Zeitenwende für die Bundeswehr
Nach neun Monaten Kanzlerschaft des Olaf Scholz zeichnet sich ein Muster ab: Der Mann tut sich schwer damit, auf Druck zu reagieren. Druck provoziert beim Kanzler Abwehrreaktionen. Das kann durchaus eine gute Eigenschaft sein, im Sinne von: Standhaftigkeit.
Was aber, wenn der Druck seine Ursache in einem guten Zweck hat? Und was, wenn der Kanzler dann aus Prinzip den Neinsager macht? Schwierig.
Kanzler Scholz in einem Bundeswehr-Transportflugzeug (Mai 2022)
Foto: Michael Kappeler / dpa
Sprechen wir also über die mögliche Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine. Deutschland hat bereits schlagkräftiges Material geliefert: Panzerhaubitzen und Flugabwehrpanzer. Nun stehen bei der Rüstungsfirma Rheinmetall auf dem Hof einsatzfähige Schützenpanzer vom Typ Marder. Warum will Scholz die nicht an die Ukraine liefern, um deren Offensive gegen die russischen Invasoren zu stützen? Von Leopard-Kampfpanzern ganz zu schweigen?
Weil kein Nato-Partner westliche Panzer liefere, weil es keine Alleingänge geben solle, heißt es stets aus dem Kanzleramt. Nun hätten aber die Amerikaner dem Vernehmen nach gar nichts dagegen, wenn die Deutschen in dieser Sache einmal vorangingen – und Washington dann folgen könnte.
Geht es also doch allein ums Prinzip?
Noch in dieser Woche bietet sich Scholz zumindest die Möglichkeit zur öffentlichkeitswirksamen Panzerwende. Denn heute beginnt in Berlin die sogenannte Bundeswehrtagung. Da beraten Top-Militärs und kundige Zivilisten den weiteren Kurs der deutschen Streitkräfte, Motto: »Die Bundeswehr in der Zeitenwende – eine kritische Bestandsaufnahme in Zeiten des Krieges in Europa.« Und Sie erinnern sich, »Zeitenwende«, darauf hat der Kanzler das Copyright.
An diesem Donnerstag nun treten der Generalinspekteur Eberhard Zorn (ranghöchster Soldat in Deutschland) und seine Chefin Christine Lambrecht (SPD-Verteidigungsministerin) auf. Von den beiden ist keine Wende zu erwarten. Am Freitag aber ist dann Scholz am Start. Wer weiß.
Außenministerin Annalena Baerbock ihrerseits signalisiert seit Tagen analog zu den Wünschen aus ihrer Partei die Bereitschaft, mehr für die Ukraine zu tun. Ich bin versucht zu schreiben, die Ministerin erhöhe den Druck auf den Kanzler.
Aber Sie wissen ja, wie das ist mit dem Druck und dem Kanzler.
Putin & Friends
Aus unserer westlichen Perspektive erscheint Kremlherrscher Wladimir Putin isoliert, global betrachtet stimmt das aber leider ganz und gar nicht. Insbesondere China, das seinen (wirtschaftlichen) Aufstieg auch der regelbasierten Weltordnung verdankt, kumpelt mit dem Mann, der dieser Ordnung den Kampf angesagt hat.
Autoritäre Putin, Xi (am 4. Februar in Peking)
Foto: Alexei Druzhinin / AP
Im Juni bereits hatten Russland und China den Ausbau ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit vereinbart. Anfang September entsandte Peking Truppen zur gemeinsamen Militärübung »Wostok 2022« nach Sibirien. Und an diesem Donnerstag beginnt im usbekischen Samarkand der Gipfel der »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (SCO), wo Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping zusammentreffen werden. Achse der Autoritären.
Es ist Xis erste Auslandsreise seit dem Ausbruch der Coronapandemie. Die SCO ist einst als Gegengewicht zu westlichen Institutionen gegründet worden, mit dabei sind neben China und Russland auch Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan, Indien und natürlich Usbekistan. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will als Besucher vorbeikommen.
Hauptthema des Treffens laut russischen Angaben: der Ukrainekrieg.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Sorge vor Überschwemmung nach Angriff auf Staudamm, Putin bleibt am Telefon stur: Marschflugkörper haben in der Zentralukraine Pumpanlagen zerstört. Kiew erhöht den Druck in der Panzerdebatte. Und: Der Uno-Chef hat wenig Hoffnung auf Frieden. Das geschah in der Nacht.
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»Was Putin getan hat, hat alle in einen Abgrund gestürzt«: In Russland fordern immer mehr Kommunalabgeordnete wegen des Ukrainekriegs Putins Rücktritt. Einer von ihnen ist Nikita Juferew aus Sankt Petersburg. Ein Gespräch über Hochverrat und angebotene Flugtickets nach Mexiko.
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»Habeck sollte diesen Irrweg beenden«: Deutschland steht vor der Heizwende: Ab 2024 sollen 500.000 Wärmepumpen pro Jahr eingebaut werden. Doch Bauphysik-Professorin Lamia Messari-Becker hält es für einen Fehler, fast allein auf eine Technologie zu setzen.
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Wolodymyr Selenskyj in Autounfall verwickelt: In der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist es zu einem Verkehrsunfall gekommen – daran beteiligt war auch das Auto des Präsidenten. Selenskyj erlitt laut seinem Sprecher aber keine schweren Verletzungen.
antisemita fifteen
Noch eine gute Woche, dann ist für dieses Mal endlich Schluss mit der Kasseler Weltkunstschau. Jeder Tag bis dahin ist eigentlich ein Tag zu viel. Fällt mir nicht leicht, dieser Satz.
Denn als Kasselaner – Lokalsprech für einen gebürtigen Kasseler – kletterte ich auf der documenta 8 in den Achtzigern auf dem Fünf-Meter-Teddybären des Performancekünstlers Palestine herum, habe in den vergangenen vier Jahrzehnten nur eine Ausstellung verpasst, insgesamt acht Documentas besucht. In meinen frühen Jahren naturgemäß intellektuell passiv, Klettern zählt nicht.
Zentraler documenta-Ort Fridericianum in Kassel
Foto:
Uwe Zucchi / picture alliance/dpa
Es ist das Überraschende, das Unerwartete, im besten Falle das Umwerfende, was diese Kunstschau in guten Zeiten für mich ausmachte. Im besten Fall berührt diese Ausstellung und macht diese sympathische, ein bisschen biedere Provinzstadt alle fünf Jahre zu einem besonderen, vibrierenden, offenen Ort.
Die documenta fifteen hat all das nicht eingelöst. Diese Schau ist eine Schande. Die antisemitischen Plakate und Filme, die Uneinsichtigkeit der Kuratoren vom indonesischen Kollektiv Ruangrupa und zuletzt noch deren infame Täter-Opfer-Umkehr, der Rassismus-Vorwurf an die Kritiker.
Auch jenseits des Skandals war diese Documenta eine Enttäuschung. Sie bleibt kühl, wo frühere Ausstellungen berührten. Peace, Humanity und Genderequality – mit diesen Schlagworten ist gefühlt jedes Kunstwerk, jede Aktion drapiert. Hülsen, Floskeln nur, wie in einem verstaubten DDR-Lehrbuch, für Frieden, Sozialismus und blabla. Aktivistenmesse statt Kunstschau.
In einer Ausstellung des umstrittenen Künstlerkollektivs Taring Padi (die mit dem antisemitischen Großplakat) im früheren Hallenbad Ost erwischte ich mich dabei, wie ich mich mehr für das Gebäude als die Propagandaplakate mit den immer gleichen Schweinsköpfen und CIA-Anspielungen interessierte. Denn als Kind war ich dort Woche für Woche zum Schwimmen.
Das war dann doch mal ein berührender Moment.
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Die Startfrage heute: Wer trat 2019 als damals jüngste Regierungschefin der Welt ihr Amt an?
Verlierer des Tages…
Foto:
… ist die niedersächsische AfD. Mit einer Art Gummibärchen-Ersatz wollte sie im Landtagswahlkampf für sich werben. Doch der Plan ging nicht auf. Die Rechtsaußen-Fruchtgummis, die wohl in ihrer Form ursprünglich den Pfeil im Logo der Partei nachahmen sollten, sehen jetzt aus wie: rote Penisse.
Nun heißt es im AfD-Grundsatzprogramm zwar, dass »mittels einer aktivierenden Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung« erreicht werden müsse. Allerdings ist es höchst fraglich, ob ein roter Fruchtgummi-Penis zu dieser aktivierenden Wirkung im Sinne der Berliner Führung der Partei beizutragen vermag.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer