Scholz’ Schaden
Am Donnerstag steht ein wichtiges Telefonat im Terminkalender des Kanzlers. Olaf Scholz ist mit Jair Lapid zum Gespräch verabredet, seinem Amtskollegen aus Israel. Scholz will bei dieser Gelegenheit persönlich einiges zurechtrücken, will erklären, warum er bei anderer Gelegenheit versäumt hat, persönlich einiges zurechtzurücken.
Kanzler Scholz beim Termin mit Abbas: Die Sache ist zu groß
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CLEMENS BILAN / EPA
Es geht um das Treffen mit Mahmud Abbas am Dienstag im Berliner Kanzleramt, als der Palästinenserpräsident den Israelis »50 Holocausts« an seinem Volk vorwarf – was nicht nur faktischer Unsinn ist, sondern auch eine inakzeptable Verharmlosung des Völkermordes der Nazis an den Juden. Lapid hat Abbas’ Aussagen »eine ungeheuerliche Lüge« und »moralische Schande« genannt. Klare Worte, die man sich auch vom deutschen Regierungschef gewünscht hätte – der stand schließlich direkt neben Abbas, als dieser ausfällig wurde. Aber Scholz sagte nichts, gab seinem Gast stattdessen die Hand – und hat nun ein Problem.
Jetzt versucht der Kanzler, einen Schaden zu begrenzen, der im Grunde nicht mehr zu begrenzen ist. Die Empörung wird nachgeschoben, der Palästinenservertreter in Berlin einbestellt, und der Regierungssprecher muss alle Schuld auf sich laden, weil er die Pressekonferenz beendet habe, ohne seinem Chef die Gelegenheit zum Widerspruch zu geben.
Nun lässt sich aus der Ferne immer leicht urteilen, wie sich jemand in bestimmten Situationen möglichst schlagfertig zu verhalten hat. Auch besteht kein Zweifel an der Haltung des Kanzlers, seinem aufrichtigen Entsetzen, an seiner Zerknirschtheit über das Geschehene.
Aber die Sache ist zu groß, um einfach darüber hinwegzugehen. Wenn ein Gast auf deutschem Boden, zumal einer, der für antisemitische Entgleisungen bekannt ist, inmitten der Regierungszentrale, im Beisein des Bundeskanzlers unwidersprochen den Holocaust verharmlosen kann, dann lässt sich das nicht als ärgerlicher Ausrutscher abtun.
Der Sozialdemokrat wäre gut beraten, grundsätzliche Lehren aus dem Desaster zu ziehen. Denn, daran erinnern meine Kollegen in ihrer Analyse des Vorfalls, es ist »nicht das erste Mal, dass Olaf Scholz auf Pressekonferenzen oder öffentlichen Podien keine ganz so gute Figur macht«. In der Vergangenheit ging es dabei oft, anders als im aktuellen Fall, um Stilfragen. So schlaumeiert der Kanzler gerne mal überheblich oder lässt fragende Journalisten abblitzen. Er mag das witzig finden, in Wahrheit offenbart dieses Verhalten eine kommunikative Schwäche, die er sich in diesem Amt nicht erlauben kann.
Und immer geht es auch um politischen Instinkt. Scholz muss aufpassen, dass ihm dieser Instinkt in entscheidenden, öffentlichen Momenten nicht abhandenkommt.
Erdoğans Ziele
An Selbstbewusstsein, das ist bekannt, mangelt es dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nicht. So wundert es kaum, wenn das Präsidialamt die Ziele für das Treffen Erdoğans mit Uno-Generalsekretär António Guterres und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an diesem Donnerstag hoch steckt. Es solle in Lwiw unter anderem um die »Beendigung des Krieges zwischen der Ukraine und Russland auf diplomatischem Wege« gehen, hieß es vorab aus Ankara.
Selenskyj, Erdoğan, Guterres: Treffen in Lwiw
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LUDOVIC MARIN; OZAN KOSE; PHILIP FONG / AFP
Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Auch ist es immer wichtig, darüber zu sprechen, wie das Blutvergießen im Osten Europas gestoppt werden kann. Realistisch scheint es derzeit aber nicht, dass die Waffen im Ukrainekrieg ein halbes Jahr nach dem Angriff Russlands bald schweigen. Entsprechend fallen die Erwartungen im Guterres-Lager deutlich zurückhaltender aus. Dort hält man Verhandlungen über eine landesweite Waffenruhe nur für möglich, wenn keine der Kriegsparteien nennenswerte Geländegewinne mehr verzeichnen kann und vom Ziel eines Sieges Abstand nimmt. Aktuell unerfüllbare Voraussetzungen.
Immerhin, Guterres und Erdoğan haben aus den vergangenen Wochen bereits einen Verhandlungserfolg vorzuweisen, auf dem sie nun aufbauen wollen. Ende Juli vermittelten die beiden beim Abschluss eines Abkommens zwischen Russland und der Ukraine zur Ausfuhr von ukrainischem Getreide. Nach monatelanger Blockade der Schwarzmeer-Häfen nehmen die Getreideexporte über sichere Korridore seither wieder Fahrt auf.
Reden wollen Guterres und Erdoğan mit Selenskyj auch über die Lage an Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja und einen möglichen Zugang internationaler Experten zu der Anlage. Diese wird zwar weiter von ukrainischem Personal betrieben, ist aber von russischen Soldaten besetzt. Saporischschja liegt direkt an der Frontlinie am Fluss Dnjepr, immer wieder wird das AKW beschossen, Russen und Ukrainer machen sich gegenseitig verantwortlich. Mit jedem Tag des Krieges wächst die Sorge vor einem Atomunfall, wobei Unfall eigentlich der falsche Begriff ist. Dass einer der Reaktoren oder die zugehörigen Anlagen getroffen werden, wird schließlich von Russlands Truppen mindestens fahrlässig in Kauf genommen.
Welche Folgen ein Beschuss von Saporischschja haben könnte, hat meine Kollegin Julia Merlot mit Clemens Walther besprochen. Er ist Professor an der Universität Hannover und geschäftsführender Leiter des dortigen Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz. Beruhigend ist keines der Szenarien.
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Das Gift der Brackwasseralge
Man wisse noch nicht, was passiert sei. »Wir wissen nur, es muss etwas passiert sein.« Das ist die dürftige Erkenntnis auch Tage nach Beginn des massiven Fischsterbens in der Oder, am Mittwoch zu Protokoll gegeben von Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke.
Tote Fische in der Oder: »Wir wissen nur, es muss etwas passiert sein«
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Patrick Pleul / dpa
Noch immer fischen Helfer Kadaver aus dem Fluss, weit über 30 Tonnen sind es inzwischen in Deutschland, in Polen mehr als hundert. Experten werten indes Wasserproben aus, suchen auch an diesem Donnerstag weiter nach dem Auslöser der Umweltkatastrophe. Das gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil eine Entdeckung oder ein erhöhter Messwert möglicherweise auf andere Ursachen zurückzuführen ist, die dann wiederum einem Urheber zugeordnet werden müssen.
Beispiel: Gewässerökologen haben festgestellt, dass sich die Brackwasseralge Prymnesium parvum in der Oder rasant vermehrt hat. Diese kann ein Gift freisetzen, das für Fische tödlich ist – ob sie das in der Oder getan hat, steht noch nicht fest. Dass sich Prymnesium parvum so rasch entwickelt hat, dürfte wiederum mit dem erhöhten Salzgehalt im Fluss zu tun haben. Was aber ist für den erhöhtem Salzgehalt verantwortlich? Und schließlich wer? Alles ungewiss. Nur so viel: An einen Unfall oder eine natürliche Ursache für das Fischsterben glauben weder Experten noch Politiker derzeit.
Nachdem die deutsche Politik sich zuletzt lautstark über die schleppende Informationsweitergabe aus Polen beklagt hatte, müssen sich nun auch die hiesigen Behörden die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich schnell genug reagiert haben. Denn offenbar hat auch das deutsche Frühwarnsystem versagt, als sich die Wasserwerte in Frankfurt an der Oder deutlich zu verändern begannen. Doch die Brandenburger Behörden waren zunächst nicht alarmiert, beobachteten die Lage nur. Der Anstieg der Kurven für Leitfähigkeit, Sauerstoffgehalt und Chlorophyll sei, so heißt es aus dem Landesumweltministerium, »für sich allein noch nicht interpretationsfähig« gewesen.
Die Tonnen von toten Fischen sind es nun allemal.
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Die Startfrage heute: Arbeitsminister Hubertus Heil ist studierter Politikwissenschaftler. Welcher seiner Vorgänger war gelernter Fliesenleger?
Verlierer des Tages…
… ist Christian Schmidt. Schmidt ist CSU-Politiker, er war unter Angela Merkel mal Bundeslandwirtschaftsminister, seit etwa einem Jahr ist er Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina . Als Top-Diplomat in Diensten der Uno soll er die Umsetzung der zivilen Aspekte des Daytoner Friedensabkommens überwachen, das Mitte der Neunzigerjahre den Krieg in dem Land beendete.
Schmidt in Sarajevo
Foto: IMAGO/Armin Durgut/PIXSELL / IMAGO/Pixsell
Nun ist Schmidt bei einer Pressekonferenz in der Stadt Gorazde im Osten von Bosnien und Herzegowina ganz undiplomatisch ausgerastet, zu sehen in einem Videoausschnitt, der auf Twitter die Runde macht. »Rubbish, full rubbish!«, brüllt er, also »Müll, großer Müll«, offenbar auf die Frage einer Journalistin zu umstrittenen Änderungen am Wahlgesetz, die Schmidt im Rahmen seiner nicht unerheblichen Vollmachten vornehmen wollte. Schmidt fühlt sich angegriffen: »Leute, ich sitze oder stehe hier nicht – ich interessiere mich für dieses Land«, wütet er in schönstem deutschen Englisch weiter, er habe die Schnauze voll (sinngemäß). Aber sehen Sie selbst:
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Die Hintergründe und Zusammenhänge sind, wie so oft auf dem Balkan, kompliziert. Diese hier zu erklären, wäre sicher notwendig, würde aber den Rahmen des Formates sprengen. Ich verspreche Ihnen, dass die Kollegen den Ausbruch Schmidts am Donnerstag noch aufarbeiten werden.
Nur so viel: Dem Amt angemessen (und der Sache dienlich) war der Auftritt sicher nicht.
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