Das Großpaket
Wenn Olaf Scholz aus der Wohnung im siebten Stock des Kanzleramts aus den bodentiefen Fenstern blickt, hat er bei gutem Wetter eine weite Sicht über die Stadt, ebenso von der großen Terrasse aus, die man von der Wohnung aus erreicht. Man kann sich im Ausblick ein wenig verlieren.
Der Kanzler hat sich entschieden, die Isolationszeit nach der Coronainfektion nicht zu Hause in Potsdam zu verbringen, sondern in seiner Amtswohnung, die er sonst höchstens nutzt, um Gäste zu empfangen.
Harmonie auf Schloss Meseberg: Quadratur des Kreises nähert sich der Vollendung
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Sean Gallup / Getty Images
In den letzten Tagen hat Scholz hier viel gesessen, viel telefoniert, ein Interview gegeben, aber auch etwas mehr Ruhe als sonst gehabt, um nachzudenken. Unter anderem darüber, wie die Gaspreise, die sich nahezu verfünffacht haben, so gedeckelt werden können, dass die Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen oder Handwerksbetriebe sie sich leisten können – und zugleich nur so viel Gas verbrauchen, wie nötig ist.
Entscheidend ist dabei die Frage, wie die Regierung das alles finanzieren will. Vor allem, falls die Einnahmen aus der geplanten Gasumlage wegfallen, weil sich plötzlich keiner mehr so recht für das Instrument erwärmen kann.
Der Staat wird zwar in der Inflation mehr Steuern einnehmen, das wird demnächst die Steuerschätzung wohl prognostizieren, doch dürften die Mehreinnahmen für den riesigen Bedarf an Unterstützungsleistungen nicht ausreichen. Und dann gibt es ja noch das oft wiederholte Mantra von Finanzminister Christian Lindner, die Schuldenbremse im kommenden Jahr nicht aussetzen zu wollen.
Es war also die Quadratur des Kreises, mit der sich Scholz in diesen Coronatagen beschäftigt hat. Immer wieder hat er mit seinen Stellvertretern telefoniert, mit Lindner und mit Wirtschaftsminister Robert Habeck.
Kanzleramt in Berlin: Coronaheimat von Olaf Scholz
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Christophe Gateau / dpa
Die Kosten eines Gaspreisdeckels sind extrem hoch. Orientiert man sich an Ländern, die ihn schon eingeführt haben, etwa Großbritannien, Frankreich oder Spanien, rechnet man in Deutschland mit mindestens 100 Milliarden Euro, womöglich auch mit 150 Milliarden. Deshalb wurde zuletzt über ein weiteres Sondervermögen spekuliert, dessen Finanzierung nicht unter die Schuldenbremse fällt, aber trotzdem nur mit der Aufnahme von Krediten funktioniert. Ein Schuldenbremsenumgehungsprogramm sozusagen.
Das viele Geld soll nicht nur die Bürgerinnen und Bürger entlasten, sondern auch viele der Energieversorger, damit sie angesichts der explodierenden Einkaufspreise für Gas nicht insolvent gehen – und in der Folge langjährige Lieferverträge mit moderaten Preisen plötzlich obsolet werden. Dagegen sollte eigentlich die Gasumlage helfen. Nun muss ein alternativer Mechanismus her.
Die Quadratur, so hört man, nähert sich nun ihrer Vollendung. Ein Konzept soll vermutlich noch vor dem 1. Oktober präsentiert werden, wenn eigentlich die Gasumlage in Kraft treten sollte. Blieben also noch zwei Tage.
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Folge der kühlen Witterung: Deutschlands Gasverbrauch steigt kräftig an
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Kamala Herrisch
Eine Terminankündigung für heute hat mich aufhorchen lassen: Die Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris, besucht Südkorea. Ich musste lange überlegen: Was fällt mir zu Harris ein, wofür steht sie, was denkt sie, was fordert sie? Und ich musste mir eingestehen: Ich weiß es nicht. Die vielleicht mächtigste Frau der Welt ist für mich ein unbeschriebenes Blatt.
Vizepräsidentin Harris: Seltsam konturlos
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LEAH MILLIS / REUTERS
Die amerikanische Politik hat derzeit nur zwei Gesichter: Joe Biden, der Präsident, und Antony Blinken, der Außenminister. Sie setzen den Ton gegenüber Putin, sie bedienen in diesem Krieg die Klaviatur zwischen Drohen und Dämpfen, zwischen Zurückhaltung und Eskalation. So auch jetzt wieder, da sich abzeichnet, dass hinter den mutmaßlichen Sabotageexplosionen an den Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 am ehesten Russland steckt – wovon westliche Nachrichtendienste wie der BND derzeit ausgehen. Es ist Biden, der die Konfliktkommunikation in der Hand hat.
Und Kamala Harris?
