1. Russland verstärkt die Raketenangriffe auf ukrainische Städte
Dieser Herbst ist eine Zeit der Militärexperten und Komissköpfe, ob man es mag oder nicht. »Je größerer Art die Maßnahmen werden, umso weniger kann man damit überraschen«, lautet eine Regel des legendären preußischen Kriegsfachmanns Carl von Clausewitz, der heutigen Militärleuten als eine Art Guru gilt. Heute wurden aus Kiew und anderen Teilen der Ukraine heftige Raketenangriffe gemeldet, in fast allen Landesteilen galt Luftalarm. Für die Experten waren die massiven Attacken keine Überraschung, sie hatten Vergeltungsmaßnahmen für die Explosion auf der für Russland strategisch wichtigen Krimbrücke am Samstag erwartet.
Tatsächlich hat Kremlchef Wladimir Putin denn auch heute die Raketenangriffe auf die Ukraine als Vergeltung bezeichnet und weitere Attacken angedroht. Die Attacken am Morgen trafen unter anderem die Großstadt Saporischschja, über schwere Einschläge berichteten auch die Behörden der westukrainischen Großstadt Lwiw sowie aus Chmelnyzkyj und Schytomyr.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Russlands Raketenhagel – Vergeltung für die Krimbrücke?
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen äußerte sich entsetzt über die jüngsten russischen Angriffe. »Putins Russland hat der Welt erneut gezeigt, wofür es steht: Brutalität und Terror«, schrieb die deutsche Politikerin auf Twitter. Sie wisse, dass die Ukrainer stark bleiben würden. Zudem bekräftigte von der Leyen, dass man der Ukraine so lange zur Seite stehen werde, wie dies nötig sei, »mit allen Mitteln, die wir haben«.
Aus Kiew hieß es, es seien Ziele im Zentrum getroffen worden, zum Teil auch »kritische Infrastruktur«, teilte der Bürgermeister der Stadt Vitali Klitschko mit. Sicher ist, dass der Anschlag auf die Krimbrücke ein Akt der Eskalation in diesem fürchterlichen Krieg war. Wer ihn verübt hat, ist weiterhin unklar. Kremlchef Wladimir Putin hatte am Sonntag von einem »Terroranschlag« auf die Brücke gesprochen und – wie Medien in Kiew – den ukrainischen Geheimdienst SBU verantwortlich gemacht. Bestätigt hat der SBU eine Beteiligung aber nicht.
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Erfahren Sie hier mehr: Kiew und andere Städte der Ukraine unter Raketenbeschuss
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Behörden verzeichnen mehr Asylsuchende aus Russland: Im September stieg die Zahl der Russen, die Deutschland um Schutz ersucht haben, auf ein Jahreshoch. Wie viele von ihnen geflohen sind, um dem Kriegseinsatz zu entkommen, ist unklar.
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»Der Anschein von Normalität ist zerstört«: Der monatelang fern scheinende Krieg ist zurück in der ukrainischen Hauptstadt: Zur Rushhour griff Russland gezielt die Innenstadt aus der Luft an. Eindrücke von SPIEGEL-Reporter Christian Esch.
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Putins Rache: Mit massiven Luftangriffen reagiert Russland auf die Beschädigung der Krimbrücke. Moskau hatte es auf den Energiesektor der Ukraine abgesehen. Doch nicht bei allen Zielen war die Absicht so eindeutig .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Der Staatsschutz hält die Bahn-Sabotage vom Wochenende für »politisch motiviert«
Heute Morgen wurde aus Dänemark ein flächendeckender Stromausfall auf der Insel Bornholm gemeldet. Die Behörden teilten mit, dass ein Unterwasserkabel aus Schweden, das Strom liefert, unterbrochen worden sei.
Der Grund dafür blieb fürs Erste unbekannt – aber natürlich wurde im Netz auch hier schnell wieder darüber spekuliert, dass es sich um einen Akt der Sabotage in russischem Auftrag handeln könnte. Am späten Vormittag war die Stromversorgung auf der dänischen Insel wiederhergestellt.
Schon nach den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines hatte meine Kollegin Nadia Pantel in einem Bericht aus Dänemark geschrieben: »Auf Bornholm, 150 Kilometer östlich von Kopenhagen, wissen sie, was es bedeuten kann, dort zu leben, wo Russland und der Westen um Einfluss konkurrieren.«
In Deutschland hatten zwei Sabotageattacken auf Kabel der Deutschen Bahn am Wochenende den Schienenverkehr in Norddeutschland lahmgelegt und auch hier für Spekulationen über mögliche russische Urheber gesorgt. Heute wurde bekannt, dass der Staatsschutz in Bochum von einer »politisch motivierten Tat« ausgeht.
Eine größere Ermittlungsgruppe arbeite »mit Hochdruck« daran, die Hintergründe der Tat zu klären, hieß es – wie in solchen Fällen fast immer. Am Samstagmorgen war die Kabelinfrastruktur der Bahn in Berlin und NRW empfindlich beschädigt worden. In Norddeutschland fuhren knapp drei Stunden lang keine Züge mehr. Bundesverkehrsminister Volker Wissing sprach von Sabotage. Die Täter hatten zunächst gegen zwei Uhr morgens bei Herne einen Kabelschacht an einer Bahnstrecke geöffnet, der mit einem schweren Betondeckel gesichert war. Dort durchtrennten sie offenbar mit einer Flex eine wichtige Leitung für die interne Bahn-Kommunikation. In Berlin kam es zu einem ähnlichen Anschlag.
Zu den möglichen Tätern und ihrem Motiv machten die Behörden und Minister Wissing bisher keine Angaben. Tatsächlich sind nach Einschätzung der Ermittler auch Linksradikale oder militante Klimaschützer als Verursacher der Sabotageakte denkbar. In der Vergangenheit gab es immer wieder Sabotage bei der Bahn, so hatten linksradikale Gruppen Signalleitungen und Bahnanlagen angegriffen. Diese Gruppen agierten allerdings nicht so professionell, wie es beim Angriff vom Wochenende offenbar der Fall war. Außerdem reklamierten sie in der Regel nach kurzer Zeit die Angriffe für sich. Das ist in diesem Fall nicht geschehen.
»Es könnte nur ein Testdurchlauf gewesen sein«, sagte ein IT-Experte heute in einem Interview, »um die Auswirkungen einer solchen Sabotage zu sehen«.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Staatsschutz geht von »politisch motivierter Tat« aus
3. Die Erlaubnis zum Oben-ohne-Schwimmen reizt viele Menschen zu Hasskommentaren
Fast bin ich ein bisschen dankbar, dass es in diesem manchmal düsteren Herbst auch noch Diskussionen gibt, über die sich mit einer gewissen Gelassenheit berichten lässt. Heute wurde bekannt, dass die Stadt Siegen sehr viele Hassnachrichten erhalten hat, weil in Siegener Schwimmbädern seit diesem Sommer die Regel »oben ohne« für alle galt. Frauen nutzten das Angebot laut der Kommune zwar kaum, aber der Hass, den die Stadt abbekam, war trotzdem enorm.
Die Frage »Ist Deutschland bereit fürs Oben-ohne-Schwimmen?« War ein Sommerhit dieses Jahres. In Göttingen hatte man eine Testphase ausgerufen, die Stadt Siegen hatte im Juni für die fünf städtischen Schwimmbäder beschlossen, dass Gäste egal welchen Geschlechts mit nacktem Oberkörper schwimmen dürften. Heute sagte nun eine Sprecherin, es sei »eine Vielzahl von Beschwerden, Beleidigungen, Drohungen per Mail, Brief, Anrufe« bei der Kommune eingegangen. Eine Drohung habe man angezeigt.
Mein Kollege Florian Pütz hat vor einiger Zeit den Göttinger Schwimmbadchef zum Thema interviewt. »Als ich zum ersten Mal von den Oben-ohne-Plänen von Schwimmbädern hörte, war meine erste Reaktion: Oh, ob wir in Deutschland dafür bereit sind?«, sagt Florian. »Ich sprach mit dem Göttinger Schwimmbadchef Andreas Gruber, dort lief schon eine Testphase. Gruber erzählte mir, dass das Angebot nur vereinzelt genutzt würde, sie aber extremes Feedback bekämen.« Also: Ähnlich wie jetzt in Siegen. »Ich glaube, ich kann meine Anfangsfrage jetzt beantworten«, sagt mein Kollege Florian. »Nein, wir sind offensichtlich nicht bereit und womöglich zu prüde für das Oben-ohne-Baden. Sich darüber zu beschweren, macht vielen offenbar sowieso mehr Spaß.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Oben-ohne-Regel in Siegen – Stadt berichtet von zahllosen Hassnachrichten
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Kommission schlägt Stufenmodell gegen hohe Gaskosten vor: Die Experten der Gaspreiskommission haben ihr Konzept zur Entlastung der Verbraucher vorgestellt. Demnach soll der Staat die Dezember-Abschlagszahlungen komplett übernehmen. Ab März 2023 greift eine Preisbremse.
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Nobelpreis für Wirtschaft geht an drei US-Ökonomen: Die Nobelpreisträger für Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden sind bereits bekannt – jetzt folgen die Preisträger für Wirtschaft (obwohl es sich streng genommen um keinen Nobelpreis handelt): Er geht an den ehemaligen Notenbankchef Ben Bernanke und zwei weitere Wissenschaftler.
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Lokales Problem führte zu Stromausfall auf Bornholm: Ganz Bornholm war am Montagmorgen ohne Strom – mittlerweile ist die Versorgung wiederhergestellt. Sorgen, das Seekabel zur dänischen Insel könne beschädigt sein, zerstreut der Netzbetreiber.
Meine Lieblingsgeschichte heute: »Meine Landbeine habe ich verloren«
Salcedo an Bord der »Freedom of the Seas«: »Ich fühle mich gesegnet«
Foto: Scott McIntyre / The New York Times / laif
Meine Kollegin Dialika Neufeld porträtiert den US-Amerikaner Mario Salcedo, der seit 25 Jahren auf Kreuzfahrtschiffen lebt. Sie hat ihm per E-Mail Fragen gestellt, er antwortet von seinem »Open-Air-Büro« am Pooldeck aus. Salcedo ist 73 Jahre alt, Finanzmanager und unter Karibikkreuzfahrern und Crews eine kleine Legende. Gerade lebe er auf der »Explorer of the Seas«, schreibt er, einem Mega-Kreuzfahrtschiff, das zwischen den Bahamas, Haiti und Jamaika kreuzt. Mehr als 1050 Fahrten dieser Art habe er bis heute gemacht, mehr als 7300 Nächte auf See verbracht. Er nennt das Schiff »Mein Zuhause«.
Mir selbst sind Kreuzfahrtschiffe kein angenehmer Aufenthaltsort, ich kann das sagen, weil ich vor Jahren mal für eine SPIEGEL-Geschichte ein paar Tage im Mittelmeer auf einem mitgefahren bin. Aber viele Menschen lieben das Reisen als Kreuzfahrerinnen und Kreuzfahrer sehr. Salcedo geht nur manchmal in Miami ein paar Stunden von Bord und begibt sich in seine dortige Wohnung. »Dann fahre er mit seinem Auto, das nur für diese Gelegenheit am Hafen stehe, in seine kleine Wohnung und tausche seinen Koffer«, schreibt meine Kollegin. »Im Briefkasten erwarte ihn meist: nichts. All seine Landfreunde habe er verloren.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Meine Landbeine habe ich verloren«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Ein konturloser Amtsinhaber, ein blutarmer Herausforderer und wie sie die AfD beflügelten: SPD-Ministerpräsident Weil kann in Hannover eine Neuauflage von Rot-Grün schmieden – nach einem Wahlkampf ohne Ecken und Kanten. Genützt hat das vor allem einer AfD, die in Niedersachsen heillos zerstritten ist.
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Generalbundesanwalt leitet wegen Nord-Stream-Sabotage Ermittlungsverfahren ein: Nach dem Angriff auf drei Röhren der Nord-Stream-Pipeline ist die Bundespolizei mit Spezialisten der Bundeswehr am Tatort und sichert per Unterwasserdrohne Beweise. Nun schaltet sich der Generalbundesanwalt ein.
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Was die Gaspreisbremse für Verbraucher bringt: Mit der Gaspreisbremse will der Staat Privatleuten und Unternehmen helfen. Wie stark wird der Effekt? Und lohnt es sich, jetzt noch die Abschlagszahlung zu erhöhen? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was heute weniger wichtig ist
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Kanye West, 45, ein für seine oft hochinteressante Musik berühmter, mental und psychisch aber instabiler US-Rapper, durfte nur kurz auf die Plattform Twitter zurückkehren. Wenige Stunden nach der Freischaltung seines Accounts hat Twitter West erneut gesperrt, wie es zuvor schon Instagram getan hat. Der Rapper habe Beiträge veröffentlicht, die den Richtlinien widersprächen, hieß es; offenbar hatte West, der sich derzeit auch Ye nennen lässt, in einem Posting Judenhass verbreitet. Der Techmilliardär Elon Musk, der gerade versucht, Twitter zu übernehmen, hatte die Rückkehr von West auf die Kommunikationsplattform am Samstag noch mit den Worten gefeiert: »Willkommen zurück bei Twitter, mein Freund!«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Und selbst der linke grüne Haushälter Sven Kindler schreibt wohwollend: ›Trotz aller Unterschiede: Die FDP hat dem Landtag in den letzten Jahren gutgetan‹.«
Cartoon des Tages: Die FDP radikalisiert sich jetzt
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Die Nerven: Max Rieger, Kevin Kuhn, Julian Knoth (v.l.)
Foto:
check your head
Könnten Sie Ihre Nerven strapazieren und sich das neue Album der Band Die Nerven anhören. Es heißt demonstrativ stumpf »Die Nerven«, obwohl es keineswegs das erste Werk der Band ist. Die Songs tragen Titel wie »Ich sterbe jeden Tag in Deutschland« und zeichnen sich durch ein lautes Hadern mit dem Zeitgeist aus, wie mein Kollege Andreas Borcholte lobt. »Wirkungsvoller Punkrock im Jahre 2022 heißt wohl, mit dem Unbehagen zu spielen, das Publikum in seiner imaginierten Komfortzone unruhig zu machen, ihm Fragen nach der eigenen, heimlichen Radikalität oder Abgestumpftheit zu stellen, dem inneren Schäferhund«, so Andreas. Die Musiker von Die Nerven, die in Berlin und Stuttgart zu Hause sind, nennen sich selbst übrigens in aller japsenden Bescheidenheit »Die letzte Rockband Europas«.
Einen schönen Abend.
Herzlich,
Ihr Wolfgang Höbel
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