Keine Alleingänge
Etwas ähnlich Ritualisiertes wie die deutsche Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine ist kaum denkbar. Seit Ende Februar wird dieses Ritual immer neu aufgeführt, quasi wortgleich. Zu dieser Debatte gehören die immer gleichen Protagonisten, Argumente und Abläufe. Die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee bot nun einen weiteren Anlass für die erprobte Darbietung.
Leopard-Panzer der Bundeswehr
Foto: Peter Steffen / dpa
Auch dieses Mal lief es wie immer: Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (alternative Besetzung: Anton Hofreiter, Michael Roth) fordert die eigene Regierung auf, mehr Waffen zu liefern. Vertreter der Union unterstützen die Forderung, finden aber (sch)merzlichere Worte für die Regierung.
Hochrangige Sozialdemokraten (von Ralf Stegner über Kevin Kühnert, Christine Lambrecht bis hin zu Olaf Scholz) erklären daraufhin zuverlässig, dass man die Ukraine sehr wohl unterstütze und vor allem darauf bedacht sei, keine Alleingänge zu machen und alles mit den Bündnispartnern abzustimmen. Trotzdem fühlt sich der Bundeskanzler am Ende oft genötigt, neue Waffenlieferungen anzukündigen. Die werden allerdings gern in die fernere Zukunft verschoben und fallen dann oft nicht ganz so üppig aus wie ursprünglich angekündigt. Bei dieser Liefermoral ist es schon erstaunlich, dass die Ukrainer den Russen überhaupt bis heute standgehalten haben.
Eine beliebte Entschuldigung der Bundesregierung ist auch, dass man leider nicht mehr Waffen aus eigenen Beständen abgeben könne, weil man ja den Bündnisverpflichtungen nachkommen müsse. Gemeint sind die angeblichen Verpflichtungen der Nato. Deren Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte allerdings gerade erst, dass er eine Niederlage der Ukraine gegen Russland für gefährlicher halte als Nato-Waffenlager, die nicht planmäßig gefüllt sind. Die Nutzung der Waffenbestände von Nato-Staaten trage dazu bei, das Risiko eines aggressiven Vorgehens Russlands gegen Nato-Länder zu verringern.
Zumindest dieses (Schein-)Argument mit den Bündnisverpflichtungen könnte die Bundesregierung allmählich mal aussortieren.
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Ach, wie schön ist Niedersachsen!
Heute Abend werden die Spitzenkandidaten für die niedersächsische Landtagswahl beim Wahlforum der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« miteinander diskutieren. Sie heißen Stephan Weil (SPD), Bernd Althusmann (CDU), Julia Willie Hamburg (Grüne) und Stefan Birkner (FDP).
Traktor in Niedersachsen
Foto: Julian Stratenschulte / dpa
Ich finde es prima, dass die Vier heute miteinander diskutieren. Ich habe auch weiß Gott nichts gegen Niedersachsen, außerdem finde ich es wichtig, dass regelmäßig gewählt wird. Für den Rest der Republik ist diese Landtagswahl zu diesem Zeitpunkt trotzdem eine teure Angelegenheit. Denn schon jetzt ist klar, dass viele der aktuellen Krisenentscheidungen der Bundesregierung mit verschärftem Blick auf besagte Landtagswahl am 9. Oktober getroffen werden. Nicht mit Blick auf das Wohl des ganzen Landes.
Weil dieses Phänomen leider häufig zu beobachten ist (auch wenn die Konsequenzen nicht immer so relevant sind), sollte dringend ein Modus gefunden werden, in dem die Bundespolitik nicht ständig von irgendwelchen Regionalwahlen abgelenkt wird.
Roberts Rückkehr
Heute Abend bekommt der FC Bayern Besuch von einem guten Bekannten. Robert Lewandowski kommt zurück in die Arena, zum Champions-League-Spiel mit seinem neuen Verein, dem FC Barcelona. Rund um Lewandowskis Wechsel im Sommer war es ein wenig frostig zwischen ihm und dem FC Bayern geworden. Ein wirklich harmonisches Ende sieht jedenfalls anders aus.
Stürmer Lewandowski im Trikot des FC Barcelona
Foto: ENRIC FONTCUBERTA / EPA
Trotzdem wäre ein unfreundlicher Empfang für Lewandowski heute Abend verwunderlich. Der FC Bayern hat dem Stürmer eine Menge zu verdanken. Acht Jahre lang schoss Lewandowski mindestens 35 Tore pro Saison, trug maßgeblich zum Gewinn zahlreicher Titel bei. Wie wichtig seine Tore waren, konnte man auch in den vergangenen drei Bundesligaspielen der Bayern beobachten, die alle unentschieden endeten.
Was mich an diesem Transfer allerdings noch immer wundert: Wie der FC Barcelona 45 Millionen Euro an Ablöse für den 34-Jährigen bezahlen – und darüber hinaus weitere Spieler für insgesamt mehr als 150 Millionen Euro verpflichten konnte. Obwohl Barcelona auf 1,3 Milliarden Euro an Schulden sitzt! Man könnte da durchaus von Wettbewerbsverzerrung sprechen.
Aber ich würde es lieber positiv sehen: Wenn ich in ähnlichem Ausmaß Schulden machen könnte, hätte ich auch rasch eine Champions-League-Truppe beisammen. Den FC Feldenkirchen.
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Verlierer des Tages…
Fußgängerzone in München
Foto: Sven Hoppe/ DPA
… könnten die deutschen Innenstädte werden. Laut der »Deutschlandstudie Innenstadt«, durchgeführt von der Beratungsfirma Cima, droht die momentane Konsumflaute zu einer regelrechten Konsumverweigerung zu werden. Corona, irre Energiepreise und eine irre Inflation lassen die Kunden überall hingehen, nur nicht in die Einkaufsstraßen. Mit 20 Prozent »Netto-Besuchsverlust« gegenüber der Vor-Corona-Zeit kalkulieren die Studienautoren für die Fußgängerzonen im Land.
Besonders die älteren, kaufkräftigeren Bürgerinnen und Bürger bleiben laut der groß angelegten Befragung künftig der City fern. Das träfe die Geschäfte empfindlich. Kleinstädte bis 10.000 Einwohnern sind wohl die ersten, deren Innenstädte veröden.
Einen Schuldigen für das Desaster, das hat mein Kollege Simon Book recherchiert, sehen viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Berlin. Die Bundesregierung hatte während der Pandemie eine Viertelmilliarde Euro Hilfsgelder für die Zentren zugesagt – dann aber fast ein Jahr gebraucht, ehe ein Euro davon in den Kommunen ankam. »Deutlich zu lang«, sagt etwa Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). Die Innenstädte stünden »mitten in ihrem Schicksalsjahrzehnt«, mit »überbürokratisierten Prozessen« werde man sie nicht in die Zukunft führen können.
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Ihr Markus Feldenkirchen