Sollten Russen noch reisen dürfen?
Es ist nur eine der vielen unerträglichen Begleiterscheinungen des an sich schon unerträglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine: Die Vorstellung, dass Russinnen und Russen Urlaub machen und es sich gut gehen lassen, irgendwo in Europa, während ihr Präsident einen Angriffskrieg führt. Vor allem jene, die den Krieg und das Vorgehen des russischen Präsidenten unterstützen und wenig Mitgefühl mit ihren Nachbarn haben – es sind nicht wenige, wie mein Kollege Christian Esch kürzlich eindrücklich und berührend beschrieb . Nicht nur, aber vor allem ist das aus ukrainischer Sicht unerträglich. Kriegsunterstützer, die sich an Stränden rekeln, während ukrainische Kinder sich bei Luftalarm in Keller retten?
Russische Touristinnen in Ägypten (2015)
Foto: MOHAMED EL-SHAHED/ AFP
Nun könnte eine interessante Debatte darüber beginnen, ob Russinnen und Russen noch Touristenvisa erhalten sollten. Maßgeblich treiben zwei Frauen diese Debatte voran: die Regierungschefinnen Estlands und Finnlands, Kaja Kallas und Sanna Marin. Kallas schrieb auf ihrem Twitterkanal : »Stoppt die Visavergabe an Russen. Europa zu besuchen, ist ein Privileg, kein Menschenrecht. Flugreisen aus Russland sind unterbrochen. Das bedeutet, während die Schengen-Länder Visa ausstellen, tragen die Nachbarn von Russland die Last (Finnland, Estland, Litauen – einzige Zugangspunkte). Es ist an der Zeit, den Tourismus aus Russland zu beenden – jetzt.«
Ich verstehe diesen Tweet so: Man möchte auch nicht als Durchgangsland auf dem Weg in andere europäische Länder herhalten, für Leute, die Europa und seine Werte verachten.
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Ihre finnische Kollegin hatte zuvor einen Gang höher geschaltet: »Es ist nicht richtig, dass Russen ein normales Leben führen, in Europa reisen und Touristen sein können, während Russland einen aggressiven, brutalen Angriffskrieg in Europa führt.« So klar dürfte es zumindest rechtlich nicht sein. Was etwa soll mit den bereits erteilten Touristenvisa passieren, die oft mehrere Jahre gültig sind ?
Auch der lettische Außenminister hatte sich bereits ähnlich geäußert und machte klar, dass es nicht um humanitäre Visa gehe.
Tatsächlich kommen sehr viele Russinnen und Russen nach Finnland . Seit die Corona-Restriktionen Mitte Juli gefallen waren, verzeichnete das Land offenbar einen rasanten Anstieg an Touristen, Busunternehmen in St. Petersburg bieten wieder Reisen ins Nachbarland an. Finnische Flughäfen dienen dazu, das europäische Flugverbot aus Russland zu umgehen.
Ob umsetzbar oder nicht – die Diskussion könnte an Fahrt aufnehmen, berührt sie doch das moralische Empfinden vieler Menschen.
Das dürfte auch dem Kommunikationsprofi Wolodymyr Selenskyj klar gewesen sein, als er kürzlich in einem Interview mit der »Washington Post« das Reiseverbot für Russen ins Spiel brachte. Es sei wichtig, sagte der ukrainische Präsident, dass die Grenzen geschlossen würden – und zwar für alle Russen, auch solche, die ihr Land verlassen hätten und gegen den Krieg seien. Die Russen, so Selenskyj, sollten in ihrer eigenen Welt leben.
Ein harter, ein kalter, aber aus seiner Sicht ein verständlicher Satz. Ich persönlich finde die Vorstellung beklemmend, wenn etwa russische Kriegsgegner, Oppositionelle oder einfach nur junge Studierende oder ängstlich Schweigende kein »Für-alle-Fälle«-Visum mehr bekämen.
Vielleicht handelt es sich am Ende eher um eine symbolische Debatte, weil die meisten Russen sich eine Reise nach Europa ohnehin nicht leisten können oder offensichtlich keinen »Auslandspass« haben, wie ich jetzt gelernt habe. Und dennoch: Seit Anfang des Jahres sollen Russen fast 60.000 finnische Visa beantragt haben. Ein Touristenvisum ist einfacher zu bekommen und steht nicht dafür, dass man seine Heimat für immer verlässt – die Entscheidung zu treffen, schafft nicht jeder. Als Tourist jederzeit einreisen zu können, kann einem wertvolle Zeit verschaffen. Ende August wollen die EU-Außenminister bei ihrem Treffen in Prag darüber beraten.
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Wer mit dem Feuer spielt, verdient den ausgestreckten Mittelfinger
Apropos russische Touristen. Die reisen ja gern auf die Krim, die ukrainische Halbinsel am Schwarzen Meer, die ihr Präsident seit 2014 besetzt. Am Dienstag haben sie nicht schlecht geschaut, als es plötzlich in Sichtweite der schicken weißen Strandbetten explodierte – ein mutmaßlicher Angriff auf eine russische Luftwaffenbasis.
Das war nicht nur eine kleine Erinnerung daran, was ihre Regierung etwas weiter nördlich derzeit dem Land antut, während sie in der Sonne baden; es war auch ein nicht zu unterschätzender Erfolg für die ukrainische Seite (die es nicht gewesen sein will – die Aussagen dazu sind bislang kämpferisch bis widersprüchlich).
Rauchschwaden im Urlaubsparadies, nahe dem russischen Militärstützpunkt
Foto: IMAGO/SNA
Viele Touristen reisten offensichtlich in Panik ab, einige unter Tränen, weil es hier doch so schön war. Neben der Tatsache, dass die Ukrainer vermutlich eine russische Militäreinrichtung treffen konnten, ist die psychologische Kriegsführung der Ukrainer interessant. Nachdem man sich offensichtlich in Moskau darauf geeinigt hatte, die Explosionen – kein Witz – als Ergebnis eines Verstoßes gegen die Brandschutzbestimmungen darzustellen, hieß es aus dem Verteidigungsministerium in Kiew: In der Tat, die Brandschutzbestimmungen, man sollte nicht rauchen, wenn in der Nähe explosives Material herumliege.
Mich erinnert der Hinweis auf den Brandschutz durch die Ukrainer – oder besser gesagt: die Attitüde dahinter – an die versuchte und zunächst geglückt Einnahme der Schlangeninsel. Sie erinnern sich, dieser kleine, aber geostrategisch nicht ganz unbedeutende Felsen vor der rumänischen Küste. Die Antwort der ukrainischen Soldaten auf der Insel auf die Aufforderung aus Richtung des russischen Kriegsschiffes, sich zu ergeben oder ansonsten bombardiert zu werden, war: »Russian warship, go f**k yourself.« Der Funkspruch ging damals um die Welt. Ein ausgestreckter Mittelfinger gegen die Übermacht, damals wie heute.
Was ist nur los mit der konservativen Seele?
Seit dem mehr oder weniger freiwilligen Rücktritt von Boris Johnson, dem britischen Noch-Premier, suchen die Tories eine neue Vorsitzende oder einen neuen Vorsitzenden, die oder der dann auch neuer Regierungchef(in) wird. Es treten gegeneinander an: Außenministerin Liz Truss gegen den ehemaligen Schatzkanzler Rishi Sunak, dessen Rücktritt Anfang Juli auch das Ende von Johnsons politischer Karriere einleitete.
Liz Truss während eines »hustings« in Darlington vor zwei Tagen…
Foto: Danny Lawson / AP
… und ihr Rivale Rishi Sunak auf derselben Bühne.
Foto: Danny Lawson / AP
Aber seien wir vorsichtig: vorerst.
Denn so wie es aussieht, wird Johnson bereits heftig vermisst. Mein Kollege Jörg Schindler reist derzeit durch das Land, um sich die sogenannten hustings anzuhören, also jene Wahlkampfveranstaltungen, bei denen sich Truss und Sunak vor Tory-Mitgliedern präsentieren müssen und um Unterstützung werben. Insgesamt soll es zwölf solcher hustings geben, bevor Anfang September die Tory-Mitglieder zur Wahl aufgerufen werden.
Heute sind Truss und Sunak in Cheltenham, etwa 150 Kilometer nordwestlich von London. Was Jörg über die Zusammenkünfte berichtet, kann einen nur erschüttern – nach all den illegalen Lockdown-Parties, den Lügen und dem Unernst . Besonders erstaune ihn, wie sehr die Tory-Mitglieder über Johnsons Sturz verärgert seien: »Fast alle Konservativen, mit denen ich vor Ort geredet habe, halten Johnson für einen brillanten Premier«, der von »überehrgeizigen Parteifreunden und Hetzmedien« aus dem Amt gejagt wurde – wegen ein paar »trivialer Verfehlungen«.
Aber vielleicht ist das ja nur der britische schwarze Humor, von dem man immer so viel hört?
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Die Startfrage heute: In welcher europäischen Hauptstadt gab es 2018 die meisten Niederschlagstage?
Verliererin des Tages…
… ist für mich die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, weil sie ein Foto bereut, das sie auf ihrer Reise nach Kiew unter anderem mit Bürgermeister Vitali Klitschko lächelnd mit einem Glas Sekt in der Hand zeigt. Faeser war mit ihrem Kabinettskollegen, Arbeitsminister Hubertus Heil, Ende Juli in die Ukraine gefahren , um ukrainische Politiker zu treffen und über Hilfen für den Wiederaufbau zu sprechen.
Der Sekt des Anstoßes: Innenministerin Nancy Faeser mit der deutschen Botschafterin in Kiew, Anka Feldhusen, Bürgermeister Vitali Klitschko und Arbeitsminister Hubertus Heil
Foto: Christophe Gateau / dpa
In der Residenz der deutschen Botschafterin kam das besagte Foto zustande. Daraufhin haben sich einig CDUler und Twitter und einige CDUler auf Twitter mächtig empört, und das hat offensichtlich Eindruck bei Faeser hinterlassen. Das Foto sei »nicht angemessen« gewesen, sagte sie nun. Bedauerlicherweise wurde es noch kleinteiliger: »Wir waren abends eingeladen bei der Botschafterin und mit dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko und haben letztlich das gleiche Getränk wie er gewählt«, fügte sie entschuldigend und sich-in-den-Staub-werfend hinzu. Ich frage mich, wie das bei dem Bürgermeister der angegriffenen Stadt ankommt, diese »Reue«. Was wäre denn die Alternative gewesen? Etwa: Herr Klitschko, sorry, bei dir ist Krieg, deshalb bin ich viel betroffener als du und trinke nicht mit?
Selten dürfte ein Glas Sekt politischer gewesen sein als dieses auf dem Balkon der Botschafterin. Man muss ihn, siehe oben, als ausgestreckten Mittelfinger gegenüber dem Aggressor sehen – und ebenjenen vielleicht auch mal hin und wieder zuhause zücken, wenigstens innerlich.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Özlem Topçu