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»Die russischen Streitkräfte werden auch unterschätzt«

Der arme Gregor Gysi, dachte ich mir am Wochenende. Erst vorigen Mittwoch war der Linkenpolitiker gemeinsam mit dem SPD-Abgeordneten Michael Roth Gast im SPIEGEL-Spitzengespräch. Dort hatte Gysi ein gewisses Zutrauen in die Kräfte der russischen Armee nicht verhehlen können. »Militärisch ist Russland nicht zu schlagen, es sei denn wir machen den 3. Weltkrieg«, erklärte der außenpolitische Sprecher der Linken. »Die Ukraine kann nicht gewinnen«, so Gysi. »Die russischen Streitkräfte werden auch unterschätzt.«

Es wäre interessant zu erfahren, ob Gysi ein paar Tage später noch immer derselben Auffassung ist. In den vergangenen Stunden konnte die ukrainische Armee jedenfalls erstaunliche Erfolge vermelden – die von russischer Seite sogar größtenteils bestätigt wurden. Dutzende Städte und Dörfer im Osten konnten zurückerobert werden. Russische Soldaten verließen zum Teil panisch die besetzten Gebiete. So fielen den ukrainischen Streitkräften sogar massenweise russische Waffen und Munition in die Hände.

Der Militärexperte John Spencer vom Modern War Institute in Westpoint schreibt auf Twitter von der größten Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg. Derweil lügt das russische Verteidigungsministerium die Flucht der eigenen Soldaten zur »Umgruppierung« um. Wladimir Putins »Spezialoperation« in der Ukraine scheint zu einem ganz speziellen Schuss ins Knie zu werden.

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Russlands Präsident Putin


Foto: ALEXEI KUDENKO/SPUTNIK/KREMLIN POOL / POOL / EPA

Die Frage ist nun, ob die ukrainische Gegenoffensive erfolgreich weitergeht. Und welche Rückwirkungen das Desaster auf dem Schlachtfeld auf die politischen Verhältnisse in Moskau hat. Für die Antwort auf die erste Frage wird auch entscheidend sein, wie die Ukraine fortan mit Waffen aus dem Westen ausgestattet wird. Und ob insbesondere Länder wie Deutschland ihre verknautschte Haltung zu Waffenlieferungen endlich in eine ernsthafte Unterstützung umwandeln.

Die Antwort auf die zweite Frage ist kniffliger. Manch ein politischer Beobachter bringt bereits den Idealfall ins Spiel: ein putinfreies Russland in absehbarer Zeit. Aber da niemand außerhalb des Kremls derzeit einschätzen kann, wie die Machtverhältnisse im Kreml tatsächlich sind, sind solche Hoffnungen vorerst nur eines: westliches Wunschdenken.

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

Endlich Charles!


Prinz Charles und Mutter Elizabeth (1998)

Prinz Charles und Mutter Elizabeth (1998)


Foto:

JOHN STILLWELL / POOL / EPA


Heute wird der neue britische König – Charles III. – den Sarg seiner Mutter in Edinburgh zur St.-Giles-Kathedrale zu Fuß begleiten. Dort werden er und seine Frau Camilla an einem Dankgottesdienst teilnehmen. Am Dienstag wird der Sarg nach London geflogen. Mehrere Tage lang werden sich die Bürgerinnen und Bürger des Landes dann im Buckingham Palace von ihrer Queen verabschieden können.

Mir persönlich geht der Spott über Charles’ Alter schon jetzt gehörig auf den Keks. Dass er 73 Jahre alt ist, sagt nichts über seine Fähigkeit aus, ein guter König zu sein. Es sagt auch nichts darüber aus, wie modern und zeitgemäß seine Regentschaft werden könnte. Im Gegenteil: Von seinem Sohn William (40 Jahre) habe ich bis heute keinen originellen Gedanken zum Zustand der Welt – oder wenigstens der britischen Gesellschaft – vernommen.

Charles hingegen sprach und engagierte sich bereits für Umweltschutz, Artenvielfalt, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, als das Gros der Menschheit diese Themen noch für Randphänomene hielt und engagierte Umweltschützer als Hippies verlachte.

Er war seiner Zeit lange voraus und befindet sich heute mindestens auf der Höhe der Zeit. Anders als seine Mutter, die sich aus der Politik strikt heraushielt und einen stockunpolitischen Eindruck machte, war Charles früh ein politischer Mensch. Ich halte das, gerade bei Königen, für keine falsche Eigenschaft.

Deshalb erschien es mir auch ziemlich unverschämt, als ich las, dass die nun verstorbene Queen ihrem Sohn zur Auflage gemacht haben soll, dass dieser allenfalls bis zu seinem 80. Lebensjahr im Amt bleiben und dann an dessen Sohn William übergeben solle. Wenn das stimmt, hätte sie von Charles jenes Zeichen der (zumindest optischen) Erneuerung verlangt, zu der sie selbst nie bereit war. Sie hätte ja selbst vor Jahren abdanken und ihrem Sohn einen jüngeren Start ins Königsdasein ermöglichen können.

Mehr britische Demokratie wagen!

Bei aller persönlichen Freude darüber, dass Charles nun endlich seine Chance erhält; ein Kommentar des proeuropäischen Aktivisten Peter Packham, den ich am Wochenende auf Twitter las , gab mir zu denken. Der Tweet ist ein schöner Beleg dafür, wie pointiert man große politische Widersprüche in nur wenigen Zeichen verdeutlichen kann.

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Frei übersetzt wies Packham auf folgenden Umstand hin: Großbritannien habe nun einen Staatschef, der durch Zufall, nämlich qua Geburt in Amt und Würden gelangte. Und eine Regierungschefin, die von 81.000 Leuten gewählt wurde. Aber Gott sei Dank habe man die ach so undemokratische EU verlassen!

Die neue Premierministerin Liz Truss war tatsächlich von 81.000 Mitgliedern der konservativen Tories zur neuen Parteichefin gewählt und dadurch quasi automatisch zur neuen Regierungschefin bestimmt worden – weil die Tories die letzten Parlamentswahlen für sich entschieden hatten. Damals allerdings noch mit Boris Johnson als Kandidaten für den Posten des Regierungschefs.


Premierministerin Truss

Premierministerin Truss


Foto: TOLGA AKMEN / EPA

Aber egal, ob die Briten eines Tages wieder mehr Demokratie wagen wollen oder aus anderen Gründen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Großbritannien die Phase der späten politischen Pubertät eines Tages überwinden und wieder Teil der Europäischen Union sein wird. Vielleicht wird auch der neue (nicht mehr ganz so unpolitische) König seinen Anteil an diesem Prozess haben.

Gewinner des Wochenendes…


Fankurve des FC Union Berlin am 8. September

Fankurve des FC Union Berlin am 8. September


Foto: Filip Singer / EPA

… ist der FC Union Berlin. Nach sechs Spieltagen befindet sich die Mannschaft von Trainer Urs Fischer auf Platz Eins der Fußball-Bundesliga, knapp vor dem finanziell ähnlich schmalbrüstigem SC Freiburg. Was beide Vereine pro Saison in ihren Kader investieren können, ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was die Krösusse der Liga für ihre Spieler und Trainer ausgeben: An erster Stelle der FC Bayern, gefolgt von Borussia Dortmund. Beide Vereine haben sich ihr Vermögen über Jahrzehnte immerhin ehrlich erarbeitet. Aber dann gibt es ja auch noch PR-Konstrukte wie das aus Leipzig, die schon mit goldenen Löffeln im Mund und dem alleinigen Ziel gegründet wurden, PR-Vehikel zu sein. Wie man so was, im Wissen um die Hintergründe, bejubeln kann, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Der Hinweis, dass es im Osten doch auch Bundesliga-Fußball geben müsse, erscheint mir in diesem Zusammenhang ein wenig unterkomplex.

Mir ist schon klar, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass die Tabelle nach 34 Spieltagen ähnlich aussehen wird wie nach dem sechsten Spieltag. Früher oder später werden die Millionen den Unterschied machen. Als hoffnungsloser Fußball-Traditionalist sage ich das mit größtem Bedauern. Aber ich freue mich über jeden einzelnen Spieltag, an dem Leidenschaft, Kreativität und Aufrichtigkeit die Gesetze des Marktes aushebeln.

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Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

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  • »Niemals wird auf meinem Stuhl ein Kommunist sitzen«: Brasilien steht vor der wichtigsten Wahl seit dem Ende der Militärdiktatur. Kann der alte Arbeiterführer Lula den Präsidenten Bolsonaro besiegen? Und würde der Rechtsextremist nach einer Niederlage putschen? 

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  • Der merkwürdige Münzenschwund in einem Trierer Museum: Tausende römische Münzen hat Hermann Weiler einst auf einem Acker gefunden und ans Museum übergeben. Mehr als 300 sind jetzt nicht mehr da. Weiler hakte beim Direktor nach – und ärgert sich über dessen Antwort .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Markus Feldenkirchen

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