Sie äußerte zuletzt Sorgen, der Rechtsruck in vielen US-Bundesstaaten könne zu einem Ansehensverlust des ganzen Landes führen. Davor aber fiel sie lange Zeit eher durch interne Querelen auf, wie mein Kollege René Pfister schon im Januar in einem Porträt beschrieben hat. Der Tenor: Eine herrische Chefin lässt ihre Launen an den Untergebenen aus und erkennt Fehler immer nur bei anderen.
Harris hat es neben dem omnipräsenten Biden bis heute nicht geschafft, klarzumachen, für was genau sie steht. Sie dürfte damit eine der farblosesten Mächtigen des Landes sein. Was weiter nicht schlimm wäre, hätten die Demokraten derzeit nicht ein großes Vakuum, wenn es um die Nachfolge des 79 Jahre alten Bidens geht. Es ist schlicht kein Erfolg versprechender Nachfolger in Sicht.
Kamala Harris wäre eine Option gewesen, hätte sie besser ihre Schwerpunkte artikuliert, hätte sie eine prägnante Politik gemacht. Ihre Reise nach Südkorea wird an ihrer Konturlosigkeit wohl auch nichts mehr ändern.
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US-Vizepräsidentin Harris in der Krise: »Ihr Büro ist eine Shitshow«
Arme Kirche
Früher galt die Regel, dass Krisenzeiten die Sternstunden der Kirchen seien. Die Menschen suchten Antworten auf die grundsätzlichen Fragen des Lebens, sie sehnten sich nach Ansprache und Seelsorge, die Kirchen waren Zufluchtsorte.
Ich weiß noch, wie ich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen Gottesdienst besuchte und überrascht war, wie viele Menschen auf den Bänken saßen. Man könnte meinen, dass sich die Kirchen auch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wieder füllen müssten. Doch davon habe ich bislang wenig bemerkt.
Missbrauchsbeauftragter Helmut Dieser
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IMAGO/Peter Back / IMAGO/Future Image
Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Friedensbotschaft des Evangeliums sich nicht so einfach zusammenbringen lässt mit der Aggressivität Wladimir Putins und der Überzeugung, dass es die Sprache des Militärs ist, die der russische Präsident am besten versteht.
Heute geht in Fulda die Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz zu Ende. Und auch von ihr ging keine bemerkenswerte Botschaft an die unter dem Krieg leidenden Menschen aus. Stattdessen bestimmte die Aufarbeitung diverser Missbrauchsskandale die Gespräche – und damit auch die Schlagzeilen.
Ein enorm wichtiger Schritt ist das, keine Frage, er kommt viel zu spät. In der Folge heißt es aber auch, dass neben diesem monströsen Thema weder Platz noch Vertrauen existieren für all die guten Dinge, die eine Kirche in Kriegs- und Krisenzeiten tun könnte.
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Katholische Kirche: Bischof Bätzing will Reformen nicht von Konservativen blockieren lassen
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Die Startfrage heute: Das Bild zeigt den größten Salzsee der Erde. Wo liegt er?
Gewinner des Tages…
… sind die vier Preisträger des diesjährigen Alternativen Nobelpreises. Seit mehr als 40 Jahren wird diese Auszeichnung vergeben an Menschen, die wertvolles leisten, was aber oft unerkannt bleibt. »Sie finden Lösungen für die wirklichen Probleme unserer Zeit. Oft wird ihre Arbeit belächelt, bekämpft oder ignoriert. Der Alternative Nobelpreis hebt sie ins Rampenlicht«, heißt es auf der Seite der Stiftung Right Livelihood Award Foundation. Zu den bisherigen Preisträgern gehören zum Beispiel NSA-Whistleblower Edward Snowden oder Fridays-For-Future-Gründerin Greta Thunberg. Die Namen der diesjährigen Sieger werden um 8 Uhr bekannt gegeben.
Verlierer des Tages…
Scholz, Merz: Gestörte Beziehung
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Kay Nietfeld / dpa
… ist die Beziehung zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz.
Schon seit Wochen reden der Kanzler und der Oppositionsführer offenbar kein vertrauliches Wort mehr miteinander, stattdessen sind ihre gegenseitigen Attacken im Bundestag oft eine Nummer zu scharf und verbittert. Jetzt wurde auch noch ein für heute angesetztes gemeinsames Abendessen abgesagt – wegen der Coronainfektion des Kanzlers. Und so bleiben Opposition und Regierung wohl noch eine Weile eher sprachlos, was in Kriegszeiten nicht unbedingt die beste Option ist. In der Krise, so war bisher die ungeschriebene Regel, rücken Opposition und Regierung zusammen, grundlegende Beschlüsse werden im Idealfall gemeinsam getroffen. Voraussetzung dafür allerdings ist, dass man miteinander spricht.
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Ich wünsche Ihnen einen abwechslungsreichen Tag!
Ihr Martin Knobbe