USA – plötzlich wieder Vorreiter
Als Lagearbeiterin hat man so manch Privileg, das gebe ich zu. Die Uhrzeit der Entstehung dieses Textes gehört nicht dazu. Ebenso wenig, dass man seine Leserinnen und Leser ständig mit Krieg und Krisen konfrontiert und dem Versuch, diese zu erklären. Vor allem derzeit fühlt es sich an wie die Verwaltung von Dauerkrisen.
Deshalb habe ich mir vorgenommen, diese Lage mit einer guten Nachricht zu beginnen: Denn heute stimmt das Repräsentantenhaus in Washington über das Klimapaket von Präsident Joe Biden ab. Die Zustimmung der Kammer ist praktisch nur noch eine Formalie. Hier haben die Demokraten eine größere Mehrheit – entscheidender war, dass das Gesetz den Gang durch den Senat Sonntagnacht bereits geschafft hat. Ein Ziel des Pakets: Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen die CO2-Emissionen um bis zu 44 Prozent reduziert werden.
US-Präsident Joe Biden: Endlich einmal ein Erfolg
Foto: Evan Vucci / AP
Zuletzt war Biden nicht gerade mit Erfolgen gesegnet. Es hagelte schlechte Umfrageergebnisse, Debatten über sein Alter liefen in Wiederholungsschleife. Und, ja, auch das: Das nun zu beschließende Paket ist nur eine kleine Handtaschenausführung des ursprünglich geplanten von 3,5 Billionen Dollar – aber es geht immer noch um 500 Milliarden Dollar.
Das ist übrigens nicht nur eine gute Nachricht für die USA, sondern für die ganze Welt. Erst kürzlich haben Wissenschaftler in einer Studie vorgerechnet, dass der globale Meeresspiegel bis zu fünf Meter steigen könnte, wenn das Eisschild in der Ostantarktis schmilzt. Das wäre zu befürchten, wenn es nicht gelingt, die im Pariser Abkommen festgelegten Temperaturgrenzen einzuhalten.
Damit sind die USA, wie so oft, plötzlich wieder Vorreiter, das Gesetz gilt als historischer Durchbruch. Mein Kollege Marc Pitzke, unser Korrespondent in New York, allerdings sagt einschränkend: »Die Frage ist, ob dieser Triumph von Biden auch beim Wähler ankommt«, und spielt auf die anstehenden Kongresswahlen Anfang November an. Damit sich auch die unter Preissteigerungen leidende amerikanische Bevölkerung für das Paket interessiert, hat es den charmanten offiziellen Namen »inflation reduction act«. Es beinhaltet auch Steuernachlässe und eine Verbesserung des Gesundheitswesens.
Wie die German Angst vor einem Super-GAU genährt wird
Ich gehöre zur Generation Gudrun Pausewang. Ihr Buch »Die Wolke« haben wir in der Schule gelesen. Als Kinder haben wir uns gegruselt und gefürchtet, verstanden haben wir nicht, was genau vor sich geht. Es waren die Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Mitschüler in der Grundschulzeit ihre Bananen wuschen und es immer fachmännisch in unseren Kinderunterhaltungen hieß, man dürfe ja jetzt keine Pilze mehr essen.
Ein Uniformierter mit russischer Flagge auf der Brust, im Hintergrund: Das AKW Saporischschja
Foto: ALEXANDER ERMOCHENKO / REUTERS
Dieser Tage lebt dieses Tschernobyl-Gefühl bei so manchem wieder auf. Es wird gekämpft am AKW Saporischschja in der Ukraine, dem größten Kernkraftwerk Europas, das seit Anfang März von russischen Truppen besetzt wird. Das AKW ist ihre Geisel, samt Mitarbeitern, und offensichtlich benutzen sie es als Schutzschild für ihre Artillerie. Die Uno warnt, die Internationale Atomenergie-Behörde warnt, Präsident Wolodymyr Selenksyj ebenfalls. Der Präsident der Betreiberfirma Enerhoatom spricht von einem »äußerst gefährlichen Arbeitsmodus« und meint damit offenbar nicht nur den Beschuss, sondern auch die Stromversorgung des AKWs.
