Stresstest für die Ampel
»You’ll never walk alone!« Sie können diese Worte wahrscheinlich schon nicht mehr hören, aber Olaf Scholz hat sie nun einmal zu seinem Leitsatz gemacht. Und daran muss der Kanzler sich nun messen lassen.
Seit gestern steht fest, wie hoch die Gasumlage ausfällt, die die Kunden von Herbst an zahlen müssen: 2,4 Cent pro Kilowattstunde. Hört sich wenig an, wird aber ganz schön ins Geld gehen. Beispielrechnung: Für ein Einfamilienhaus drohen zusätzliche Kosten von 484 Euro im Jahr. Fällt zusätzlich Mehrwertsteuer an (was die Bundesregierung gerne verhindern möchte), wären es fast hundert Euro mehr. Wer soll das bezahlen?
Finanzminister Lindner, Kanzler Scholz: Wann kommt das nächste Entlastungspaket?
Foto: Kay Nietfeld / picture alliance/dpa
Die Ampel hat versprochen (siehe Kanzler-Leitsatz), die Menschen mit diesen Mehrkosten nicht allein zu lassen. Nur hat sie bisher nicht verraten, wie sie die Bürgerinnen und Bürger entlasten will. Am besten wäre es gewesen, die Koalition hätte mit Bekanntgabe der Gasumlage auch gleich ein Entlastungspaket geschnürt und präsentiert.
Das hat sie versäumt, stattdessen streiten, mahnen und beschwichtigen SPD, Grüne und FDP. Von gefühligen Kanzler-Slogans, zerknirschten Vizekanzler-Kommentaren (»bittere Medizin«) oder Finanzminister-Briefen an die EU-Kommission können sich die ohnehin Inflations- und Energiepreis-geplagten Menschen aber noch nichts kaufen.
Ohne die Umlage geht es wohl nicht, wenn die Alternative der Kollaps der Gasversorgung wäre. Wahr ist auch: Der Staat kann in dieser Lage nicht alle Härten abfedern, die Starken müssen mehr Lasten schultern.
Aber den Schwächeren, jenen mit kleinen und mittleren Einkommen, muss die Regierung helfen. Und zwar so schnell wie möglich, so gezielt wie möglich. Der Kanzler selbst hat die Sorge vor gesellschaftlichen Verwerfungen bereits offen geäußert, wenn den Bürgerinnen und Bürger wirtschaftliche Not droht. Tatsächlich steht Deutschland im Winter und Herbst vor einem Stresstest. Für die Koalition gilt das schon jetzt.
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Cheney vs. Trump
Der cowboy state Wyoming ist der bevölkerungsärmste Bundesstaat der USA. Die meisten Einwohner sind streng konservativ, 70 Prozent stimmten bei der letzten Präsidentschaftswahl für Donald Trump.
Warum also schenkt Trump Wyoming in diesen Tagen so viel Aufmerksamkeit auf seinem Weg zu einer möglichen neuerlichen Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2024? Wenn ihm ein Sieg hier im wilden Westen doch ohnehin so gut wie sicher sein kann.
Cheney-Wahlwerbung in Wyoming: Trump will ein Exempel statuieren
Foto: Jae C. Hong / AP
Der Grund heißt Liz Cheney. Cheney, 56, Tochter des früheren Vizepräsidenten Dick Cheney, gehört zum Hochadel der Republikaner, vertritt selbst streng konservative Ansichten, unterstützte Trump lange.
Doch dessen Lügen von der gestohlenen Wahl und seine Rolle beim Sturm auf das Kapitol haben Cheney abschwören lassen vom Trump-Kult. Jetzt ist sie die schärfste Widersacherin des Ex-Präsidenten. Sie stimmte für das Amtsenthebungsverfahren und hat als Vizevorsitzende des Untersuchungsausschusses zum Kapitol-Sturm erklärt: »Es gibt genug Beweise, um ihn anzuklagen.«
Genau deswegen will Trump Cheney politisch erledigen, er will ein Exempel an ihr statuieren, allen in der Partei zeigen, was ihnen blüht, wenn sie sich gegen ihn stellen.
Am Dienstag entscheidet die Republikaner-Basis in Wyoming in einer Vorwahl, wer bei den Kongresswahlen im November für die Partei antreten darf. Dass Cheney, die bisher bei Wahlen in Wyoming stets 60 Prozent holte, ihren Sitz im Repräsentantenhaus verliert, ist nicht unwahrscheinlich. Trump hat die 59-jährige Anwältin Harriet Hageman als Konkurrentin aufgebaut. Und weil Wyoming Trump-Land ist, liegt Hageman in den Vorwahl-Umfragen deutlich vorn.
Wird »Trumps teuflischer Plan«, wie ihn mein Kollege Roland Nelles nannte, also aufgehen? Wohlmeinende Beobachter halten es nicht für ausgeschlossen, dass Cheneys Karriere bei einer Niederlage in Wyoming längst nicht vorbei wäre. Sollte Trump 2024 antreten und verlieren, könnte sie demnach sogar selbst Präsidentschaftskandidatin werden.
Atamans erster Auftritt
Wenn der Jahresbericht zur Diskriminierung in Deutschland vorgestellt wird, ist das normalerweise keine große Sache. So wichtig das Thema ist, in der Vergangenheit wurde am Tag der Präsentation über die Defizite bei der Gleichbehandlung von Menschen hierzulande berichtet, es gab ein paar betroffene Kommentare, das war es dann schon. So hat es auch kaum jemanden interessiert, dass die Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vier Jahre vakant war.
Ferda Ataman: Holprige Berufung
Foto: Metodi Popow / IMAGO
An diesem Dienstag wird dem Termin für die Vorstellung des neuen Berichtes für das Jahr 2021 eine größere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Leider nicht, weil inzwischen die große Masse erkannt hat, dass die Defizite bei der Gleichbehandlung von Menschen wegen ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder Religion, ihrer Weltanschauung oder sexuellen Identität nicht genug beleuchtet werden können. Sondern, weil Ferda Ataman den Bericht vorstellen wird.
Ataman leitet seit ein paar Wochen die Antidiskriminierungsstelle, die Berufung der 43-Jährigen verlief ziemlich holprig. Weil Ataman als Publizistin gerne mal provokant und zugespitzt über Rassismus, Migration und Integration schrieb, hielten konservative und rechte Kreise sie für ungeeignet. Der Vorwurf: Sie spalte und polemisiere, statt zu integrieren. Am Ende wählte der Bundestag Ataman mit nur denkbar knapper Mehrheit ins neue Amt, in der Ampel hatten vor allem viele FDP-Abgeordnete Vorbehalte – Kanzler und Koalition schrammten nur knapp an der Krise vorbei.
Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt in der neuen Funktion steht Ataman nun unter besonderer Beobachtung. Man kann davon ausgehen, dass sie sich in Zurückhaltung üben wird, auf der Hut, ihren Gegnern keine Angriffspunkte zu liefern. Bleibt zu hoffen, dass sie dennoch klar anspricht, was in Deutschland bei der Diskriminierung im Argen liegt.
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Die Startfrage heute: Bei der Bundestagswahl 2021 traten Annalena Baerbock und Olaf Scholz im selben Wahlkreis gegeneinander an – in welchem?
Verlierer des Tages…
… ist Boris Johnson. Seine Tage als britischer Regierungschef sind gezählt, am 6. September wird er abgelöst , entweder von Außenministerin Liz Truss oder Ex-Finanzminister Rishi Sunak.
Premier Boris Johnson: Hier bei der Arbeit
Foto: OLI SCARFF / AFP
Aber die Art und Weise, wie der konservative Premier gerade inmitten von steigender Inflation, drohender Rezession und anhaltender Dürre seine Amtsgeschäfte zu Ende bringt, sorgt für Unmut. Erst in der vergangenen Woche war Johnson von einer fünftägigen verspäteten Flitterwochenreise nach Slowenien mit seiner Frau Carrie zurückgekehrt. Nun ist er schon wieder im Urlaub, diesmal erholt er sich laut Medienberichten in Griechenland.
Die Opposition zürnt, Johnson feiere »eine einzige große Party«, während das Land damit kämpfe, seine Rechnungen zu bezahlen. Ist der Ruf erst ruiniert, regiert es sich ganz ungeniert.
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Stadt, Land, Überfluss: Unser Autor stammt aus der Region zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz – und hat hier seine liebsten Tipps zusammengestellt. Für Feinschmecker, Familien, Radler und Städtebummler .
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