Hartz IV heißt jetzt Twix
Hartz IV heißt demnächst Bürgergeld. Das klingt natürlich viel, viel netter und freundlicher, aber Obacht: Bei aller Liebe zum Euphemismus, der neue Name muss nicht zwingend etwas bedeuten. Raider zum Beispiel schmeckte auch als Twix noch wie Raider. Beim Bürgergeld, das das Bundeskabinett heute beschließen will, ist es zumindest Geschmackssache, wie substanziell es sich ab dem 1. Januar vom stark verhassten Hartz IV unterscheidet.
Agentur für Arbeit in Sachsen-Anhalt
Foto: Jan Woitas / dpa
Ja, es wird einen etwas wohlwollenderen Umgang mit den Betroffenen geben. Die Sorge vieler Menschen, im Fall von längerer Arbeitslosigkeit Wohnungen aufgeben oder Erspartes aufbrauchen zu müssen, dürfte etwas sinken. Es soll auch mehr Möglichkeiten und Anreize für Weiterbildungen geben. Und der Regelsatz soll um 50 Euro auf rund 500 Euro monatlich steigen.
Eines aber bleibt, trotz des schöner klingenden Namens: die Möglichkeit, Bürgergeldempfänger zu sanktionieren, also zu bestrafen, wenn sie nicht spuren. Auch wenn das künftig erst nach sechs Monaten möglich sein soll. Die Grünen wollten die Sanktionen abschaffen, bei der SPD waren es immerhin Teile. Aber die FDP kämpfte energisch für den Erhalt der Straf-Option.
Ich finde das falsch. Erstens verfehlen Sanktionen die beabsichtigte Wirkung, Menschen in Arbeit zu bringen, sondern sorgen im Gegenteil für Verunsicherung, Einschüchterung und befördern psychische Probleme.
Und zweitens reden wir hier über das auf Euro und Cent errechnete Existenzminimum, um die Minimalteilnahme am gesellschaftlichen Leben, die auch mit 500 Euro realistischerweise nicht möglich ist. Das Existenzminimum sollte niemals gekürzt werden, es ist ja schon das Minimum. Wenn man es doch tut, sollte man sich zumindest nicht als Sozialstaat rühmen.
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Hartz-kritische Studie: »Sanktionen verursachen eine Kultur des Misstrauens«
Die Linke, ein Hühnerhaufen
Was Deutschland gerade jetzt richtig guttun würde, wäre eine linke Partei. Eine ernsthafte, funktionierende linke Partei, nicht die Partei Die Linke. Bei den zu erwartenden ökonomischen und sozialen Zumutungen, die nun auf Deutschland zukommen, bräuchte es eine Stimme für sozialen Ausgleich, für Umverteilung – und gegen die verflixte Gesetzmäßigkeit, wonach gerade die Reichen aus Krisen fast immer als noch Reichere herauskommen. Auf die Ampelregierung sollte man sich in dieser Hinsicht nicht verlassen (siehe oben).
Die real existierende Linke hat all die genannten Forderungen gewiss irgendwo in ihrem Programm stehen. Aber leider macht sie bevorzugt mit internen Hahnen- beziehungsweise Hühnerkämpfen von sich reden. In Sachen Sozialverhalten sollen ja gerade Linke nicht die allersozialsten sein.
Fast immer haben die internen Querelen irgendwie mit Sahra Wagenknecht zu tun. Gerade eskaliert die Auseinandersetzung um Wagenknechts Russland-Rede im Deutschen Bundestag. Darin hatte sie sich gewohnt russlandfreundlich präsentiert und Wirtschaftsminister Robert Habeck scharf attackiert. »Das größte Problem ist Ihre grandiose Idee, einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen.« Gemeint war Russland. Am Ende hatte man fast den Eindruck, Habeck und nicht etwa Wladimir Putin sei aktuell der schlimmste Aggressor.
Wagenknecht (l.) am vergangenen Donnerstag im Bundestag
Foto:
IMAGO/Jean MW / IMAGO/Future Image
Mehrere Linkenpolitiker, darunter die Thüringer Bundestagsabgeordnete und Ex-Parteivize Martina Renner unterzeichneten daraufhin einen Aufruf und beklagten, es sei »Redezeit für rechts offene, populistische Plattitüden verschwendet« worden. Sie fordern den Rücktritt der Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali sowie Wagenknechts Ausschluss aus der Fraktion. Zwei prominente Mitglieder traten wegen Wagenknechts Rede und dem Agieren der Fraktionsführung sogar aus der Partei aus: der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, sowie der frühere Hamburger Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi.
Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Solange Sahra Wagenknecht keinen anderen Platz in der Politik gefunden hat, wird die Linke ihrer wichtigen Aufgabe kaum nachkommen können.
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Wagenknechts Auftritt und die Folgen: Linkenpolitiker fordern Rücktritt der Fraktionsspitze
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Scholz drängt in Telefonat mit Putin auf Rückzug: Erstmals seit Wochen haben Olaf Scholz und Russlands Präsident Putin miteinander gesprochen. Der Kanzler drängte in dem Telefonat auf eine diplomatische Lösung im Ukrainekrieg – und einen Abzug der russischen Truppen.
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An welche Zusagen muss der Arbeitgeber sich trotz Krise halten? Die knappe Energie setzt vielen Unternehmen zu. Versprochene Gehaltserhöhungen oder Boni werden kassiert, Fabrikschließungen und Kurzarbeit drohen. Was Beschäftigte mitmachen müssen, wenn es beim Arbeitgeber eng wird.
Warum FDP und Grüne bei Jungen im Trend sind
Nicht überall geht es zu wie bei den Linken. Manche Parteien freuen sich sogar über engagierten Nachwuchs. Es ist noch nicht lange her, da schimpften Wissenschaft, Lehrkräfte und ältere Mitglieder des politischen Betriebs auf die vermeintlich politikverdrossene Jugend. Bei den alteingesessenen Parteien, auch ihren Jugendorganisationen, sanken die Mitgliederzahlen. Dieser Trend scheint sich nun aber zu drehen.
Ortsverein, Rednerlisten, Ausschusssitzungen: Der Kern politischer Basisarbeit klingt nicht gerade sexy. Trotzdem treten junge Menschen aktuell zu Tausenden in Parteien ein, nun ja, vor allem in zwei: die Grünen und die FDP. Es ist ein Trend, der sich schon bei der letzten Bundestagswahl beobachten ließ: FDP und Grüne holten unter Erstwählern die meisten Stimmen. Die spätere Kanzlerpartei SPD kam hier nur auf 15 Prozent.
Warum aber ist das so?
SPD und Union, die »alten Lagerparteien«, wirkten oft konturlos, »wie ein großer politischer Gemischtwarenladen«, sagt der Soziologie-Professor Klaus Hurrelmann. Er kartografiert seit 20 Jahren die Shell-Studie für 12- bis 25-Jährige, in der diese nach ihren Ängsten, Wünschen, Träumen und ihrem Verhältnis zur Politik befragt werden. »Jüngere Menschen, die sich keiner politischen Grundausrichtung zuschreiben, können damit nicht viel anfangen.«
Meine Kollegin Miriam Olbrisch ist dem Phänomen auf den Grund gegangen. Am meisten beeindruckte ein 18-Jähriger, der seine Kindheit und Jugend in einem Kinderheim verbrachte – und nun einer Partei beitrat, um das Land sozialer zu machen: der FDP.
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Warum die jungen Erwachsenen Parteien gut finden: »Wie es uns geht, war denen völlig egal«
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Die Startfrage heute: In welcher Stadt befindet sich das Hauptquartier der Nato?
Gewinner des Tages…
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Sean Gallup / Getty Images
… ist Winfried Kretschmann. Nach seinem großen Waschlappen-Erfolg hat der baden-württembergische Ministerpräsident nun nachgelegt und das Volk mit weiteren praktischen Tipps fürs Energiesparen beglückt.
Vor zwei Wochen riet er den Bürgerinnen und Bürgern, sich mit dem Waschlappen zu reinigen, statt wasserreich zu duschen. Nun hat er sich für ein Video vor eine Heizung gekniet und allen Zuschauerinnen und Zuschauern mal ganz praktisch vorgeführt, wie man ein Thermostat auf Null dreht: Man dreht einfach so lange in die richtige Richtung, bis es auf Null steht. Viele wussten das gar nicht. »Einfach vorm Ins-Bett-Gehen den Thermostat runterdrehen«, rät Kretschmann.
Das Video ist Teil der sogenannten Cleverländ-Kampagne, mit der Kretschmann und seine Landesregierung eine ganze Reihe von Energiespartipps unters Volk bringen wollen, darunter auch die Idee, während des Zähneputzens den Wasserhahn zu schließen.
Bilder, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt, ruft Kretschmanns Heizkörper-Video (anders als sein Waschlappen-Tipp) übrigens nicht hervor.
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Kommen Sie gut durch diesen Tag!
Ihr Markus Feldenkirchen