Wenn zwei eine Reise tun
Heute fliegt Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kanada, und das nicht allein, sondern begleitet von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Es kommt selten vor, dass ein Kanzler Kabinettsmitglieder von anderen Koalitionsparteien mitnimmt, eigentlich gilt die Regel: Jeder fliegt für sich allein (was natürlich aus Klimaschutzsicht mehr als unschön ist).
Habeck und Scholz
Foto: Jens Schicke / imago images/Jens Schicke
Auch die Dauer der Reise, drei Tage, ist ungewöhnlich. Scholz und Habeck wollen in Kanada vor allem für neue Energiekooperationen werben; eine »Wasserstoff-Vereinbarung« soll geschlossen werden. Es geht auch um die Handelsbeziehungen, das umstrittene Abkommen CETA zwischen Kanada und der EU, dessen Ratifizierung in Deutschland noch aussteht.
Aber besonders wichtig ist Scholz und Habeck das Thema Flüssiggas, das in Deutschland ab Herbst dringend gebraucht wird. Kanzler und Minister würden gerne Ersatz für russisches Gas in Kanada bestellen, nachdem sie in Katar und Norwegen schon vergeblich dafür geworben haben. Aber da es an Kanadas Küste keine passenden Exportterminals gibt, werden solche Deals frühestens in zwei Jahren möglich sein. Und offenbar gibt es auch in Kanada lokalen Widerstand gegen die Gasförderung durch Fracking, sodass sich Scholz sogar mit einem widerspenstigen Provinzpolitiker vor Ort treffen will.
Vielleicht kann er den Mann ja einschläfern, wie sonst Mitglieder von Untersuchungsausschüssen zur Cum-Ex-Affäre? »Schönen Dank für Ihre Frage, lassen Sie mich das etwas ausführen…«
Vier Busen, kein Cum-Ex
Vielleicht sollte man Spott über den Kanzler und seine Methoden aber vorsichtiger dosieren. Ist Olaf Scholz am Ende beliebter beim Volk, als es die Umfragen suggerieren? Ein kleiner Seismograph war der gestrige »Tag der offenen Tür« der Bundesregierung: Die Warteschlangen vor dem Kanzleramt zogen sich über einen halben Kilometer. Drinnen Volksfest-Atmosphäre, Familien, Alte und Junge, Budenzauber, Musikkapelle, Liegestühle, ein Kanzler-Heli zum Reinklettern und anderthalb Stunden Bürgersprechstunde mit Olaf Scholz.
Olaf Scholz im Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern
Foto: IMAGO/Emmanuele Contini
Anders als in Neuruppin, wo der Kanzler jüngst von Störern niedergebrüllt worden war, war es auf der Wiese nahe dem Hubschrauberlandeplatz auffällig ruhig. Trotz der Mittagshitze lauschten die Leute still und konzentriert auch länglichen Antworten des Kanzlers. Bis auf wenige Ausnahmen waren auch die Frager freundlich, gab es viel gemurmelte Zustimmung und teils deutlichen Applaus für Scholz’ Antworten zu Krieg, Frieden und 9-Euro-Ticket.
Gut, vielleicht gehen zu so einem Werbetag der Regierung einfach nur Leute, die wissen wollen, wie das Finanzministerium seine Zoll-Spürhunde abrichtet oder wie das Agrarministerium Virtual Reality im Kuhstall fördert. Trotzdem wäre es für Protestler und Schreihälse leicht gewesen, sich ins Kanzleramt einzuschleichen, an der Sicherheitsschleuse fragt ja niemand nach der Gesinnung. Auch die zwei Femen-Aktivistinnen, die später neben Scholz ihre Busen entblößten, hatten es ja reingeschafft.
Woher also diese Harmonie? Wurden die Leute vom Anblick des leibhaftigen Olaf eingeschüchtert? Oder finden viele Deutsche ihn nicht so übel, wie man angesichts seiner vielen Probleme erwarten könnte? Der Cum-Ex-Steuerskandal und die ungebremste Klimakatastrophe, die jüngste Blamage um die Holocaust-Verharmlosung des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas – allenfalls Randaspekte der gestrigen Fragerunde. Es schien auch niemand dem Kanzler krumm zu nehmen, dass seine Koalition noch immer kein Entlastungspaket für den Herbst geschnürt hat. Dass die Ampelparteien noch immer über Waffenlieferungen für die Ukraine streiten.
Echte Empörung gab es in meiner Ecke des Publikums erst gegen Ende, als ein Kind den Kanzler fragte: »Mögen Sie Uno?« Scholz schaute verschreckt. Uno? »Das ist ein Kartenspiel«, schob der Junge nach. »Danke für den Nachsatz, das habe ich nicht gewusst«, gestand Scholz. »Deshalb kann ich das auch nicht bewerten.«
Wer, bitteschön, kennt Uno nicht? Mit dieser Erinnerungslücke wird Scholz beim Volk nicht durchkommen.
Das Attentat als Provokation
Heute werden Streitkräfte der USA und Südkoreas ein gemeinsames Militärmanöver abhalten. Elf Tage lang werden die Truppen der zwei Staaten im Süden der koreanischen Halbinsel trainieren – und es ist mit einer scharfen Reaktion Nordkoreas auf diese Militärübungen zu rechnen.
Wovon sich ein diktatorisches Regime provoziert fühlt, müsste demokratischen Bündnispartnern zwar egal sein. Aber seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine blickt die Welt nervöser auf solche Manöver. Wie viel Provokation ist noch vertretbar? Wo sollte man eine rote Sicherheitslinie ziehen?
Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon ein halbes Jahr. Der 24. August markiert dieses traurige Jubiläum. Für Wladimir Putin ist dieser Feldzug bislang erfolglos, er zerstört Menschenleben, die ukrainische Infrastruktur und die russische Wirtschaft, die durch die internationalen Sanktionen schwer getroffen ist.
Nun ist der russische Machthaber auf schockierende Weise im eigenen Land herausgefordert worden: Die Tochter seines wichtigsten Einflüsterers Alexander Dugin wurde mit einer Autobombe ermordet. Darja Dugina, 29, war selbst eine Propagandistin und Befürworterin des Krieges. Viel spricht aber dafür, dass Ihr Vater, der Putin-Vertraute, das Ziel des Anschlags gewesen war.
Ermittler am Ort der Explosion
Foto: Uncredited / dpa
In Moskau gab es sofort Stimmen, die »ukrainischen Terroristen« die Schuld geben, Kiew wies den Vorwurf zurück. Wer waren die Drahtzieher des Attentats? Sind es politische Splittergruppen? Oder kamen sie gar aus dem Inneren des russischen Geheimdienstapparates?
Für einen Quasi-Diktator wie Putin, dessen System die Zivilgesellschaft seit Kriegsbeginn massiv unterdrückt, ist ein solcher Anschlag gefährlich, da er ihn schwach und angreifbar wirken lässt. Als Reaktion dürfte das Regime noch härter zuschlagen.
Ist jetzt der Moment, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zusätzlich zu stärken? In einem Gastbeitrag für den SPIEGEL haben sich drei deutsche Ampelpolitiker für mehr Waffenlieferungen an Kiew ausgesprochen. Kristian Klinck (SPD), Alexander Müller (FDP) und Sara Nanni (Grüne) fordern, die Ukrainer notfalls auf Kosten der Wehrfähigkeit der Bundeswehr auszurüsten. Der Beitrag dürfte diese Woche in Berlin für Debatten sorgen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Russland beschießt »Objekte« über Krim, Selenskyj warnt vor Schauprozess – das geschah in der Nacht: Die russische Armee will einen ukrainischen Angriff auf einen Flugplatz vereitelt haben. Präsident Selenskyj verteilt Orden an Fußballer und Schaffner. Und: Verdacht auf Spionage in Albanien
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Scholz, Biden, Macron und Johnson fordern rasche Inspektion des AKW Saporischschja: Es ist das größte AKW Europas – und steht unter Beschuss: Deutschland, Frankreich, die USA und Großbritannien dringen darauf, die Atomenergiebehörde in das von russischen Truppen besetzte Gebiet Saporischschja zu schicken.
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Bundesregierung rechnet mit Wirtschaftseinbruch in Russland: Die sechs beschlossenen Sanktionspakete könnten Russland einen Wirtschaftseinbruch von bis zu 15 Prozent bescheren, prognostiziert das Bundeswirtschaftsministerium. Die Linke zweifelt die Bewertung an.
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Rache führt uns ins Mittelalter: Europäische Politiker diskutieren über Einreiseverbote für Russen. Ein solcher Schritt würde den Ukrainekrieg nicht schneller beenden – sondern nur Putin stärken .
Rente vom RBB?
Dieser Tage scheinen im RBB-Programm nur noch Gruselfilme zu laufen. Der Skandal um die Ex-Intendantin Patricia Schlesinger, ihre Boni, das italienische Spezialparkett und die selbstwässernde Pflanzen-Wand in ihrem Bürotrakt erschüttert den Sender noch immer. Und überraschend ist mittlerweile eigentlich nur noch, wie viele RBB-Leute einem sagen, das sei intern alles lang bekannt gewesen.
Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger (2020)
Foto: Paul Zinken / dpa
Heute tagt der RBB-Verwaltungsrat und entscheidet, wie es im Detail weitergehen soll mit Schlesingers Vertrag, ob eine gesonderte fristlose Kündigung zusätzlich zu ihrer Abberufung nötig ist. Und wie sieht es aus mit Ruhegeldzahlungen, die Intendanten für gewöhnlich nach Ende ihrer Amtszeit erhalten?
Die ARD hat derweil der RBB-Spitze offiziell das Vertrauen entzogen. Man traue der geschäftsführenden Leitung nicht zu, die Aufklärung der Affäre voranzutreiben. Warum die ARD-Granden um WDR-Intendant Tom Buhrow es sich damit zu leicht machen, warum die Kontrollstruktur des gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend verbessert werden muss, hat unser Autor Christian Buß in einer lesenswerten Analyse aufgeschrieben.
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Die Startfrage heute: Welches ist der längste Straßentunnel der Welt?
Gewinner des Tages…
Thilo Sarrazin (Archivbild)
Foto: Robert Schlesinger/ picture alliance / dpa
…ist Thilo Sarrazin. Heute stellt er sein neues Buch vor: »Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens«. Der Autor Uwe Tellkamp, der sich zuletzt öfter ins verschwörungstheoretische Milieu verirrte, präsentiert das Buch.
Worum es darin geht, erklärt Sarrazin auf seiner Internetseite: »Im Kern einer aufgeklärten Haltung … muss stets der Wille stehen, logisch sauber und empirisch korrekt vorzugehen, und dabei Vorurteile, Glaubensfragen und bloßes Meinen hintanzustellen.«
Was nicht »logisch sauber« und »empirisch korrekt« ist, darf also nicht sein in der Denkwelt von Diplomvolkswirt Sarrazin. Es ist die Einladung zum Schubladen-Denken und zur Amtsstuben-Logik: »Hamwa imma so gemacht.« Die kreative, provokante, vielleicht riskante Idee, das »thinking out of the box« wird strikt zurückgewiesen, auch für neue und unbekannte Probleme. Nein, erstmal alle Hefte raus, Klassenarbeit!
Was ein Dr. Sarrazin nicht in die Formeln aus seinen Klarsichthüllen pressen kann, muss von den »Feinden der Vernunft« kommen, und dann wehe Dir, Deutschland: »Die Wahrheit ist dann das erste Opfer, und das zweite Opfer ist nur zu oft die Freiheit.«
Bei dem heutigen Termin kann Sarrazin nur gewinnen. Wenn wir Medien über ihn berichten, wirkt es wie Werbung für sein Buch. Wenn wir ihn kritisieren, sind wir Feinde der Vernunft. Wenn wir schweigen, haben wir ihn gecancelt.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann