Viele Ideen, kein Plan
Kommen Sie noch mit? Es ist kaum möglich, in diesen Tagen noch den Durchblick zu behalten, wenn es um die Energiepolitik geht. Müssen wir im Winter frieren? Können wir unsere Gasrechnungen noch bezahlen? Wird schon alles gut, versucht die Bundesregierung zu beruhigen. Aber das Gefühl, dass die Ampel einen echten Plan hat, will sich nicht so recht einstellen.
Da wird erst die Gasumlage festgelegt, die die Kunden zusätzlich belasten wird, damit unsere Gasimporteure nicht kollabieren. Die EU kassiert den deutschen Plan, keine Mehrwertsteuer auf die Umlage zu erheben, woraufhin der Kanzler tags darauf verkündet, dass man die Mehrwertsteuer auf Gas dann eben vorübergehend von 19 auf sieben Prozent absenken werde. Damit überrumpelt er sogar die Mitkoalitionäre von den Grünen , Ökonomen zerpflücken die Maßnahme , weil sie die Bürgerinnen und Bürger nach dem Gießkannenprinzip entlaste, vor allem Gutverdienern mit großem Eigenheim zugutekomme und dazu noch jeden Anreiz zum Gassparen nehme.
Scholz, Habeck, Lindner: Achtung, Ankündigungskater!
Foto:
Filip Singer / EPA-EFE
Die Mehrwertsteuersenkung soll aber ohnehin nur der erste Baustein eines größeren Entlastungspaketes sein, das die Regierung für den Herbst versprochen hat – es wäre das dritte. Für das Paket kursieren etliche Ideen und Vorschläge, es soll um die Einkommensteuer gehen, wahrscheinlich um das Wohngeld und das Kindergeld. Weiterhin gibt es Rufe nach gezielten Direktzahlungen an Bedürftige, auch einen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket wollen einige noch nicht abschreiben. Die Grünen würden alles gerne mit einer Übergewinnsteuer für Unternehmen, die von der Krise profitieren, gegenfinanzieren. Das lehnt die FDP ab.
Inmitten des vielstimmigen Chors kommt dann auch noch der unvermeidliche Wolfgang Kubicki mit einer Super-Idee um die Ecke: Deutschland sollte doch einfach die fertig gebaute Nord-Stream-2-Pipeline öffnen, vielleicht liefere Russland dann ja ausreichend Gas für den Winter. Es gebe »keinen vernünftigen Grund«, dies nicht zu tun.
Vor allem aber gibt es keinen vernünftigen Grund, auf Ratschläge eines Wolfgang Kubicki zu hören, das haben sie Gott sei Dank inzwischen auch in der FDP erkannt, weswegen die entsetzten Liberalen seinen Vorstoß rasch wieder einfingen. Russland ließ indes wissen, dass man den ohnehin gedrosselten Gasfluss über die noch geöffnete Pipeline Nord Stream 1 Ende August für drei Tage aussetzen werde, wegen angeblicher Wartungsarbeiten. Das eigentliche Ziel dürfte ein anderes sein: neue Verunsicherung im Westen zu schaffen.
Inmitten dieser Verunsicherung muss die Ampel endlich wieder in den Tritt kommen. Was es braucht, sind nicht unbedingt jeden Tag neue Vorschläge aus einer der drei Koalitionsparteien, die vor allem der eigenen Profilierung dienen. Die Koalition sollte möglichst bald ein Entlastungspaket aus einem Guss präsentieren, das den Namen auch verdient. »So, wie sie gerade diskutiert, läuft die Ampel Gefahr, einen Ankündigungskater hervorzurufen«, analysieren meine Berliner Kolleginnen und Kollegen im neuen SPIEGEL den Zustand der Koalition. »Der Ideenwettbewerb, den sie austrägt, produziert so viele Vorschläge, dass unmöglich alle realisiert werden können. Enttäuschungen sind absehbar.« Aus dem Ankündigungskater könnte dann schnell ein Ampelkater werden.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
Russland unterbricht Gaslieferungen durch Nord Stream 1 für drei Tage: Vom 31. August bis 2. September soll kein Gas durch Nord Stream 1 mehr fließen: Gazprom hat eine Abschaltung der Pipeline angekündigt – und begründet sie mit »routinemäßigen Wartungsarbeiten«.
-
Kubicki wirbt für Nord Stream 2 – Provokation als Prinzip: Mit der Forderung nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 sorgt FDP-Vize Wolfgang Kubicki für Empörung in seiner Partei – nicht zum ersten Mal. Schadet er den Liberalen?
-
»Anfangs standen Sicherheitsleute der russischen Botschaft vor unserer Tür«: Seit vier Monaten leitet Egbert Laege für den Bund die frühere Gazprom Germania. Seine Aufgabe: die Firma retten. Und die Republik warm durch den nächsten Winter bringen.
Kanzler unter Hypnose?
Es ist eigentlich ein ganz reizvoller Vorschlag, den der Hamburger CDU-Abgeordnete Richard Seelmaeker da am Freitagnachmittag im Cum-ex-Untersuchungsausschuss einbrachte. Ob sich der Kanzler nicht freiwillig einer Hypnose unterziehen wolle? Das wäre mal was, Olaf Scholz im Trancezustand – was man da wohl alles aus ihm rauskitzeln könnte?
Seelmaeker jedenfalls hofft, auf diese Weise das Erinnerungsvermögen des Regierungschefs auffrischen zu können: Wie war das damals, 2016 und 2017, als er als Hamburger Bürgermeister die Warburg-Banker getroffen hat?
Olaf Scholz: »Da war nichts«
Foto: Morris MacMatzen / Getty Images
Überraschenderweise will Scholz nichts davon wissen: »Hokuspokus« nennt er die Hypnose-Nummer und kontert spitz: »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie die Karikatur der Befragung selbst vornehmen.«
Und so bleibt es dabei: Scholz erinnert sich an nichts. Er hat keine Ahnung, worüber er seinerzeit wohl mit Christian Olearius, dem damaligen Miteigentümer der Warburg-Bank, bei drei Treffen gesprochen hat. Was er aber weiß: Mit der Entscheidung, der Bank die Rückzahlung von unrechtmäßig erstatteten Steuern in Höhe von 47 Millionen Euro zu erlassen, damit hat er nichts zu tun. »Da war nichts.«
Die Hamburger Opposition mühte sich am Freitag redlich, aber sie bekam Scholz nicht zu fassen. Es gibt nach wie vor keinen echten Beleg, der ihm nachweist, dass er die Unwahrheit sagt. Dass seine Erinnerungslücken wenig glaubwürdig sind , das haben wir gestern an dieser Stelle schon ausführlich behandelt. An dieser Einschätzung hat auch der Zeugenauftritt des Kanzlers im Untersuchungsausschuss nichts geändert.
Und Scholz muss wissen: Wer sich in einer Angelegenheit von solcher Tragweite so hartnäckig auf seine Vergesslichkeit beruft, darf sich nicht wundern, dass ihm das kaum einer abnimmt. So verspielt man Vertrauen, eine der wichtigsten Währungen in der Politik.
Hier können sie nachlesen, wie meine Kollegen Ansgar Siemens und Christian Teevs Scholz’ Auftritt im Untersuchungsausschuss gesehen haben:
Sind Trumps radikale Republikaner noch zu stoppen?
Donald Trumps Plan ist diese Woche aufgegangen: Er hat seine schärfste Widersacherin Liz Cheney politisch kalt gestellt , wenn auch nur fürs Erste. Trumps Triumph bei den Kongress-Vorwahlen der Republikaner in Wyoming, die Art und Weise, wie er eine ihm gefügige Kandidatin aufbaute und seine Anhänger gegen Cheney aufpeitschte, sie sind Symptome einer besorgniserregenden Entwicklung.
Donald Trump bei einem Auftritt in Dallas: Wie ein Messias gefeiert
Foto: BRIAN SNYDER / REUTERS
»Die Vereinigten Staaten durchleben derzeit eine gefährliche Phase der politischen Radikalisierung von rechts, die demokratiegefährdende Züge annimmt und ebenso einzigartig wie beängstigend ist«, schreibt mein Kollege René Pfister, Korrespondent in Washington, im neuen SPIEGEL. In seiner Geschichte zeichnet René nach, wie die Republikaner unter dem früheren US-Präsidenten immer mehr zu einer politischen Sekte mutieren. Bei Auftritten wird Trump bisweilen wie ein Messias gefeiert, und je enger sich die juristische Schlinge um seinen Hals zieht, umso fester schließen sich die Reihen in der Partei.
Dabei sind es nicht mehr nur extrem rechte Wirrköpfe, die staatliche, demokratische Institutionen mit Tiraden überziehen und ihre Legitimität offen infrage stellen. Nach der FBI-Razzia in Mar-A-Lago verglichen gestandene republikanische Abgeordnete die Beamten der Bundespolizei mit den Schlägern der SA und Folterknechten der Gestapo.
Es ist ein Ton, der den Aufruf zum Widerstand impliziert, notfalls mit Gewalt. Die Sorge wächst, dass die aggressive Rhetorik Trumps Fußvolk anstacheln könnte, zu den Waffen zu greifen. Dass der Sturm des gewalttätigen Mobs auf das Kapitol nur ein Vorgeplänkel war.
Stehen die USA womöglich vor einem neuen Bürgerkrieg? Was muss passieren, damit die Republikaner zur Besinnung kommen – und welche Rolle könnte die Vorwahlverliererin Liz Cheney dabei spielen? Die Antworten lesen in Renés Pfisters Geschichte:
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Verlierer des Tages…
… ist Jörg Meuthen. Nach seinem Austritt aus der AfD will der 61-Jährige die »Deutsche Zentrumspartei«, die einst zu den tragenden Kräften der Weimarer Republik gehörte, zu neuer Bedeutung führen. Nun gibt es den ersten Rückschlag: Die konservative Kleinstpartei darf bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Herbst nicht antreten, weil sie die für die Zulassung erforderlichen 2000 Unterstützerunterschriften nicht zusammenbekommen hat. Meuthen gibt sich gelassen: Das »Wiedererstarken des Zentrums« sei ein »Langfristprojekt, das wir ganz bewusst schrittweise angehen«, sagte er dem SPIEGEL.
Jörg Meuthen: Das »Zentrum« als »Langfristprojekt«
Foto: Kay Nietfeld / dpa
Auch zur Bundestagswahl vergangenes Jahr war das »Zentrum« nicht zugelassen worden. Der Grund: Sie hatte sechs Jahre keinen Rechenschaftsbericht eingereicht, der den gesetzlichen Anforderungen genügte. Immerhin ist die Partei seit 1957 zum ersten Mal wieder mit einem Abgeordneten im Bundestag vertreten: Der frühere AfD-Abgeordnete Uwe Witt war im Frühjahr ins »Zentrum« eingetreten.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Bundesbankpräsident Nagel hält Anstieg von Inflation auf zehn Prozent für möglich: Joachim Nagel drängt auf weitere Zinserhöhungen durch die Europäische Zentralbank. Es drohe ein weiterer Anstieg der Inflation, warnt der Präsident der Bundesbank. Auch mit Blick auf die Konjunktur ist er pessimistisch.
-
Polizei nimmt Mexikos ehemaligen Generalstaatsanwalt fest: Vor fast acht Jahren verschwanden 43 Studenten in Mexiko. Sie sollen von korrupten Polizisten verschleppt und an ein Drogenkartell übergeben worden sein. Nun wurde der Mann verhaftet, der damals für die Ermittlungen zuständig war.
-
Parkwächter findet menschlichen Fuß in US-Nationalpark: Schauriger Fund: Ein Mitarbeiter des Yellowstone-Parks hat einen Teil von einem menschlichen Fuß in einer Thermalquelle entdeckt. Er steckte noch in einem Schuh, die Parkbetreiber gehen von einem Unfall aus.
__proto_kicker__
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Das Klischeebild des herzlosen Liberalen: Im Streit über Entlastungen tritt FDP-Chef Lindner unbeirrt für die Interessen von Besserverdienern ein. Die Sorgen der wirtschaftlich Schwachen? Scheinen ihn allenfalls zu nerven. Der Kanzler sollte ihn endlich bremsen .
-
Trumps heiliger Krieg: Unter dem früheren US-Präsidenten mutiert die republikanische Partei zu einer politischen Sekte. Selbst führende Vertreter stacheln zu Gewalt an. In dem Land wächst die Sorge vor einem Bürgerkrieg .
-
Ökonomen sprechen bereits von »permanentem Wohlstandsverlust«: Die Menschen sparen wie seit Jahrzehnten nicht, die Stimmung im Handel ist finster. Besonders hart trifft es den zuletzt noch boomenden Onlinemarkt. Wie Regierung und Unternehmen jetzt die Kauflust ankurbeln können .
-
Dreist, anmaßend, geschichtsvergessen: Selbstverständlich darf man montags gegen Coronagesetze, Flüchtlinge oder die Gasumlage auf die Straße gehen. Der Begriff »Montagsdemo« ist aber schon vergeben .
-
Die Kilos meiner Mutter: Es gibt kaum Romane mit dicken Heldinnen und Helden. Ist die deutsche Sprache ungeeignet zur Beschreibung von Korpulenz? Nun hat Daniela Dröscher ein Buch geschrieben, das alle Zweifel ausräumt .
Ich wünsche Ihnen ein wunderbares Wochenende.
Herzlich,
Ihr Philipp Wittrock