Anfang der Woche und zuletzt gestern Abend ist das Kernkraftwerk erneut beschossen worden. Beide Seiten beschuldigen einander. Es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu sagen, wer die Verantwortung trägt. Aber wer hier der Angreifer ist und einen Krieg gegen Nachbarland begonnen hat, das lässt sich sagen. Und damit Ängste vor einem Gau auslöst. Das ist offenbar auch die Absicht Russlands.
Mein Kollege Thore Schröder, der als Krisenreporter für uns regelmäßig aus der Ukraine berichtet, hat in unserer aktuellen Ausgabe (ab heute Mittag auf der Seite, morgen am Kiosk) ein Stück über das AKW geschrieben. Er war in Saporischschja und in Nikopol, praktisch gegenüber dem AKW, am anderen Ufer des Flusses Dnjpr. Er hat mit Waffen- und Atomkraftexperten gesprochen, mit Offizieren, Politikerinnen sowie mit Arbeitern. Er schreibt: »Das Insitute for the Study of War in Washington warnt, dass Russland das AKW benutze, um westliche Ängste vor einem nuklearen Desaster in der Ukraine zu schüren – und so Zweifel an den Waffenlieferungen zu wecken.«
Thore hat auch mit einem Ingenieur sprechen können, der immer noch jeden Tag bei der Arbeit erscheint. »Das war für mich das Bemerkenswerteste an dieser Recherche«, sagte er mir gestern Abend aus Kiew, »dieser Mann befindet sich gerade an einem der gefährlichsten Orte der Welt – aber er haut nicht ab, weil er sich verantwortlich fühlt.« Ich glaube, wenn dieser Mann einen einigermaßen kühlen Kopf bewahren kann, schaffen wir es auch.
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Frankfurter Polizei, dein Freund – von wegen
Unter all den derzeitigen Krisen dürfen andere Krisen nicht untergehen. Deshalb möchte ich an einen Vorgang erinnern, der nicht vergessen werden sollte. Vor dem Landgericht in Frankfurt am Main soll heute der Prozess gegen einen Berliner fortgesetzt werden, der als »NSU 2.0.« Drohschreiben gegen Menschen mit und ohne offensichtlicher Migrationsgeschichte verfasst haben soll.
Hass ist ja schon ästhetisch ein Problem, wie man an dem Angeklagten im »NSU 2.0«-Prozess sieht
Foto: POOL / REUTERS
Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, unter anderem an die Kabarettistin Idil Baydar, Linken-Chefin Janine Wissler, meinen »Welt«-Kollege Deniz Yücel und die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız – die im NSU-Prozess in München Opferhinterbliebene vertrat. Rassistische, beleidigende, frauenverachtende, volksverhetzende Schreiben, Dutzende davon.
Der Fall löste auch Ermittlungen gegen Polizisten in Frankfurt aus. Es geht um rechtsextreme Chatgruppen, um das Abrufen von Adressen, an die die Drohschreiben gingen (zum Teil per Fax), um Strafvereitelung im Amt und Verletzung von Dienstgeheimnissen. Es gibt Anklagen gegen Polizisten. Dass der beschuldigte Berliner womöglich willige Helfer bei der Frankfurter Polizei gehabt haben könnte, diese Vermutung äußerte Başay-Yıldız bereits vor Monaten. Vorgesetzte sollen verdächtige Kollegen und gedeckt haben , wie es nun auch heißt.
Offensichtlich gibt es ein Rechtsextremismus-Problem bei der Frankfurter Polizei, vergangenes Jahr wurde bereits das Frankfurter Spezialeinsatzkommando aufgelöst – wegen rechtsextremer Chats.
Bei allem Schock über diese Zustände, darf man sich auch darüber freuen, dass vieles ans Licht kommt. Dass sich viele kritische Polizistinnen und Polizisten für einen Detox in ihrem Berufsstand einsetzen. Die Polizei ist die Institution, der die Deutschen mit am meisten vertrauen . Niemand sollte Angst vor seiner Polizei haben müssen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Özlem Topçu