Der Staat Bosnien und Herzegowina beherrscht selten die internationalen Schlagzeilen. Aber dann taucht er plötzlich doch in den Nachrichten auf, etwa wenn die Bundesregierung Soldaten dorthin entsendet – oder durch Kuriositäten.
Das neueste Beispiel: der Ausraster des deutschen CSU-Politikers Christian Schmidt. Er soll als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina im Auftrag der internationalen Gemeinschaft sicherstellen, dass der Friedensvertrag von Dayton, der den Bürgerkrieg in dem Land 1995 beendete, konsequent umgesetzt wird. Doch in einer Pressekonferenz zeigte Schmidt sich wenig diplomatisch, und reagierte auf eine kritische Frage zur geplanten Wahlrechtsreform mit einem Wutausbruch.
Adis Ahmetović würde sich sicherlich wünschen, dass Bosnien und Herzegowina mehr Aufmerksamkeit bekommt, nicht nur, wenn ein Diplomat ausrastet. Seit Langem bemüht sich der 29-jährige Bundestagsabgeordnete um mehr Sichtbarkeit und Interesse an der Heimat seiner Eltern. In Deutschland ist der SPD-Mann ein Hinterbänkler, aber in Bosnien und Herzegowina wird er wie eine Art Star behandelt. Nach Schmidts Wutanfall sagte Ahmetović, die Reaktion sei »absolut unangemessen«, Schmidt schade »dem Ansehen und der Wirkungskraft des Amtes«.
Die Familie des jungen Politikers stammt aus Ostbosnien, seine Eltern sind 1992 vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Er selbst ist in Hannover geboren. Ahmetović hat den Westbalkan zu seinem politischen Thema gemacht, er nennt es »Schicksal«, dass er als Kind bosnisch-herzegowinischer Flüchtlinge im Bundestag für diese Region, vor allem auch für Bosnien und Herzegowina, eintreten kann.
Doch Ahmetović, 2021 erstmals in den Bundestag gewählt, steht damit auch zwischen zwei Welten. Zwischen den Erwartungen seiner Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis Hannover I und den Hoffnungen der Menschen in Bosnien und Herzegowina, die er nicht enttäuschen will. In der Balkanregion hat er nicht nur Fans, teils wird er als Nationalist angefeindet.
Als Ahmetović noch ein Kind war, sollte seine Familie abgeschoben werden. Juristisch davor gerettet hat ihn der heutige SPD-Abgeordnete und Anwalt Matthias Miersch. Heute sind Miersch und Ahmetović Kollegen. Der Juso sitzt als eines der jüngsten Mitglieder im Auswärtigen Ausschuss, in der SPD-Fraktion hat er den Posten als Berichterstatter für den westlichen Balkan inne – die Heimat seiner Eltern.
Als er diese politische Aufgabe angenommen habe, sei ihm bewusst gewesen, sagt Ahmetović, dass es eine Stigmatisierung aufgrund seiner Herkunft geben könnte. Ausgerechnet der Mann mit dem bosnisch-herzegowinischen Hintergrund macht Außenpolitik zum Westbalkan. Doch nach einigem Abwägen habe er beschlossen, sich des Themas politisch anzunehmen. »Weil es in der Region brodelt«, wie er sagt. Und weil es eine emotionale Bindung an Bosnien gebe. »Ich spreche die Sprache, ich kenne die Region und die Kultur sehr gut. Das gibt mir natürlich auch einen anderen Zugang.«
Ahmetović ist nach eigenen Angaben zweisprachig aufgewachsen, Deutsch habe er in der Kita gelernt, in den Sommerferien viel Zeit in Südosteuropa verbracht. Sein Großvater sei während des Bosnienkrieges verschleppt und getötet worden, erst 2016 seien seine sterblichen Überreste in einem Massengrab gefunden worden.
Ahmetović zu Besuch in der Heimat seiner Familie in Bosnien
Foto: ADMIR KUBUROVIC / DER SPIEGEL
Bei einem Termin in einem Vorort Sarajevos, es ist ein Spaziergang mit einer Gruppe von Antikorruptionsaktivisten, kann Ahmetović kaum einen Schritt tun, ohne ständig angesprochen zu werden. Menschen bedanken sich für sein Engagement, wollen Fotos mit ihm. Der Ausruf »svaka čast«, alle Achtung, fällt mehrmals in diesen Gesprächen. In Sarajevo nennt ihn eine ältere Frau »naše dijete«, unser Kind. Seine Anwesenheit, sein Interesse und auch seine persönliche Geschichte versprechen Aufmerksamkeit.
Ahmetović ist als Kind von Kriegsflüchtlingen eine Identifikationsfigur und Projektionsfläche für Hoffnungen, nach dem Motto: »Er ist doch einer von uns«. Allerdings ist fraglich, wie ein einzelner, bislang wenig bekannter Abgeordneter solchen Hoffnungen gerecht werden kann. Vor der Bundestagswahl kündigte Ahmetović in einem bosnischen Medium an, eine »starke Stimme Deutschlands für Bosnien und Herzegowina« zu sein. Er versucht es.
Von offizieller Seite fallen manche Reaktionen auf das Engagement des SPD-Manns bei Weitem nicht so positiv und herzlich aus, wie in den Kommentaren seiner Instagram- und Facebookseiten. Ahmetović wird aufgrund seines Hintergrundes teils ethnonationalistische Politik vorgeworfen.
Als er an seinem ersten großen Bundestagsantrag zu Bosnien und Herzegowina federführend mitarbeitet, kritisierte ihn der kroatische Außenminister, wegen seiner bosnischen Wurzeln. Im Bosnienkrieg kämpften unter anderem bosnische Kroaten gegen Bosniaken, die alten Ressentiments gibt es bis heute. »Als sozialdemokratischer Politiker mit einem bosniakischen Nachnamen bin ich ein Feindbild von Nationalisten«, sagt Ahmetović dazu, das sei »gezielter Populismus«.
Der bosnisch-serbische Politiker Milorad Dodik, der eine Sezession des Landesteils Republika Srpska vom Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina anstrebt, verglich Ahmetović sogar mit einem Hitlerjungen. Und es geht noch heftiger: »Jeden Tag bekomme ich aus der rechtsextremen Szene über Social Media Morddrohungen«, sagt Ahmetović. »Meine Familie hat auch schon Drohbriefe erhalten.« Er ist deshalb vorsichtig, denkt bei öffentlichen Terminen im Ausland immer den Sicherheitsaspekt mit.
Nationalistische Tendenzen lassen Bosnien und Herzegowina nicht zur Ruhe kommen. Ende 2021 schienen sogar neue kriegerische Auseinandersetzungen nicht mehr ausgeschlossen.
Beisetzung von Opfern des Massakers von Srebrenica von 1995 im Jahr 2012
Foto: Fehiim Demir/ dpa
Der Angriffskrieg auf die Ukraine löste in Bosnien und Herzegowina zusätzlich Ängste aus. Keine 30 Jahre sind seit dem Ende des Bosnienkriegs vergangen. Bei den Bildern aus Butscha und Irpin fühlten sich viele Menschen an den Genozid von Srebrenica erinnert. Im Juli 1995 töteten serbische Einheiten dort etwa 8000 bosnisch-muslimische Jungen und Männer.
»Wir brauchen wir einen stabilen Westbalkan«
Durch den Einfluss Chinas und Russlands hat die Lage in der Region für Europa eine besondere sicherheitspolitische Brisanz. »Wenn wir friedlich in Europa leben wollen, brauchen wir einen stabilen Westbalkan«, sagt Ahmetović. Zu tun gibt es genug, auch Korruption und Abwanderung spielen eine große Rolle in der gesamten Region.
Die Ampelkoalition hat die Unterstützung des EU-Beitrittsprozesses der gesamten Region im Koalitionsvertrag ausdrücklich genannt. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock reiste schon drei Monate nach Amtsantritt nach Sarajevo, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) besuchte im Anfang Mai ebenfalls in die bosnische Hauptstadt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz war schon in der Region unterwegs, einen Besuch in Bosnien und Herzegowina hat er angekündigt.
Ahmetović sieht in diesem Engagement eine »Zeitenwende auch in der Westbalkanpolitik«. Wie viel er selbst als einzelner Abgeordneter im Auswärtigen Ausschuss und Berichterstatter beitragen kann, ist fraglich. Seine Popularität auf dem Westbalkan könnte aber dem deutschen Ziel nutzen, die Region zu stärken.
Ahmetović könnte eine Art Dolmetscherposition einnehmen, die Entscheidungen von Baerbock, Scholz und Co. erklären, in Bosnien und Herzegowina wie auf dem gesamten Westbalkan. Er steht den Bürgerinnen und Bürgern dort näher als die deutsche Politik-Elite, seine Sprachkenntnisse sind ein großer Vorteil.
Politiker Ahmetovic, 29: »Zeitenwende auch in der Westbalkanpolitik«
Foto: Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
»Deutsche Politiker genießen in Bosnien und Herzegowina oftmals eine besondere Stellung«, sagt Ahmetović. Deutsche Politiker mit bosnischen Wurzeln ebenfalls, so scheint es. Der 29-Jährige inszeniert sich auf Social Media als wichtiger Außenpolitiker, dokumentiert, wen er trifft und teilt Erfolge, wenn auch mit deutlich weniger Followern als Baerbock und Co.. Selbstbewusst versendet sein Büro, ungewöhnlich für einen jungen Abgeordneten, regelmäßig Pressestatements.
Ahmetović sagt, sein politisches Ziel sei die Wiederwahl in seinem Wahlkreis. Er ist überzeugt, dass die Leute in seinem Wahlkreis stolz auf ihn sind; es freue ihn, dass sie seine politischen Aktivitäten im Ausland unterstützen. Denn egal wie populär er in Teilen der bosnischen Bevölkerung sein mag, über seine politische Karriere entscheidet nun einmal vor allem sein Wahlkreis Hannover Stadt I. Ahmetović ist auf die deutsche Basis angewiesen. Sonst enttäuscht er am Ende beide Seiten.