Klausur, wohin man blickt
Es ist jetzt so weit, ich bin dabei, den Überblick zu verlieren. Gestern ist die Kabinettsklausur in Meseberg zu Ende gegangen, heute stehen dafür gefühlt zehn neue Klausuren im politischen Terminkalender. In Murnau tagt der geschäftsführende Vorstand der Unionsfraktion, wobei es heute erst mal auf die Zugspitze geht (man will ja, die Symbolik ist eher wenig subtil, hoch hinaus). In Potsdam kommt die Linken-Bundestagsfraktion zusammen, in Dresden die SPD-Fraktion, in Bremen tagt seit gestern die FDP-Fraktion. Und die Klausurtagung der Grünenfraktion, die schon mehrere Tage gelaufen ist, ohne dass sie hier Erwähnung gefunden hätte, geht heute zu Ende, ebenfalls in Potsdam. Gut, das waren nicht ganz zehn, trotzdem könnte, wenn nicht alles täuscht, demnächst ein Mangel an Tagungshotels drohen.
Für uns Journalisten geht von diesen Klausuren immer ein seltsamer Reiz aus. Das liegt daran, dass sie, wie der Name schon sagt, hinter verschlossenen Türen stattfinden und wir berufsmäßig grundsätzlich wissen wollen, was hinter verschlossenen Türen passiert. Das führt dann dazu, dass wir hinterher (oder zwischendurch, per SMS zum Beispiel) die Leute befragen, die drinnen sitzen, wie es denn so gewesen ist, wer sich mit wem und vor allem worüber gezankt hat. Die Chefs von Parteien und Fraktionen mögen das naturgemäß nicht so gern, weil sie erstens wollen, dass die Sachen vertraulich bleiben und weil es meist nicht die vorteilhaftesten Dinge sind, die am Ende nach außen dringen. Ich kann mich noch gut an eine Klausur erinnern, bei der die Chefs es deshalb mal ganz anders machen wollten.
Hat auch zur Klausur geladen: Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef
Foto:
Kay Nietfeld / dpa
Das war Anfang 2019, in Osnabrück kamen die SPD-Bundestagsabgeordneten aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zusammen. Das allein klingt schon langweilig genug. Aber die Vorsitzenden dieser beiden Landesgruppen wollten uns Reportern unbedingt demonstrieren, dass es bei einer Klausur noch viel langweiliger zugehe, dass alles also sehr viel unaufregender sei, als wir uns das draußen vor dem Saal immer so vorstellen. Also durften wir drinnen im Saal dabei sein – womit es faktisch keine Klausur mehr war, sondern eher ein öffentliches Sit-in. Und langweilig war es auch nicht.
Das lag an Sigmar Gabriel, der damals schon kein Amt mehr hatte, aber immer noch einiges zu sagen, jedenfalls fand er das (ich glaube, er findet das immer noch). Es ging um den Kohleausstieg, Gabriel rauschte mit dem Umweltpolitiker Matthias Miersch zusammen, es knallte ein bisschen – und wir konnten alles in Ruhe mitschreiben, ohne uns hinterher die Zitate mühsam zusammentelefonieren zu müssen. Es war entspanntes Arbeiten, zumindest für uns. Meines Wissens haben sie das Experiment bei der SPD später nicht mehr wiederholt. Und ich weiß seitdem, dass irgendwas Interessantes bei diesen Klausuren immer passiert, selbst an Orten wie Osnabrück. Ich bin gespannt, was meine Kollegen aus Dresden, Bremen, Potsdam und Murnau zu berichten haben.
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Ampelkoalition in der Krise: Das Verschiebebündnis
Ein Fluss ist auferstanden
Ich fand schon immer, dass Castrop-Rauxel ein besonders schöner Ortsname ist. Irgendwie klang er für mich immer nach Provinz, nach dem Ruhrgebiet schlechthin, also nach Heimat, aus dem Ruhrgebiet komme ich nämlich auch. Heute wird der Bundeskanzler in Castrop-Rauxel erwartet, das hat man dort auch nicht alle Tage. Gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst nimmt Olaf Scholz an einem Festakt zum Abschluss des Emscher-Umbaus teil, so steht es im Terminkalender. Dahinter steht eine schöne Geschichte.
Die Emscher war mal die Kloake des Ruhrgebiets. Ein Fluss, degeneriert zum Abwasserkanal eines Ballungsraums, eingezwängt in ein Betonbett. In Oberhausen, meiner Heimatstadt, fließt die Emscher am Fußballstadion vorbei, wo ich mich früher hin und wieder aufgehalten habe, gern in der sogenannten Emscherkurve. Ich weiß noch sehr genau, wie die Emscher roch, vor allem wenn der Wind ungünstig stand. Niemand sollte so etwas riechen müssen. Als Kinder machten wir Witze darüber, dass jemand, der stank, wohl in die Emscher gefallen sein müsse.
Die Emscher bei Castrop-Rauxel
Foto: IMAGO/Hans Blossey
Das ist vorbei, heutige Ruhrgebietskinder würden den Witz gar nicht mehr verstehen. Es war ein Projekt von drei Jahrzehnten, die Emscher zu renaturieren, doch allmählich kam der Fluss von einst wieder zum Vorschein. Anfang des Jahres las ich die Meldung, dass die Emscher nun endlich abwasserfrei sei. Und heute kommt der Kanzler. Die Kloake ist jetzt wieder ein Fluss, und drumherum sind noch 130 Kilometer Radweg entstanden.
Mehr als fünfeinhalb Milliarden Euro hat die Emschergenossenschaft dafür investiert, und ich finde, jeder Euro ist gut angelegt. Nicht nur, weil die Menschen im Ruhrgebiet ihren Fluss wiederhaben. Sondern weil diese Geschichte mir persönlich Hoffnung macht in einer Zeit, in der wir immer mehr Natur immer schneller zerstören und in der ich mir häufig die Frage stelle, ob eigentlich jemals annähernd repariert werden kann, was gerade so rasend schnell kaputtgeht. Nennen Sie mich naiv, aber die Geschichte der Emscher zeigt, dass Menschen umdenken können, dass Natur sich erholen kann. Es braucht den Willen, es braucht Geld, und es braucht viel Zeit. Aber es geht. Wenn ich das nächste Mal in Oberhausen bin, werde ich mit meinen Kindern mal an die Emscher gehen. Die Geschichte gefällt ihnen vielleicht auch.
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Wasserbau: Fluss des Grauens
Ja, es ist Krieg
Durch Nord Stream 1 fließt mal wieder nichts. Diesmal soll es nur ein paar Tage dauern, bis wieder Gas durch die Pipeline strömt, aber mir geht es hier ausnahmsweise gar nicht um die Frage, was das für den Herbst und Winter bedeuten könnte (offenbar nicht viel). Ich will auf etwas anderes hinaus.
Ich stelle fest, dass es der Krieg in der Ukraine immer schwerer hat, in mein Bewusstsein zu dringen. Natürlich habe ich präsent, dass dort gekämpft, gelitten, gestorben wird, dass ein Land in Trümmern liegt, dass die Menschen dort durch unermessliches Leid gehen. Ich lese viel dazu, ich sehe und höre Nachrichten, und doch merke ich an manchen Tagen, dass ich innerlich erst so richtig aufhorche, wenn es um uns geht, um unsere Gasversorgung, um die Inflation, die Schwierigkeiten der Wirtschaft. Wenn wir hier betroffen sind – auf eine so viel mildere Weise, als es die Menschen in der Ukraine sind. Das ist das Gift der Gewöhnung. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich merke, dass es auch bei mir wirkt.
Sie sieht Krieg aus: Irpin, im März
Foto: Aris Messinis / AFP
Je länger dieser Krieg dauert, desto stärker ist er in unseren Hirnen als Normalität verankert und damit unterbewusst eingepreist, akzeptiert, so schrecklich und unpassend das klingt. Dabei sind die Dinge, die in der Ukraine geschehen, über die meine Kolleginnen und Kollegen täglich berichten, fürchterlich, unvorstellbar, sie widersprechen jeder Vorstellung von Menschlichkeit. Und die meisten von uns hätten es zu Beginn dieses Jahres nicht für möglich gehalten, dass solche Dinge in Europa geschehen könnte. Das muss der innere Maßstab sein, mit dem wir auf diesen Krieg blicken, er darf sich nicht verschieben. Wir sollten uns deshalb heute daran erinnern, dass dieser Krieg nun schon sechs Monate, eine Woche und einen Tag dauert. Man darf sich niemals an ihn gewöhnen.
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Deutsche Technik für die Ukraine: Operation Biber
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Das geschah in der Nacht: Vor der kalten Jahreszeit drängt Kiew zu Evakuierungen in umkämpfen Gebieten. Die USA beobachten Personalmangel bei den Russen – und setzen den Luxusjet einer Energiefirma fest. Der Überblick.
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Ukraine soll Russland mit Holzattrappen reingelegt haben: Mit Nachbildungen militärischen Geräts hat die Ukraine russische Soldaten offenbar getäuscht und zum unnötigen Abschuss von teuren Lenkflugkörpern verleitet. Die Technik hat Tradition im Militärwesen.
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So will Habeck Trittbrettfahrer bei der Gasumlage loswerden: Verbraucher sollen mit einer Umlage für die hohen Beschaffungskosten der Gaskonzerne zahlen. Mit einer neuen Regel will Wirtschaftsminister Habeck nun verhindern, dass auch jene profitieren, die es gar nicht nötig haben.
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Steinmeier wirft russisch-orthodoxer Kirche »blasphemischen Irrweg« vor: Der Bundespräsident kritisiert die Position der russisch-orthodoxen Kirche zum Ukrainekrieg scharf – verbunden mit einem Appell an alle Christen.
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Die Startfrage heute: Wo fand das Dschungelcamp 2022 statt?
Gewinnerinnen und Gewinner des Tages …
… sind die Einwohnerinnen und Einwohner der kanadischen Provinz Québec. Ich weiß, ich hatte versprochen, meine Reise nach Kanada an dieser Stelle nicht mehr zu erwähnen. Aber auf meine gestrige Beschwerde über die Länge kanadischer Pressekonferenzen hin hat sich ein Leser aus – genau – Québec gemeldet, auch dort werden wir gelesen (worüber ich mich sehr freue). Er fand meine Beschwerde etwas unpassend, und ich muss sagen, ich sehe seinen Punkt.
Für Leserinnen und Leser, die gestern mal kurz abwesend waren: Mir dauerten die Pressekonferenzen des kanadischen Premiers Justin Trudeau in der vergangenen Woche etwas zu lang, weil er seine englischen Sätze immer noch mal auf Französisch wiederholen musste. Unser Leser in Québec, wo die Mehrheit der Menschen Französisch spricht, meint nun, dies könne man als »Québec-Bashing« verstehen. »Ich denke, Sie sollten vorsichtiger sein, wenn Sie eine der beiden Amtssprachen Kanadas wegwerfen, als ob sie weniger wichtig wäre«, schreibt er.
Kann man gut zuhören: Justin Trudeau
Foto: GIOVANNI ISOLINO/ AFP
Dazu möchte ich festhalten: Wenig liegt mir ferner. Französisch ist eine wundervolle Sprache. Ich liebe sie und spreche sie leider nicht so gut, wie ich gern würde – aber jeder und jede, der oder die das Glück hatte, sie als Muttersprache zu lernen, ist für mich ein Gewinner, eine Gewinnerin. Ich hätte Justin Trudeau auf Französisch noch stundenlang zugehört, nur das Englisch hätte er sich meinetwegen sparen können. Und nach Québec möchte ich in jedem Fall noch mal in Ruhe reisen, Montreal hat mir sehr gefallen.
Lieber Leser, Entschuldigung angenommen? Dann wäre ich dankbar für Tipps vor meinem nächsten Besuch.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann