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News des Tages: Olaf Scholz, Winnetou, Sanna Marin

1. Wo liegt Neufundland?

Im Örtchen Stephenville an der Westküste von Neufundland leben 6623 Menschen. Dort gibt es ein kleines Folkfestival, ein kleines Theaterfestival und ein frisch renoviertes Kino. Es gibt sogar einen kleinen Flugplatz, der hohen Staatsbesuch möglich macht. Deshalb werden in Stephenville der kanadische Premierminister sowie der deutsche Kanzler und sein Vize ein Abkommen für den Transport von Wasserstoff zwischen Deutschland und Kanada unterzeichnen.

Wasserstoff wird, wie heute jeder BASF-Vorstandsvorsitzende weiß, mit enormem Aufwand von Energie per Elektrolyse aus Wasser hergestellt. Wenn man das umweltfreundlich machen will, braucht man enorm viel Wind. Und der weht auf Neufundland tagaus, tagein. Daher diese Insel, die Flugreisende in die USA nur aus dem Fenster kennen (»Endlich Land!«). Daher Stephenville, wo’s neben dem Flughafen auch einen Naturhafen gibt, der sich mittelfristig für Transportzwecke umbauen lässt. Auch für flüssiges Erdgas, ganz gleich, ob es aus Schiefersand destilliert oder aus der Erde herausgefrackt wird. Hauptsache: nicht Russland .

Zwar ist Kanada das zweitgrößte Flächenland der Erde, eine lupenreine Demokratie mit Justin Trudeau als attraktivem Posterboypremier. So ganz rumpelfrei verläuft die Reise von Olaf Scholz und Robert Habeck allerdings nicht. Im Raum steht (beziehungsweise in der Luft hängt) noch immer das umstrittene Freihandelsabkommen »Ceta«. Überdies gibt es Kommunikationsprobleme dergestalt, dass im deutschen Regierungsflieger, anders als in jedem Urlaubsflieger, die Maskenpflicht offenbar aufgehoben war.

Problematisieren könnte man auch, warum Scholz und Habeck überhaupt den Flieger nehmen mussten. Streng genommen hätten sich die beiden fitten Männer auch mit Schneeschuhen und Kajak in knapp zwei Tagen durch die Wildnis zum Inselchen Miquelon vor der Südküste von Neufundland durchschlagen können – die gehört bereits zu Frankreich.

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2. Wer hat das Kulturkriegsbeil ausgegraben?

Als ursprüngliche Einwohner von Neufundland gelten übrigens nicht die Kanadier, Wikinger, Sozialdemokraten oder Grünen, auch nicht Verfahrenstechniker mit Diplom in Elektrolyse, sondern die Mi’kmaq. Von diesem Stamm hat nicht einmal der (in seinem eigenen Kopf) weit gereiste deutsche Bestsellerautor Karl May jemals etwas gehört – und sich lieber auf die populären Apatschen konzentriert. Sowohl »Mi’kmaq« als auch »Apatschen« sind koloniale Verballhornungen, womit wir beim derzeit wichtigsten Kulturthema des Tages wären.

»Der junge Häuptling Winnetou« läuft seit dem 11. August unbeanstandet in den Kinos, eine »Goldene Palme« wird er vermutlich nicht gewinnen. Die Filmbewertungsstelle (FBW), eine Einrichtung mit Behördenstatus, hat den Kinderfilm als »pädagogisch besonders wertvoll« bezeichnet. Zwei begleitende Kinderbücher aber hat nun der Verlag Ravensburger aus dem Programm genommen, wobei eines der beiden Bücher vor allem aus Puzzles und Stickern besteht.

Jetzt ist, wie meine Großmutter selig immer sagte, »das Geschrei wieder groß« . Einerseits darüber, dass Klischees über Ureinwohner auch 2022 überhaupt noch in Umlauf kommen können. Andererseits – und bedeutend lauter, da medial reaktionärerseits orchestriert – darüber, dass der Verlag vor der Kritik »aus dem Netz« eingeknickt ist. »Uns hat’s auch nicht geschadet!«, hätte meine Großmutter gesagt.

Bei Ravensburger war man »zu der Überzeugung gelangt, dass angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet wird«. Was man auch vorher hätte wissen können. Wusste man offensichtlich aber nicht.

Es handelt sich bei dieser Debatte also um ein weiteres Scharmützelchen im identitätspolitischen Großkonflikt unserer Tage (Moral vs. »Das war schon immer so!«). Gewonnen hat es diesmal wieder die vergleichsweise winzige Fraktion mit dem Mandat zum Aufspüren und Anprangern rassistischer Stereotype.

Das ist der Fortschritt, wir wollen ihn preisen. Hugh!

3. Warum darf Sanna Marin nicht tanzen?

Finnlands Premierministerin Sanna Marin ist noch keine 40 Jahre alt – und tut noch nicht mal so, als sei sie eine dieser dauerüberarbeiteten und freizeitlosen Erwachsenen, die überall sonst auf der Welt Regierungsgeschäfte führen. Die 36-Jährige besucht Festivals, feiert in Discos mit lokalen Stars oder tanzt durchs Wohnzimmer von und mit Freunden. Seitdem ein Partyvideo der ausgelassen feiernden Marin geleakt wurde, fragen sich nicht nur die Finnen: Darf die das?  Vernachlässigt sie ihr Amt? Spekulationen über möglichen Drogenkonsum machten die Runde.

Heute nun hat Marin das Ergebnis eines Drogentest präsentiert – es ist negativ.

Eine Frage aber bleibt: »Wieso reizt eine fröhlich tanzende Politikerin die Öffentlichkeit?« Anna Reimann aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro hat sie dem Philosophen Philipp Hübl gestellt. Er antwortet: »Moral wird als Waffe im Statuskampf verwendet.« 

Sanna Marin stehe in verschiedenen Status-Kategorien sehr weit oben: Sie mache erfolgreiche Politik, sei jung, gebildet und attraktiv. Da bleibe dem politischen Gegner – in diesem Fall konservativen oder rechten Kreisen – nicht viel anderes, als sie wenigstens in moralischen Fragen als fragwürdig darzustellen.

Die Art der Angriffe funktionierten in der Welt der sozialen Medien extrem gut. »Bei Fragen der Alltagsmoral kann jeder mitreden, man braucht – anders, als wenn es um inhaltliche Debatten über Steuern oder Energiepolitik geht – kein Fachwissen«, so Hübl. Nach ähnlichem Muster funktionierte auch die Empörung über Christian Lindners Edelhochzeit auf Sylt.

»Wir ersetzen komplexe Fragen gerne durch einfache«, meint Hübl, etwa bei der Beurteilung von Politikern. Wenn man die Menschen frage »Halten Sie Habeck für einen guten Wirtschaftsminister?« – dann werden die Antworten eher selten mit seinen politischen Positionen begründet, sondern mit Äußerlichkeiten, etwa seiner Art zu sprechen oder aufzutreten (mehr über Habecks Kommunikationsstil lesen Sie in der aktuellen SPIEGEL-Titelstory ).

Finnlands Nachbarland Russland führt einen brutalen Angriffskrieg, die Coronapandemie ist nicht zu Ende, den Bürgern drohen wirtschaftlich harte Zeiten. Dennoch wäre es »absurd zu fordern, dass eine Politikerin wegen eines Krieges auf ihr Privatleben verzichten muss«, so Hübl. »Das macht keiner von uns, wir alle leben im Wissen um diesen fürchterlichen Krieg.«

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Twitter löscht Video von mutmaßlicher Vergewaltigung: Die Rechtsaußen-Spitzenkandidatin Giorgia Meloni hat ein Video verbreitet, das einen Übergriff auf eine Ukrainerin zeigen soll. Damit wollte sie wohl ihren Wahlkampf ankurbeln, doch Twitter sperrte das Video.

  • Koalition geht bei neuen Coronaregeln auf Bedenken der Länder ein: Ende September laufen die aktuellen Pandemiebeschränkungen aus. Der Streit über den Entwurf der Ampelkoalition für eine Anschlussregelung soll nach SPIEGEL-Informationen nun entschärft worden sein – jedenfalls zum Teil.

  • Frau soll mit »schwertähnlichem Gegenstand« mehrere Menschen verletzt haben: Die mutmaßliche Täterin wurde festgenommen: Im Zentrum von Weiden in der Oberpfalz hat eine Frau offenbar Menschen angegriffen. Es gibt mindestens drei Verletzte.

  • Polen meldet 282 illegale Abwasserleitungen: Die polnische Wasserbehörde hat nach dem massenhaften Fund toter Fische zahlreiche nicht genehmigte Abwasserleitungen aufgespürt, die in die Oder führen. Die Polizei ermittelt in Dutzenden Fällen.

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Scholz verspricht Hilfe, »solange die Ukraine sie braucht«: Waffen liefern, finanziell helfen, Russlandsanktionen beibehalten: Der Kanzler sichert der Ukraine weitere Unterstützung zu. Präsident Selenskyj bekräftigt den Anspruch auf die Krim – und beklagt jahrelange Ignoranz.

  • Die Trümmerparade: Die Ukraine stellt in Kiew kaputte russische Panzer aus – eine Demonstration des eigenen Erfolgs im Krieg gegen Putins Truppen. Und trotzdem ist die Sorge vor neuen Angriffen groß, gerade zum bevorstehenden Unabhängigkeitstag.

  • Tausenden Ukrainern droht Ende von privater Unterkunft bei Briten: Viele Europäer nahmen Geflüchtete aus der Ukraine in ihrem Zuhause auf. In Großbritannien könnten den Familien bald die Mittel fehlen, um den Menschen weiter Obdach zu bieten.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Wie Trittbrettfahrer von der Gasumlage profitieren wollen: Mit einer Umlage sollen Gasverbraucher pleitebedrohte Importeure retten. Doch nun haben mehrere Konzerne Gelder beantragt, obwohl sie von hohen Energiepreisen profitieren. Müssen die Regeln wieder geändert werden? 

  • Justizaffäre weitet sich auf weitere Bundesländer aus: In Büchern und Videos forderte Klaus Maurer die Beseitigung des »BRD-Systems« – gleichzeitig arbeitete er als psychiatrischer Gutachter für Gerichte in fünf Bundesländern. Politiker fordern nun Konsequenzen .

  • »Es ist bizarr, ich hatte zwei Gesichter«: Igor Benevenuto ist Fifa-Schiedsrichter und schwul. Lange verstellte sich der Brasilianer und sagt, er habe den Fußball »gehasst«. Wie er sein Coming-out erlebte, und warum er trotz Homophobie zur WM nach Katar reisen würde .


Was heute weniger wichtig ist

  • Sylvester Stallone, 76, ist »’ne alte Umweltsau« (WDR-Kinderchor), weil er auf seinem Grundstück im kalifornischen Dürregebiet viel mehr Wasser verbraucht, als ihm als Einwohner eines kalifornischen Dürregebiets zustünde. Es geht um fast 900.000 Liter, eine 533-prozentige Überschreitung des amtlichen Limits. Am Pranger stehen auch der Korbballspieler Dwyane Wade und Berühmtheitskünstlerin Kim Kardashian. Letztere mag sich zu ihrem bizarren Verbrauch nicht äußern, es könnte also großer Durst oder ein schlimmer Waschzwang dahinterstecken.

    Wade immerhin sagte zur Entschuldigung, mit seinem Pool sei etwas nicht in Ordnung. Man kennt das ja, wenn die Wassermassen permanent wegsickern und der Nachbar unterhalb damit bereits Mühlen oder kleinere Kraftwerke betreiben kann. Stallone wiederum machte wie ein kalabrischer Olivenbauer geltend, dass auf seinem Anwesen 500 Bäume herumstehen, darunter etliche Obstbäume und Kiefern. Dieses Wäldchen würde ohne eine »angemessene« Bewässerung »höchstwahrscheinlich« absterben. Außerdem habe er bereits einige Rasenflächen absterben lassen, um Wasser zu sparen. Wir sehen ihn vor uns, wie er in die Hocke geht, ein wenig Gras abreißt und, während er die trockenen Halme zwischen den Fingern zerreibt, mit traurigem »Rocky«-Blick trübe in die Ferne blickt.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Und dass das nicht geht, sieht man an immer mehr Teilzeitkräften, Jobwechslern, Burn-out-Patienten und grundätzlicher Belastung aller Beteiligter.«

Cartoon des Tages: Gratulation

Illustration: Thomas Plaßmann


Und heute Abend?

Wenn es warm ist und sanft die Sonne am Waldsaum die Wipfel küsst, dann könnte man natürlich mal raus in die Natur. Ein aufregendes Abenteuer, vor dem Deutschlands aufregendste Band  mit ihrer neuen Single nur eindringlich warnen kann. Das Video zu »In der Natur«  enthält mehr Referenzen als eine »South Park« -Folge und ist trotz seiner Länge von nur knapp fünf Minuten abendfüllend.

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Der Irrsinn beginnt mit einem in bajuwarische Tracht gekleideten Stand-up-Paddler (ja, das sind die Liegeradfahrer der Meere) »of color« und auf augenscheinlich offener See, der seinen Gefühlen mit einem Jodler Ausdruck verleiht. Danach sehen wir Kryptik Joe, wie er mit einem dieser unheimlichen Roboterhunde Gassi geht: »Die Erwartungen waren hoch, / dieser Ast hängt viel zu tief, / die Blicke von den Tieren sind mir zu passiv-aggressiv«. Recht bald schon wünscht sich der Protagonist aus dem überschätzten Grün »zum Hermannplatz zurück«, weil die Naturromantik sehr schnell zerbröselt.

Musikalisch streift das den Hip-Hop, zitiert minimalen House, bietet Field Recordings und überrascht mit einer progrockigen Seventies-Keyboard-Einlage wie von Pink Floyd oder ELP. Am Ende gibt es kleinere Verbeugungen vor »Apocalypse Now« und »Planet der Affen« – was dort am Strand die Freiheitsstatue ist, erscheint hier als … aber rätseln Sie selbst.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank

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