Im Streit um den Weiterbetrieb der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke sondiert die FDP offensichtlich einen neuen Kompromissvorschlag.
Wie der SPIEGEL aus Fachkreisen erfuhr, könnten demnach die verbliebenen Kernkraftwerke im Winter 2023/2024 doch noch weiterlaufen, wenn dies erforderlich sein sollte. Dazu müssten sich die Betreiber der Anlagen die Option auf den Kauf neuer Kernbrennstäbe bei den Herstellern sichern.
Der Staat könnte die Kosten übernehmen, die dann anfallen würden, wenn diese Kaufoption nicht gezogen wird. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die Stromnetze sich bis dahin stabilisiert hätten, und die AKWs nicht mehr benötigt würden.
Branche optimistisch
Aus der Branche heißt es, die FDP habe den Vorschlag zur Diskussion gestellt. Bislang sei das aber kein Konsens innerhalb der Ampel-Koalition.
Technisch wäre der Vorschlag grundsätzlich umsetzbar. Die Betreiber der hiesigen Atomkraftwerke – E.ON, EnBW und RWE – hatten im Sommer darauf hingewiesen, dass es zwölf bis 15 Monate dauern würde, neue Brennelemente zu beschaffen.
Mittlerweile ist man in der Branche optimistischer, dass dies etwas schneller gehen könnte. Wichtig wäre aber, dass die Entscheidung noch in diesem Jahr falle, heißt es.
Hinzu kommt, dass die Betriebsgenehmigung der letzten deutschen Kernkraftwerke nach der geplanten Einsatzreserve am 15. April 2023 auslaufen würde. Falls sich die Betreiber tatsächlich Optionen auf neue Brennstäbe für die Zeit danach sichern würden, sollte der Gesetzgeber verhindern, dass diese Genehmigungen auslaufen, heißt es aus der Branche.
Andernfalls könnte es ein bis zwei Jahre dauern, im Zweifelsfall eine neue Betriebsgenehmigung zu bekommen.
Minister Lindner, Habeck
Foto: John MacDougall / AFP
Bislang konnten Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) noch keine Einigung erzielen, die den Weg für eine Änderung des Atomgesetzes frei machen würde. Habeck will zwei der drei verbliebenen AKWs in eine Einsatzreserve überführen. Die süddeutschen Meiler Isar 2 und Neckarwestheim würden dann bis April 2023 Strom produzieren, wenn die Stabilität der europäischen Stromnetze dies erfordert.
Dies ist nach Auffassung von Habeck notwendig, weil viele französische Kernkraftwerke derzeit vom Netz genommen sind.
Dahingegen fordert FDP-Chef Lindner, dass alle drei deutschen AKWs bis zum Frühjahr 2024 weiterlaufen, auch das im Emsland. Habeck lehnt das bislang ab.
Er drängt allerdings seinen Koalitionspartner Lindner dazu, den Widerstand gegen den Gesetzentwurf zur Verlängerung der Laufzeit bis Frühjahr 2023 nicht weiter zu blockieren.
Ursprünglich wollte Habeck diesen am Mittwoch vergangener Woche ins Kabinett bringen. Auf Bitten der FDP, die auf die Niedersachsen-Wahl verwies, zog Habeck zurück. Allerdings nach SPIEGEL-Informationen mit der Absprache, dass der Gesetzentwurf am Montag per Umlaufverfahren vom Kabinett verabschiedet worden wäre.
Dies sagte die FDP wiederum in der Wahlnacht am Sonntag ab. Habeck warnTE daraufhin: »Die Zeit drängt.« Denn der Betreiber von Isar 2 brauche die Einigung der Koalition auf eine Laufzeitverlängerung, weil dafür die Reparatur einer Leckage in dem Meiler bei Landshut notwendig sei. Diese müsse noch im Oktober begonnen werden. Die Änderung des Atomausstiegsgesetzes solle der Bundestag in dieser und der nächsten Sitzungswoche beschließen.
Das wird nun immer schwieriger, zumindest dann, wenn es keine Lösung in den kommenden Tagen gibt.
Zunächst sah es so aus, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Lindner und Habeck nach der Rückkehr des Finanzministers von der IWF-Tagung in Washington am kommenden Sonntag zusammensetzen würden. Doch nun soll nach Informationen des SPIEGEL schon an diesem Donnerstag auf einer Videokonferenz nach einer Lösung gesucht werden.
Dazu eingeladen sind auch die drei Vorstandschefs der Betreiberfirmen. Die »Welt« hatte zuerst über diese Videokonferenz berichtet.
Vom SPIEGEL auf die Kompromissmöglichkeit mit der Kaufoption neuer Brennstäbe angesprochen, antwortete Wirtschaftsminister Habeck gestern ablehnend. »Das Festhalten an der Atomenergie verschleppt das Vorankommen in anderen Bereichen der Energieversorgung«, sagte er.
Der Betreiber des Atomkraftwerks Neckarwestheim, EnBW, weiß nach Angaben eines Sprechers von keinen Gesprächen oder Festlegungen der Bundesregierung, wonach die Betreiberfirmen neue Brennelemente bestellen sollten.
Bislang sei weder ein Vorschlag noch eine Bitte an EnBW herangetragen worden, sich Optionen auf neue Brennstäbe zu sichern.
Gleichzeitig betont das Unternehmen, es sei »zwingend erforderlich«, dass die Bundesregierung jetzt schnellstmöglich den gesetzlichen Rahmen für einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende hinaus schafft: »Sollte das nicht passieren, müssen die Anlagen am 31. Dezember 2022 endgültig abgeschaltet werden, weil dies im Atomgesetz so vorgesehen ist.«