Die Pirouetten des Friedrich M.
Vier Stunden sind heute angesetzt für die Generaldebatte im Bundestag über den Kanzleretat, somit auch über die Politik der Bundesregierung insgesamt. Kanzler Olaf Scholz (SPD) wird sprechen, Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) wird sich auf dessen Rede beziehen und dürfte vor allem auf das dritte Entlastungspaket abheben, das Scholz am Sonntag vorgestellt hat. Der Streit um die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke wird wohl ebenfalls Thema sein und natürlich auch die Hilfen für die Ukraine. In den Haushaltsberatungen danach werden weitere Einzeletats besprochen.
Was Merz wahrscheinlich sagen wird, wie er es wahrscheinlich sagen wird – davon konnte man am Sonntag eine Ahnung bekommen, beim Sommerinterview in der ARD nämlich.
Merz beim ARD-Sommerinterview
Foto: Christoph Soeder / dpa
Im Eiskunstlauf gibt es ja den Dreifach-Toeloop, einen kühnen Sprung mit erstaunlichen Drehungen und Wendungen. Merz beherrscht die rhetorische Entsprechung.
Am Sonntag sagte er erst, es verbiete sich in Zeiten der Krise für einen Oppositionsführer, nur zu kritisieren. Das war die Position, von der er absprang zu einem vergifteten Lob der Koalition (halbe Drehung): Er sagte, er freue sich, dass die Regierung im Entlastungspaket einige seiner Forderungen übernommen habe. Dann folgte eine Kritik-Kaskade am Entlastungspaket, also eine ganze Drehung, denn das war ja das Gegenteil dessen, was er vorangestellt hatte. Ihm fehle eine Antwort darauf, so sagte er, woher der Strom für die nächsten Monate kommen solle. Er sei zwar für eine Stilllegung der Atomkraftwerke (wieder eine halbe Drehung), aber eben nicht so bald (nächste halbe Drehung). Außerdem denke die Koalition bei ihren Entlastungen zu wenig an die Wirtschaft, vor allem die kleineren und mittleren Betriebe – neues Thema, neue Figur.
Gegen Ende des Interviews wurde deutlich, dass Merz schwerstens davon ausgeht, der nächste Kanzlerkandidat der Union zu sein, auch wenn er das so ganz noch nicht zugeben darf. Als die Sprache darauf kam, verströmte er eine heitere Selbstgewissheit. Sollte Merz heute ähnlicher Stimmung sein, wird Olaf Scholz schon mal die Bauchatmung trainieren können. Die entspannt und wäre eine gute Übung für 2025 – oder wann auch immer die nächste Bundestagswahl ansteht.
Putin spricht
Heute wird Kremlchef Wladimir Putin in der russischen Hafenstadt Wladiwostok eine Rede halten. Voraussichtlich wird er auch zur Lage in der Ukraine etwas sagen und zu den westlichen Sanktionen. Deswegen wird die Rede in aller Welt gespannt erwartet.
Das übergeordnete Thema lautet: »Auf dem Weg zu einer multipolaren Welt«. Den Zynismus gibt es inklusive. Schließt man aus früheren Äußerungen des russischen Präsidenten, wird er auch diesmal für eine solche Weltordnung werben. Seine Definition einer multipolaren Ordnung geht davon aus, dass der Westen bisher alles dominiere, es jetzt also an der Zeit sei, Macht auf verschiedene Länder zu verteilen, die Putin wiederum als Opfer des Westens sieht – auf Russland vor allem.
Putin (l.) am Dienstag in Wladiwostok bei einer Militärübung
Foto: Mikhail Klimentyev / dpa
Die logische Unschärfe ist offensichtlich.
Die Politologie sieht in der multipolaren Weltsicht eine ausgeglichene Verteilung der Macht, Voraussetzung sei, dass kein Staat den anderen dominiere, die Staaten müssen gleichberechtigt sein. Wie gleichberechtigt geht Russland mit der Ukraine um?
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
Das geschah in der Nacht: Kiew schießt eigenen Angaben zufolge fünf russische Marschflugkörper ab. Die USA berichten von einer Verzweiflungstat Putins. Die neue britische Premierministerin ruft zuerst Selenskyj an. Der Überblick.
-
»Wir benötigen mindestens zehnmal so viel, und zwar von allem«: Der ukrainische Waffenkoordinator Rustem Umerov verhandelt in Berlin über neue Waffenlieferungen. Der Selenskyj-Vertraute kritisiert die Zögerlichkeit der Bundesregierung – und fordert auch Kampfpanzer.
-
Putins »Bluthund« Ramsan Kadyrow will wohl doch nicht zurücktreten: Vor wenigen Tagen gab er bekannt, eine lange Pause einzulegen – nun will er nicht mal den Jahresurlaub nehmen: Tschetschenen-Führer Kadyrow wirft mit seinem Verhalten Fragen auf. Es ist nicht das erste Mal.
-
IAEA zeigt sich besorgt über Situation am Atomkraftwerk Saporischschja: Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation haben das von Russland besetzte Kraftwerk in der Südukraine inspiziert – jetzt ziehen sie Bilanz und verlangen schnelle Maßnahmen.
System-Sprenger: Zahl des Tages
Einmal im Jahr erscheint eine besondere Ausgabe des SPIEGEL, die einem einzigen Thema gewidmet ist. In der neuen Ausgabe »System-Sprenger« geht es um die jungen Erwachsenen und die Frage, wie sie durch die vielen Krisen dieser Zeit kommen. Das Heft soll zum Dialog zwischen Älteren und Jüngeren anregen. Die SPIEGEL-Abonnentinnen und Abonnenten haben die Ausgabe bereits bekommen, für andere Leserinnen und Leser liegt sie in den Apps und am Kiosk bereit.
Der SPIEGEL hat das Meinungsforschungsinstitut Civey um eine Umfrage unter 18- bis 29-Jährigen gebeten. Ich möchte Ihnen heute ein Ergebnis vorstellen, in den nächsten Tagen folgen weitere.
Unterschiedliche Meinungen in Freundschaften
Nur 33 Prozent der 18- bis 29-Jährigen stimmt der Aussage zu, gern mit jemandem befreundet zu sein, der politisch ganz andere Ansichten hat.
33 Prozent, das ist nicht viel. Ich kann zwar diejenigen verstehen, die es anstrengend finden, sich sogar in Freundschaften ständig auseinandersetzen zu müssen: das Impfen, Russlands Krieg in der Ukraine, die Energiekrise – es kommen ja immer neue Themen hinzu. Und dennoch wäre es doch (auch wenn das jetzt ein wenig großspurig klingt) der mindeste Beitrag zur Demokratie, andere Meinungen auszuhalten, auch und gerade in der Nähe.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: In welchem Bundesland wurde das erste Umweltministerium in Deutschland eingeführt?
Gewinner des Tages…
… ist Udo Lindenberg. Wenn die Bürgerschaft zustimmt, wird er an diesem Mittwoch mit der Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg ausgezeichnet. Überraschend daran ist, dass er noch gar kein Ehrenbürger dort ist. Braucht es in dieser Stadt erst einen Laborarzt, um auf die naheliegendste Idee zu kommen?
Sänger Lindenberg vor der Hamburger Elbphilharmonie
Foto: Georg Wendt/ picture alliance/dpa
So jedenfalls war es: SPD-Mann Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister (und Mediziner), schlug Lindenberg vor, als dieser im Mai vergangenen Jahres 75 Jahre alt, es somit wirklich Zeit wurde. Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) zeigte sich erfreut, auch die Opposition war angetan, nur die AfD war es nicht, aber auch das wird Lindenberg eine Ehre sein.
Sein legendäres Album »Bunte Republik Deutschland« zielt politisch in eine ganz andere Richtung als die AfD es tut. Er heißt darauf alle Nationen der Welt in seiner und in allen anderen deutschen Städten willkommen und singt (zwar nicht ganz sauber im Versmaß, aber reinen Herzens): »Wir steh’n am Bahnsteig und begrüßen jeden Zug / Denn graue deutsche Mäuse, die haben wir schon genug«.
Lindenberg wird schon wissen, was es mit so einer Ehrenbürgerwürde auf sich hat. Dafür spricht jedenfalls dieses überlieferte Zitat: »Und wenn die Politiker nicht weiterkommen, muss hier (zeigt auf sich selbst) die Nachtigall wieder helfen. Der ganze Wahnsinn muss ja mal aufhören, die Welt ist el fatalo.«
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Dokumente aus Trump-Razzia sollen ausländische Atomwaffengeheimnisse enthalten: In den beschlagnahmten Unterlagen aus Donald Trumps Privathaus befinden sich laut »Washington Post« hochsensible Informationen über die Streitkräfte eines anderen Landes – inklusive dessen Nuklearwaffen.
-
iPhones ohne Ladekabel verkauft – Millionenstrafe für Apple in Brasilien: Heute soll das neue iPhone vorgestellt werden, da kann Apple negative Schlagzeilen kaum gebrauchen. Doch in Brasilien hat der Konzern nun juristischen Ärger.
-
Chiles Präsident wirft Kabinett durcheinander: Die neue Verfassung war vom Volk rundheraus abgelehnt worden. Nun reagiert Chiles Präsident Gabriel Boric: Zahlreiche Ministerinnen und Minister müssen ihre Posten räumen.
__proto_kicker__
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Der Trick zum Steuersparen wie die Superreichen: Unternehmerin Christine Kiefer bietet mit ihrem Start-up Ride Capital, was sonst nur der Geldadel kann: Firmen nur zum Steuersparen. Zu ihren Investoren zählen Techpromis – und der Fußballer Mario Götze .
-
Mein Yoga, dein Yoga: Kulturelle Aneignung? Wer indische Wurzeln hat, muss einiges aushalten. Warum ich mich trotzdem nicht über Nasenringe, Karmagläser und bunte Stirnpunkte aufregen kann .
-
»Grund für meine Bewerbung ist der Stoll Rübenroder V202«: Traktor fahren, Kühe melken, Gemüse ernten: Ich habe Landwirt gelernt, auf Bauernhöfen gearbeitet. Nun bin ich SPIEGEL-Redakteur. Und kann es manchmal selbst kaum glauben .
-
Was Orientierungssinn mit der eigenen Identität zu tun hat: Unsere Autorin hielt ihren Orientierungssinn für ziemlich solide. Bis sie nach Venedig zurückkehrte und alte Routen ablief. Plötzlich fragte sie sich: Warum ist es mir so wichtig, zu wissen, wo ich bin?
-
Ein Film wie eine französische Zigarettenwerbung: Bretonische Felsen, festlich gedeckte Tafeln, palavernde junge Leute: In seinem neuen Werk huldigt Regisseur Cédric Klapisch der Liebe, der Liebesnot – und den Wonnen des Weiterwurstelns .
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer