Gelassen und flexibel
Das Szenario, das derzeit in Berlin mit Anflügen von Horror diskutiert wird, geht so: Im Herbst und Winter, wenn die Menschen in Decken eingewickelt in ihren kalten Wohnungen hocken, wenn die gestiegenen Preise noch stärker auf die Haushaltsbudgets drücken, kann es zum Aufstand in der Bevölkerung kommen.
Winter in Deutschland – wie kalt wird es in diesem Jahr?
Foto: Florian Gaertner / Photothek via Getty Images
Ist das Szenario realistisch? Sind die Deutschen so zittrig, dass sie einen unangenehmen Winter nicht aushalten können und ihr Heil womöglich bei der AfD suchen werden? Die Erfahrung der vergangenen 15 Jahre zeigt etwas anderes. Finanzkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Coronakrise – es war eine schwierige Zeit, aber die große Mehrheit der Deutschen hat das nicht zutiefst erschüttert. Sie haben sich als resilient erwiesen, als treue Anhänger der liberalen Demokratie.
Dazu haben auch die jeweils regierenden Politiker beigetragen, indem sie ihre Politik der Lage angepasst haben: in der Finanz- und Coronakrise vor allem durch soziale Maßnahmen, in der Flüchtlingskrise durch eine faktische Schließung der Grenzen. Egal, wie man das im Einzelnen bewertet, die Maßnahmen wirkten beruhigend, wirkten systemstützend.
Eine im Großen und Ganzen gelassene Bevölkerung, eine flexible Politik, das macht Hoffnung, dass die Bundesrepublik auch die Energie- und Preiskrise überstehen wird. Die Angst vor den Deutschen scheint mir deshalb übertrieben. Gleichzeitig sorgt sie dafür, dass die Politiker auch diesmal mit sozialen Maßnahmen die Krisenfolgen abmildern wollen. Das kann nur richtig sein.
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»Immer wieder habe ich Pause geklickt und auf die Leichen gezoomt«: In einem russischen Straflager sterben 50 Ukrainer – es sind die Verteidiger von Mariupol. Der Kreml macht Kiew verantwortlich. Militärexperten und Ex-Insassen glauben eher an eine gezielte Hinrichtung.
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Der Zaun
Heute geht es um einen unsichtbaren Zaun. Einen Zaun, der Europa und die Bundesrepublik gegen Migration abschotten soll. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) wird ein halbes Dutzend Urteile zu diesem Komplex verkünden. Themen sind Rettungsschiffe im Mittelmeer, Familienzusammenführung, Kindergeld für Zuwanderer, Regeln für Asylsuchende. Die Frage ist jeweils im Prinzip: Wie schwer wird es Migranten gemacht, in Europa oder speziell in Deutschland heimisch zu werden?
Polnische Polizisten an der Grenze zu Belarus (November 2021)
Foto: Sergei Bobylev / imago images/ITAR-TASS
Sichtbare und unsichtbare Zäune stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Weil sichtbare Zäune nach Unfreiheit aussehen, weil sie menschliche Dramen sichtbar machen, wollten die EU und Deutschland sie nicht mehr haben und versuchten sich mit einem Geflecht von Gesetzen und Regeln vor unbeschränkter Zuwanderung zu schützen. Im Prinzip ist das ein richtiger Ansatz. Allerdings fehlt dem Zaun der Gesetze und Regeln offenbar die Klarheit, Übersichtlichkeit, so dass sich die Gerichte viel damit befassen müssen. Am Ende ist das besser, als wenn Polizei oder Militär Zuwanderung verhindern sollen.
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Neue Enthüllungen zum Frontex-Skandal: Vertuscht, verschleiert, belogen
Wir wären Europameister
Alexandra Popp im Konfettiregen der Siegerehrung für die Engländerinnen
Foto: Sebastian Gollnow / dpa
Die Meister des Konjunktivs sitzen (oder stehen) erstaunlicherweise in den Fanblöcken von Fußballstadien. Denn die kontrafaktische Erzählung ist nirgendwo so beliebt wie dort. Hätte es beim Endspiel 1966 moderne Videotechnik gegeben, wäre das dritte Tor für England nicht anerkannt worden und Deutschland hätte den WM-Titel geholt. Würde Bayern nicht so unverschämt viel Geld für Transfers ausgeben können, wäre Borussia Dortmund Rekordmeister. Hätte ich nicht wegen eines Schnupfens gefehlt, als sich der Co-Trainer von Hertha BSC im Jahr 1971 in Berlin ein Spiel der E-Jugend von Wacker 04, meiner Mannschaft, anschaute, wäre ich entdeckt worden und heute wahrscheinlich Rekordtorschützenkönig der Bundesliga. Die Liste ist endlos.
Gestern wurde sie auf tragische Weise ergänzt: Hätte sich die Superstürmerin Alexandra Popp nicht kurz vor dem Spiel verletzt, wäre Deutschland und nicht England Europameister geworden. Das ist gewiss. Faktisch kann man sagen: Auch ohne den EM-Titel war die Leistung des deutschen Teams großartig.
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Deutschlands dramatische Niederlage im EM-Finale: Sie gehen nicht als Verliererinnen
Gesucht: das X-Euro-Ticket
Heute beginnt der letzte Monat für das 9-Euro-Ticket, heute wird die Protest-Plattform Campact vor dem Bundesfinanzministerium für eine Verlängerung demonstrieren. Über 110.000 Bürgerinnen und Bürger haben eine entsprechende Petition unterschrieben. Auch in Umfragen gibt es viel Zustimmung für diese Subvention.
Für den Staat ist das teuer, aber es ist gut angelegtes Geld, siehe oben. Es müssen ja nicht 9 Euro sein, bestimmt lässt sich ein höherer Betrag finden, bei dem die Bürger immer noch das Gefühl haben, entlastet zu werden, ohne dass sich der Staat überfordert. Gesucht wird nach einer neuen Zahl, nach dem X beim X-Euro-Ticket. 20? 30?
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Verkehrsforschung: Welche Lehren wir schon jetzt aus dem 9-Euro-Ticket ziehen können
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Die Startfrage heute: Im Jahr 2020 starb der Verhüllungskünstler Christo. Welches Bauwerk wurde 2021 posthum in Stoff gepackt?
Gewinner des Tages
Es gibt Zumutungen, die einen glücklich machen. Für meinen Urlaub hatte ich mir (mit, zugegeben, übertriebenem Ehrgeiz) vorgenommen, den Roman »Horcynus Orca« von Stefano D’Arrigo zu lesen, fast 1500 Seiten mit Szenen, die sich über 200 Seiten ziehen, eine über 400. Man hatte mich gewarnt. Man lese mitunter stundenlang, ohne dass die Geschichte vorankommt. Mir war etwas bange, als ich die Lektüre begann, aber nach 30 Seiten war ich ein Gefangener dieses Buches.
Ich weiß nun viel über die Fische und Delfine in der Straße von Messina, ich weiß nahezu alles über das Leben der Fischer auf Sizilien um 1940. Es ist ein Wissen, nach dem ich nicht gesucht habe, und noch immer würde ich gut ohne dieses Wissen auskommen. Das ist auch nicht entscheidend bei einem großen Roman: Entscheidend ist der Sog, der über Sprache entsteht, und in diesem Sinne gehört »Horcynus Orca« zum Besten, was ich jemals gelesen habe, auch dank der meisterhaften Arbeit des Übersetzers Moshe Kahn.
Das Meer sowie die Tiere und Menschen des Meeres sind in der Weltliteratur gut vertreten, durch »Moby-Dick« von Herman Melville oder »Der alte Mann und das Meer« von Ernest Hemingway. »Horcynus Orca« gehört in diese Reihe, für mich an die erste Stelle. Stefano D’Arrigo ist daher mein Gewinner des Tages.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Befürchtete Eskalation im Taiwan-Konflikt – deutsche Außenpolitiker warnen vor »katastrophalen Folgen«: Macht US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi auf ihrer Asienreise einen Stopp in Taiwan? Berichte darüber sorgen für massive Spannungen zwischen Washington und Peking. Nun werden auch aus Deutschland besorgte Stimmen laut.
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Spannungen im Norden des Kosovo – Bericht über Schüsse auf Polizisten: Laut der Nato ist die Sicherheitslage im Norden des Kosovo derzeit angespannt. Hintergrund sind neue Regeln an der Grenze zu Serbien – dort wurden Barrikaden errichtet und offenbar Schüsse abgefeuert.
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Auch britischer Finanzminister Zahawi unterstützt Truss: Im Rennen um die Nachfolge des britischen Premierministers Boris Johnson erhält Außenministerin Liz Truss weiter hochrangige Unterstützung: Finanzminister Nadhim Zahawi fordert zu ihrer Wahl auf.
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Ein Spaß für die Menschen – eine Qual für die Tiere: Katzen in Panik, Hunde in Lebensgefahr: Vermeintlich amüsante Haustiervideos in sozialen Medien bringen Rekordabrufe, Veterinäre sind entsetzt. Was ist lustig, was ist brutal ?
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit