Klassenkeile
Heute beginnt die Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg, Olaf Scholz und seine Ministerinnen und Minister beraten bis Mittwoch über das, was so ansteht, und das ist ja offensichtlich nicht ganz wenig. Mindestens ein Minister dürfte dem Termin mit eher gemischten Gefühlen entgegensehen, obwohl er bislang eine Art Star in der Regierungsmannschaft war (und es ja irgendwie auch immer noch ist, zumindest wenn man ihn selbst fragen würde). Die Rede ist von Robert Habeck.
Denn in Meseberg wird es wohl auch um die Gasumlage gehen, die auf Habecks Konto geht und deren Konstruktions- und Denkfehler mittlerweile derart offensichtlich sind, dass man sich fragt, wie sich eigentlich jemals jemand so was ausdenken konnte. Das ist ja häufig so in der Politik: dass unter großem Zeit- und Handlungsdruck etwas entsteht, wovon dann hinterher, mit ein paar Tagen oder Wochen Abstand, alle ganz genau erklären können, was für ein Murks das war. (Im Journalismus ist das übrigens nicht so viel anders. Und wenn Sie jetzt finden, dass dieser Text hier derart unterirdisch ist, dass er nie hätte erschienen dürfen, dann bedenken Sie doch bitte, dass ich damit erst so richtig anfangen konnte, als die Kinder im Bett waren und der Geschirrspüler lief.)
Momentan besser mit Schutzhelm: Robert Habeck
Foto: INA FASSBENDER / AFP
Ich gebe zu, mir war es in den letzten Monaten ein bisschen viel Habeck-Verehrung, wenn ich Zeitungen las und den Fernseher anmachte. Aber die Häme und Kritik, die jetzt wegen der Gasumlage auf ihn einprasselt, die ist mir in die andere Richtung zu viel. Zumal ein guter Teil von der SPD kommt. Die stellt zwar bekanntermaßen den Kanzler, tut jetzt aber so, als hätte sie mit der ganzen Sache nichts zu tun. Dass ein Wirtschaftsminister einfach so durchregieren und gegen den Widerstand des größten Koalitionspartners Dinge durchsetzen könnte, wäre mir als politisches Prinzip allerdings eher neu. Aber gut, immerhin habe ich jetzt wieder auf dem Schirm, dass es einen SPD-Vorsitzenden namens Klingbeil gibt. Das war mir, bis Klingbeil sich jetzt zu Habeck und zur Gasumlage äußerte, zwischenzeitlich mal entfallen.
Vielleicht ist das alles aber auch nur sehr menschlich. Ich glaube, in der SPD gibt es gerade eine Menge Angst: vor dem Herbst, dem Winter, der Landtagswahl in Niedersachsen und eben auch vor Habeck, der nach Meinung der meisten Sozialdemokraten etwas zu beliebt ist. In der vergangenen Woche war ich ja mit ihm und Scholz in Kanada unterwegs. Und wenn Habeck bei den gemeinsamen Hintergrundgesprächen zu einem seiner energiepolitischen Proseminare ansetzte, dann konnte man im Gesicht von manchen Scholz-Leuten die Stirnfalten langsam tiefer werden sehen. Es sah nicht immer freundlich aus.
Natürlich tut es ganz gut, wenn so ein Klassenstreber, dem sonst alles gelingt, auch mal in Schwierigkeiten gerät. Insofern kann man schon verstehen, dass sie bei der SPD gerade ihre Freude kaum verbergen können. Das ist im Kabinett nicht anders als früher in der Schule. Besonders souverän wirkt es trotzdem nicht. Eigentlich wirkt es sogar ziemlich klein.
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Geschichten aus der Zweiten Klasse
Noch heute und morgen, dann ist alles schon wieder vorbei. Dann endet das 9-Euro-Ticket, drei Monate, in denen viele Deutsche Bus und Bahn noch mal ganz neu kennengelernt haben (womöglich besser, als ihnen lieb gewesen wäre). Die Idee hat auch im Ausland Aufsehen erregt. Kürzlich etwa las ich sogar in einer Lokalzeitung in der Bretagne, die sich sonst hauptsächlich den am Wochenende anstehenden Festlichkeiten widmet (wobei das tagelang groß angekündigte Langustinen-Fest, ich muss es leider sagen, eine echte Enttäuschung war), in einem Artikel etwas über diese nachahmenswerte Idee aus Deutschland.
Was kommt nun danach, was folgt auf das 9-Euro-Ticket? Das wird in der Politik rauf und runter diskutiert, und ich kann nur sagen: Ich hoffe, es kommt was.
Dabei habe ich mich über das 9-Euro-Ticket, ich muss es zugeben, regelmäßig auch geärgert, zuletzt am vergangenen Wochenende. Da fuhr ich raus nach Brandenburg, am Sonntag, zu einer Zeit, von der ich dachte, das ginge schon in Ordnung, weil die meisten anderen Leute da noch schlafen würden. War aber nicht so. Schon auf dem Bahnsteig war es voll, und als wir unsere Fahrräder ins Fahrradabteil stellen wollten, mussten wir mal wieder Tetris spielen – Sie erinnern sich, das war dieses Videospiel, bei dem man möglichst geschickt geometrische Figuren aufeinander stapeln musste.
Eins geht immer noch rein
Foto: Arne Dedert/ picture-alliance/ dpa
Es ging dann irgendwie, weil es ja am Ende immer irgendwie geht, aber genervt hat es trotzdem, weil natürlich die Person, deren Fahrrad an der Wand stand, als erste rausmusste. Aber schon kurz nach dem Aussteigen hatte ich wieder klar, dass es natürlich etwas albern ist, sich über so was zu ärgern. Natürlich könnte die Bahn mehr und längere Züge einsetzen, mehr Fahrradabteile wären auch nicht schlecht. Aber vielleicht kommt ja jetzt was in Gang.
Vor allem aber habe ich in den letzten Wochen festgestellt, dass es beim 9-Euro-Ticket nicht nur um Fahrten ins Umland oder nach Sylt geht, sondern dass es noch eine andere Funktion erfüllt. Es wird ja, seit viele Leute lieber Netflix als ZDF schauen, der Verlust des sogenannten Lagerfeuers beklagt, also kollektiver Fernsehereignisse wie »Wetten, dass..?«, über die am Montag noch im Betrieb geredet wurde. Ich glaube, das 9-Euro-Ticket hat da Potenzial.
Zumindest habe ich in den letzten Wochen viele Geschichten von Freunden und Bekannten gehört, die sie in vollen Zügen erlebt haben. Es gab plötzlich, neben Wohnungssuche (in Berlin immer ein Thema), Job und den Zuständen in Schule oder Kita (in Berlin noch häufiger ein Thema) ein ganz neues Feld an potenziellem Gesprächsstoff. Ein Freund zum Beispiel erzählte, wie er zwischen Hamburg und Berlin… obwohl, ich habe ihn nicht um Erlaubnis gefragt, deshalb muss ich an der Stelle diskret bleiben. Jedenfalls werden mir die Geschichten fehlen. Ich hoffe, es gibt bald neue zu erzählen.
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Zwölf Jahre Anlauf
In diesen Tagen wird oft an 1972 erinnert, an Olympia in München, und zu Recht geht es in den Rückblicken um das fürchterliche Attentat und seine Folgen. Die Opfer dürfen nie vergessen werden. Deshalb ist es gut, dass nun, 50 Jahre später, wieder an sie erinnert wird. Auch für diejenigen, die damals, wie ich, noch nicht geboren waren, die diese Tragödie nicht miterlebt haben.
Doch bei aller Trauer, allem Schmerz hat Olympia 1972 auch andere Geschichten hervorgebracht, große sportliche Momente. Eine dieser Geschichten hat mich schon immer besonders fasziniert, deshalb habe ich mich gefreut, dass mein Kollege Peter Ahrens sie jetzt noch einmal erzählt hat.
Ulrike Meyfarth 1972 in München
Foto: AP
Es geht um Ulrike Meyfarth, so hieß sie damals noch, die mit 16 Jahren Olympiasiegerin wurde – und die diesen Erfolg 12 Jahre später wiederholte, in Los Angeles 1984. Dazwischen lag alles, was in so ein Sportlerleben reinpasst: tiefer Fall und Wiederaufstieg, Niederlagen, Überforderung, und am Ende stand das große Happy End. Ich fand es schon immer beeindruckend, dass Ulrike Nasse-Meyfahrth, wie sie seit Langem heißt, nach der ersten Goldmedaille und den ersten Rückschlägen nicht einfach aufgehört hat – schließlich geht für eine Leichtathletin nichts über einen Olympiasieg. Sie machte weiter, bis sie die zweite Goldmedaille hatte. Ich glaube, man kann von ihr eine Menge lernen.
»Die Goldmedaillen hängen im Wohnzimmer im Bücherregal hinter Glas, der Trainingsanzug von 1972 ist ans Haus der Geschichte in Bonn verliehen, Ulrike Meyfarth ist seit dem 4. September 1972 eine Person der Zeitgeschichte«, schreibt mein Kollege.
Das stimmt natürlich. Aber so richtig unsterblich ist sie erst seit 1984.
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Verlierer des Tages…
Foto: Christoph Hardt / Future Image / IMAGO
… ist der Deutsche Wetterdienst, dessen »Sommerbilanz« die Deutsche Presse-Agentur für heute angekündigt hat. Früher wäre das ein Anlass gewesen, um noch mal mit Lust zu meckern: über verregnete Freibadtage, zu wenig Sonne und überhaupt darüber, dass die Sommer früher einfach besser waren. Zum Beispiel erinnere ich mich an ein Zeltlager mit der Kirchenjugend, in dem es an einem Ort namens Stangenroth drei Wochen quasi durchgeregnet hat (woran, wie Rudi Carrell wusste, zumindest damals noch die SPD schuld war und nicht Robert Habeck, aber das ist ein anderes Thema) – was dazu führte, dass unsere Koffer beim Auspacken zuhause eher interessant rochen. Wetter war früher (wenn man nicht gerade Landwirt war) eine Nebensache, über die man unverfänglich plaudern konnte. Heute ist Wetter Drama. Es macht es Angst vor dem, was da noch kommt.
In der Sommerbilanz dürfte es um zu hohe Temperaturen und zu wenig Regen gehen, um Hitze und Dürre, also all das, was die Klimakrise in den vergangenen Wochen mal wieder spür- und fassbar gemacht hat. Auch für jene, die noch immer gern behaupten, es gäbe sie eigentlich nicht. Der Deutsche Wetterdienst hat dadurch natürlich einerseits an Relevanz gewonnen, doch glücklich darüber dürfte dort niemand sein. Ich jedenfalls würde gern wieder so übers Wetter reden wie früher. Leider wird das erst mal nicht mehr gehen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann