1. Der Drohende
Vier dunkelrote Dokumentenmappen legt eine maskierte Mitarbeiterin dem Machthaber zur Unterschrift vor. Mit einem dicken Tintenstift malt er seinen Namen unter die Papiere, jedes Mal brandet Beifall auf. Vier Uniformierte stehen hinter ihm wie Nussknacker; jeder bekommt eine Mappe, marschiert ein Dutzend Stechschritte über die Bühne zum nächsten Tisch. Dort sitzen vier Anzugträger mit verkniffenem Blick. Jeder bekommt eine der Mappen, auch sie unterschreiben. Absurdes Staatstheater, der nächste makabere Akt: Wladimir Putin besiegelt vor Hunderten Unterlingen feierlich die Annexion der teilbesetzten Gebiete in der Ukraine. Die Besatzungschefs von Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja dienen als Komparsen.
Foto: AA / ddp/abaca press
Alle Welt weiß: Es ist eine Show. Die Abstimmungen der vergangenen Tage waren inszeniert, die Ergebnisse sagen nichts über den Willen der Bewohner. Putin bricht das Völkerrecht, aber es soll bürokratisch-ordentlich aussehen. Doch Scheinreferenden, Scheinergebnisse, Scheinlegitimation können nicht überdecken, dass hier gewaltsam Grenzen verschoben werden sollen.
Alle Welt weiß auch: Es läuft schlecht für Putin auf dem Schlachtfeld. Deshalb ja diese Show – seine ganze Ansprache klingt wie eine Drohung in Richtung Westen. So sagt er kaum etwas darüber, was genau mit den annektierten Gebieten passieren soll. Noch wird dort gekämpft: Die ukrainischen Befreier sind auf dem Vormarsch, bei Lyman droht Putins Truppen die nächste große Niederlage. Auch über die Mobilmachung im eigenen Land sagt er nichts. »Man hat den Eindruck, dass es Putin bei seiner Rede nicht um die Ukraine geht, sondern um die USA und den Westen«, sagt meine Kollegin Christina Hebel, unsere Korrespondentin in Moskau. »Er formuliert wie im Tunnel, antiamerikanisch, antiwestlich.«
Putin wettert, die USA steckten hinter den Sabotage-Akten gegen die Nord-Stream-Pipelines . Er wirft dem Westen vor, einen hybriden Krieg gegen Russland zu führen. Die westlichen Eliten seien immer noch Kolonialisten. Im Februar ging es ihm angeblich darum, das ukrainische Brudervolk von vermeintlichen Neonazis zu befreien. Mittlerweile geht es ihm angeblich darum, Russlands Werte und sein Vaterland zu verteidigen. »Eine ›Spezialoperation‹ kann man abbrechen«, analysiert mein Kollege Christian Esch . »Einen Existenzkampf kann man nur gewinnen oder verlieren.« Diese Annexionsrede markiere ein neues Stadium in der Ideologisierung seines Regimes. “Es ist zugleich der Versuch, der nichtwestlichen Welt ein intellektuelles Angebot zu machen, warum sie Russland in seinem Kampf unterstützen sollte.” (Hier mehr .)
Putins Schlusssatz: »Die Wahrheit steht hinter uns, Russland steht hinter uns.« Die Unterlinge erheben sich, Applaus. Ganz am Ende steht der Machthaber zwischen den vier Komparsen auf der Bühne, sie legen die Hände übereinander wie ein Hockeyteam, das sich Mut zuspricht. Sie feuern sich an. Der Machthaber lächelt. Es wäre zum Lachen, stünde da nicht der derzeit gefährlichste Mann der Welt.
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Lesen Sie hier mehr: Putin versucht sich als Philosoph
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Ukraine beantragt beschleunigten Nato-Beitritt: Die Regierung in Kiew reagiert auf die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland: Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj stellt das Land einen Antrag auf einen beschleunigten Nato-Beitritt.
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Wer blufft hier? Der Westen wollte nie Kriegspartei werden. Putins Annexionspläne und sein Nukleararsenal durchkreuzen diese Strategie. Verantwortliche Politik bedeutet ab sofort: Zurückhaltung .
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Putin, der Vollversager? Russlands Präsident macht einen Fehler nach dem anderen; als Krönung seiner Dummheit sprengt er sogar die eigenen Pipelines in die Luft. So ist es doch – oder etwa nicht?
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Der Siegessichere
Kann die SPD noch Wahlen gewinnen? Im Bund sehen die Umfragen trübe aus, die Sozialdemokraten landen nur noch auf Platz drei – aber das ist ziemlich hypothetisch. Wirklich gewählt wird in naher Zukunft nur in Niedersachsen – und da liegt die SPD klar vorn.
Kein Wunder also, dass meine Kollegen Hubert Gude und Christian Teevs einen ziemlich entspannt wirkenden Ministerpräsidenten Stephan Weil trafen . »Jetzt hat die Ampel ihm auch noch die ersehnte Gaspreisbremse beschert«, sagt Christian. »Trotzdem konnte Weil sich eine Spitze gegen den Grünen-Star Habeck nicht verkneifen – der Industrie sei der Bundeswirtschaftsminister noch ein Konzept schuldig, stichelte er.«
Den von der Bundesregierung präsentierten Abwehrschirm bezeichnete Weil als »großen Wurf«, Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen würden spürbar entlastet. Er hoffe, dass Deutschland den Scheitelpunkt der Energiekrise »allerspätestens« Mitte nächsten Jahres erreicht habe. »Der Strommarkt wird sich bis dahin entspannen – auch wenn die Preise nicht auf das alte Niveau zurückkehren werden«, sagte Weil. In neun Tagen, um 18 Uhr, wird sich zeigen, ob die Wählerinnen und Wähler das auch so sehen.
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Lesen Sie hier das ganze Interview: »Das Vertrauen zu Russland ist zerstört wie die Pipelines in der Ostsee«
3. Der Uneitle
Der ehemalige Nationalspieler Philipp Lahm war schon immer darauf bedacht, so wenig Fehler wie möglich zu machen. In seiner gesamten Karriere sah er keine einzige rote oder gelbrote Karte. Heute ist Lahm Geschäftsmann, saniert in Not geratene Unternehmen, organisiert Sommercamps für Kinder und wirbt als oberster Repräsentant für die EM 2024 in Deutschland, das erste große Turnier nach der umstrittenen WM in Katar.
Kann Lahm seinen eigenen Ansprüchen immer noch gerecht werden? Kann er fair sein und erfolgreich? Diesen Fragen ging mein Kollege Marc Hujer nach, als er Lahm begleitete. Marc lernte einen Mann kennen, der sehr kontrolliert ist und erstaunlich uneitel. »Die größte Schwäche vieler Menschen ist ihre Eitelkeit«, sagt Marc, »Philipp Lahm versucht erst gar nicht, cool zu sein.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Der perfekte Philipp Lahm
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Was heute sonst noch wichtig ist
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»Es ist im Moment einfach zu schrecklich«: Es sind unfassbare Bilder aus dem Sunshine-State: Hurrikan »Ian« hat vielerorts Häuser, Straßen und Boote zerstört, ganze Stadtteile stehen unter Wasser. Joe Biden will schnell Hilfe nach Florida schicken.
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Deutsche kaufen weniger nachhaltig ein als andere Nationen: Viele Bundesbürger halten sich für besonders ökobewegt. Doch laut einer neuen Studie spielen Klima- und Sozialstandards hierzulande beim Einkauf eine deutlich kleinere Rolle als in anderen Ländern.
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Lauterbach sieht das Land am Beginn einer neuen Coronawelle: Karl Lauterbach und RKI-Chef Lothar Wieler warnen vor einer neuen Coronawelle im Herbst und Winter. Der Bundesgesundheitsminister richtet einen Appell an die Länder – und hält an der Isolationspflicht fest.
Mein Lieblings-SPIEGEL heute: der neue
Eine Datenauswertung zeigt eine riesige Methanwolke über den Nord-Stream-Lecks, berichtet meine Kollegin Julia Merlot aus unserem Wissenschaftsressort (hier mehr ). Aber wer hat die Sprengladungen – oder oder es sonst war – so knapp vor Nato-Territorium gezündet, dass es um Haaresbreite kein kriegerischer Angriff auf die Allianz ist?
Das Bild des Gasstrudels nahe der Ferieninsel Bornholm ging um die Welt, wir haben es aufs Titelbild der neuen SPIEGEL-Ausgabe gesetzt. Und meine Kolleginnen und Kollegen haben recherchiert, wie es gelaufen sein kann, welche Mächte welche geheimen Mittel für einen solchen Anschlag haben.
Die Titelgeschichte zeigt auch: Die zentrale Infrastruktur des Westens wie unterseeische Internet-Verbindungen, Gas-Rohre, Öl-Pipelines ist praktisch nicht zu schützen. Vor allem die drei Großmächte Russland, China und die USA haben sich längst vorbereitet auf Kriege am Meeresgrund.
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Hier finden Sie die Titelgeschichte: Was für Russland als Täter spricht – und was dagegen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Das große Schweigen: Der Krankenpfleger Niels Högel tötete viele Dutzend Menschen. Die hohe Sterberate in seinen Diensten im Oldenburger Klinikum fiel auf. Doch keiner schritt ein. Trotzdem werden Verantwortliche jetzt wohl freigesprochen. Wie konnte es dazu kommen?
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»Ich habe Angst um Italien«: Wo liegen die tieferen Gründe für den Erfolg von Giorgia Meloni? Eine Holocaustüberlebende aus Rom, ein Tabakhändler am Ätna und eine sardische Schriftstellerin erklären, wie sich ihr Land mit dem Sieg der Rechtsnationalen verändert .
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»Den Termin bei der Kanzlerin habe ich auch klargemacht«: Bisher unbekannte Chats der Maskenlobbyistin Andrea Tandler dokumentieren, wie die Politikertochter ihre Millionenprovisionen feierte – und wie gut anscheinend ihre Drähte ins unionsgeführte Gesundheitsministerium waren .
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Klienten mit Rüssel: Warum US-Anwälte Elefanten aus den Zoos herausklagen wollen .
Was heute weniger wichtig ist
Steht auf Stand-up: Der Comedian Trevor Noah, 38, verlässt die US-amerikanische TV-Sendung »The Daily Show«, die er 2015 von Jon Stewart, 59, übernommen hatte. »Nach den sieben Jahren ist meine Zeit um«, sagte Noah bei der Aufzeichnung der Satireshow in New York. Er wolle nach der Pandemie wieder Stand-Up machen: »Ich verbrachte zwei Jahre in meiner Wohnung, nicht auf der Straße. Stand-up war erledigt, und als ich wieder draußen unterwegs war, wurde mir klar, dass ich diesen Teil meines Lebens weiter erforschen möchte.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »CDU-Chef Friedrich März mahnte in der Talkrunde von Mybritt Illner besondere Sorgfalt an, denn ›ab heute wissen die Märkte, dass man in Deutschland 200 Milliarden euro verdienen kann‹.«
Cartoon des Tages: Referendum
Illustration: Chappatte
Und am Wochenende?
Könnten Sie einer Empfehlung meines Kollegen Andreas Borcholte folgen und das neue Album »Fossora« von Björk hören. »Die Pop-Visionärin ist zurück auf der Erde und gräbt mit Gabber-Techno und Bassklarinetten ihren Gefühlsgarten um«, schreibt Andreas. Ein größerer Kontrast zu den beiden vorherigen Alben sei kaum denkbar, »aber so war es immer schon in Björks inzwischen sehr langen, aber nie langweiligen Reise an die Grenzen der Pop-Musik und darüber hinaus«. (Hier mehr.)
Ihnen ein erholsames und langes Wochenende. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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