Besser spät als gar nicht: Selten passte dieser Satz so gut auf einen Vorschlag der Kommission wie auf den, der ungarischen Regierung wenigstens einen kleinen Teil ihrer EU-Fördergelder zu entziehen.
Seit Jahren demontiert Ungarns Regierungschef Viktor Orbán die Demokratie in seinem Land. Vollkommen offen geht er den Weg in die »illiberale Demokratie« – ein Euphemismus für eine Autokratie, in der Wahlen zwar stattfinden, ihren Namen aber kaum noch verdienen. Das gesamte System von den Medien bis hin zur Wirtschaft ist dermaßen in den Händen Orbáns und seiner Gefolgsleute, dass eine Opposition kaum noch faire Chancen auf einen Sieg hat.
Jetzt also hat die Kommission endlich beschlossen, Orbán an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen: dem Geld. Ungarn gehört zu den Topempfängern von Brüsseler Fördermilliarden, Jahr für Jahr fließen knapp fünf Milliarden Euro nach Budapest.
Ungarn soll 80 Prozent seiner Gelder behalten
Dieses Geld macht rund 3,5 Prozent des ungarischen Bruttoinlandsprodukts aus. Bliebe es aus, käme das für Ungarn einem wirtschaftlichen Desaster gleich. Genau das haben angesehene Juristen kürzlich in einem Gutachten gefordert: Die EU sollte keinen Cent mehr nach Budapest überweisen, weil die dortige Regierung »fundamental, regelmäßig und weitreichend« gegen demokratische Prinzipien verstoße.
EU-Haushaltskommissar Hahn: Polen hat vom Strafmechanismus wenig zu befürchten
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Die Kommission von Ursula von der Leyen aber will Ungarn nur 7,5 Milliarden Euro entziehen. Das enspricht etwa 20 Prozent von Ungarns EU-Geldern aus dem Siebenjahreshaushalt, die Milliarden aus dem Coronafonds nicht miteingerechnet. Die restlichen 80 Prozent der insgesamt rund 34,5 Millarden Euro aus dem Haushalt sollen unangetastet bleiben – weil die Kommission andernfalls befürchtet, gegen eben jenen Haushaltsmechanismus zu verstoßen, der die Kürzung erst ermöglicht. Dass der Mechanismus so ist, wie er ist, hat freilich auch mit Orbán zu tun: Er konnte ihn entschärfen, unter anderem indem er gedroht hat, die EU in anderen Bereichen mit seinem Vetorecht lahmzulegen.
Orbán hat auch bewirkt, dass der Geldentzug nach einem Beschluss der Kommission nicht nahezu automatisch kommt, sondern von den anderen EU-Staaten noch mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden muss. 15 der 27 Mitgliedsländer mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung müssen dafür sein – eine hohe Hürde. Hinzu kommt, dass vorher in Italien gewählt wird und alles auf eine Regierung unter Führung der neofaschistischen Fratelli d’Italia hindeutet. Damit könnte die EU-Mehrheit für den Geldentzug endgültig dahin sein.
Sollte das passieren, wäre es eine Katastrophe für die EU. Sie würde damit demonstrieren, dass schon ein so überschaubarer Schritt wie der gegen Ungarn nicht gelingen kann. Denn selbst wenn er so käme wie von der Kommission gewollt, wäre keineswegs sicher, dass er zu bedeutenden Änderungen am System Orbán führen würde.
Polen bleibt ungeschoren
Zudem spricht es Bände, dass selbst ein Land wie Polen nichts vom Haushaltsmechanismus zu befürchten hat – obwohl Warschau nach Orbáns Vorbild Medien gleichschaltet, Minderheiten diskriminiert und sogar den Europäischen Gerichtshof und damit die Rechtsordnung der EU missachtet. Doch in Polen sei eben schwerer nachweisbar, dass die Abschaffung der unabhängigen Justiz zum Missbrauch von EU-Geldern führe, wie EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn einräumte.
Die Botschaft ist klar. Solange Möchtegern-Autokraten nicht zu gierig werden, sprich: ihre ohnehin schon großzügige EU-Förderung nicht auch noch in die eigenen Taschen oder die ihrer Freunde umleiten, hat die EU ihnen beim Abbau der Demokratie wenig entgegenzusetzen.
Sollte der Rat der Mitgliedsländer nun selbst die zurückhaltenden Strafmaßnahmen gegen Ungarn abschmettern, wäre das nicht nur ein Triumph für Orbán. Es könnte zugleich der Anfang vom Ende der EU sein. Rechtspopulistische Regierungen wie etwa in Polen, oder künftig womöglich auch in so großen Ländern wie Frankreich und Italien, würden womöglich jeden Respekt vor der Herrschaft des Rechts in der EU verlieren – und das dann auch zu Recht.