im Wirtshaus.
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Lesen Sie hier mehr: Frist zur Grundsteuererklärung wird verlängert
3. Ausrufezeichen oder Fragezeichen?
Der ehemalige CSU-Generalsekretär Markus Blume ist seit ein paar Monaten Wissenschaftsminister in Bayern. Als solcher freute er sich heute über einen »Spitzenerfolg für Bayern!« Die Technische Universität München sei die beste Universität in der Europäischen Union. Das sei ein »gigantisches Ausrufezeichen für Bayern und zeigt unsere universitäre Kraft«. Blume bezog sich auf das Times Higher Education World University Ranking (THE) , das am Mittwoch veröffentlicht wurde und als eines der namhaftesten Rankings weltweit gilt.
Bei genauerer Betrachtung der Studienergebnisse verformt sich das gigantische Ausrufezeichen allerdings zu einem kleinen Fragezeichen. Da die Technische Universität erst auf Platz 30 des Rankings weit hinter internationalen Hochschulstandorten wie Harvard und Cambridge auftaucht, fragt sich SPIEGEL-Redakteurin Katharina Hölter jedenfalls: Woran liegt es, dass die Deutschen im Vergleich nicht mithalten können? Sind deutsche Hochschulen womöglich zu arm, um erfolgreich zu sein?
Gero Federkeil vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) findet im Interview beruhigende Worte für alle Studierenden hierzulande: »Die Universität in Heidelberg, beide Münchner Universitäten oder die RWTH Aachen legen viel Wert auf Forschung, sind bei einigen Indikatoren international durchaus konkurrenzfähig. Schaut man sich zum Beispiel an, wie viele Publikationen Co-Autoren aus der Wirtschaft haben, zählen die Hochschule Pforzheim, die Hochschule Frankfurt und die Hochschule Aalen zu den Topplayern. Dieser Praxisbezug ist ein Kernziel der Arbeit dieser Fachhochschulen und das erreichen sie auch.«
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Lesen Sie hier mehr: Sind deutsche Hochschulen schlicht zu arm, um erfolgreich zu sein?
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Verkehrsminister einigen sich auf 49-Euro-Ticket: Es soll »schnellstmöglich« kommen: Die Verkehrsminister von Bund und Ländern haben den Weg für das 49-Euro-Ticket geebnet. Gestritten wird aber noch über die Finanzierung.
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Frankreich beginnt mit Gaslieferungen an Deutschland: Über eine Leitung im Saarland strömt ab sofort Gas aus Frankreich nach Deutschland. Im Gegenzug soll das Nachbarland Strom bekommen, der dort wegen anhaltender Probleme mit Atomkraftwerken knapp ist.
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Je sozialer die Firma, desto gesünder die Mitarbeiter: Knapp fünf Krankheitstage pro Jahr und Mitarbeiter weniger: So viel macht es aus, ob Beschäftigte ihr Unternehmen als sozialverantwortlich einstufen oder nicht. Auch bei der Leistungsbereitschaft zeigen sich Unterschiede.
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José F.A. Oliver ist neuer Präsident von PEN Deutschland: Er soll’s richten: Der seit dem Abtritt von Deniz Yücel zerstrittene Schriftstellerverband PEN Deutschland hat den Lyriker José F.A. Oliver zu seinem Präsidenten gewählt – nach zwei Rücktritten binnen weniger Monate.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Sie sollen die Welt mit eigenen Augen sehen: Vor vier Jahren bekamen Edith Lemay und ihr Mann eine erschütternde Diagnose: Drei ihrer vier Kinder werden wohl bald nicht mehr sehen können. Auf einer Weltreise will die kanadische Familie visuelle Erinnerungen schaffen .
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Frontex vertuschte auch Pushback nach Libyen: In der Ägäis hat Frontex sich zur Komplizin bei den griechischen Pushback-Operationen gemacht. EU-Ermittlungen offenbaren nun, dass die Grenzschutzagentur auch einen tödlichen Rechtsbruch im zentralen Mittelmeer verschleierte .
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Wie sich Gorillas selbst auslieferte: Drei Milliarden Dollar sollte der Lieferdienst Gorillas einst wert sein, nun könnte ihn der Konkurrent Getir vor dem Untergang retten. Interne Dokumente zeigen, wie viele Millionen das Start-up zuletzt verbrannt hat .
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»Was Magnus Carlsen getan hat, ist absolut lächerlich«: Magnus Carlsen erhob Betrugsvorwürfe gegen Hans Niemann und griff auch dessen Mentor an. Dieser spricht nun über Carlsens Vorwürfe, die Schwächen des »unausstehlichen« Niemann – und ob er klagen wird .
Was heute weniger wichtig ist
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Erdoğans Schläger: Vor dem Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit Wladimir Putin kam es am Rande des Gipfels der Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA) in der kasachischen Hauptstadt Astana zu einem Tischtennis-Duell: Erdoğan spielte gegen seinen Amtskollegen Kassym-Schomart Tokajew. »Auffällig war dabei neben der untypischen Spitzensport-Bekleidung (beide trugen Hemd und Krawatte) und dem wenig emotionalen Publikum vor allem die Schlägerhaltung des türkischen Tischtennis-Titans«, befand mein Kollege Sven Scharf. Auf Bildern ist zu sehen, wie Erdoğan statt des Griffs das Schlägerblatt in der Hand hielt.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Das Leck in der Druschba-Pipeline deuten laut dem polnischen Premier Morawiecki ›viele Spuren sofort nach Russland‹«
Cartoon des Tages: Inflationsnostalgie
a / Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Zu meinen Lieblingssongs gehört – vermutlich beruflich bedingt durch den ständigen Zeitdruck, unter dem auch dieser Text entstanden ist – ein Hit von David Bowie und Queen aus dem Jahr 1981: »Under pressure«. Heute Abend werde ich ihn laut durchs Wohnzimmer schallen lassen. Genauso wie einen weiteren Song, den die britische Rockband Queen neu veröffentlicht hat.
»Face It Alone« (hier ein kleiner Ausschnitt ) wurde 1988 mit der Stimme des 1991 gestorbenen Sängers Freddie Mercury aufgenommen und sollte eigentlich auf dem Album »The Miracle« erscheinen. Doch dazu kam es nie. Nun wurde der Song wiederentdeckt und heute erstmals öffentlich gespielt beim Radiosender BBC 2. Schlagzeuger Roger Taylor bezeichnete das Stück als »kleines Juwel«, das man beinahe vergessen habe.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Herzlich,
Ihre Anna Clauß
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