Pragmatisch, pragmatischer, grün
Als Kind der Achtziger werde ich mich nicht mehr mit der Atomenergie anfreunden können. Niemals. Meine Anti-AKW-Sozialisation erfolgte wie bei so vielen im April 1986. Bei mir, dem damals 7-Jährigen, natürlich vor allem auf der Gefühls- statt der Verstandesebene.
Ich erinnere insbesondere diese eine Szene: Weil es geregnet hatte, durften wir die Spielgeräte auf dem Schulhof nicht mehr anfassen. Wo wir am Tag zuvor noch getobt hatten, war nun rot-weißes Flatterband. Eine ungreifbare, unbegreifliche, unsichtbare Gefahr, hereingeplatzt in den Wohlstandsalltag einer westdeutschen Kindheit.
Ein Grüner bin ich nicht, aber die ideologischen Schmerzen der Partei in der Diskussion um die AKW-Laufzeitverlängerung kann ich schon verstehen. Nur: Wenn Atomenergie tatsächlich dabei hilft, die Stromerzeugung mit Gas zu reduzieren, dann bin ich für die pragmatische Lösung, für ein paar Monate mehr Laufzeit. Zugegeben, dieser Schwenk mag mir leichter fallen als einer Partei.
Ein SPIEGEL-Team um meinen Kollegen Ralf Neukirch schreibt: »Bislang haben die Grünen die Zumutungen, die das Regieren mit sich bringt, erstaunlich klaglos akzeptiert. Die Partei unterstützt Waffenlieferungen an die Ukraine, sie trägt die größte Investition in die Bundeswehr seit Ende des Kalten Kriegs mit. Und statt sich von fossilen Energieträgern zu verabschieden, findet unter dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck eine Renaissance der Kohle statt. Doch mit dem Abschied vom Atomausstieg, auch wenn er nur temporär sein sollte, wäre eine Schwelle überschritten.«
Denn das Nein zur Atomenergie sei nun mal eines der zentralen identitätsstiftenden Themen der Partei. Weiterhin. Das verbinde etwa Ultrarealos wie den früheren Außenminister Joschka Fischer mit harten Linken wie Hans-Christian Ströbele. Der fasste in einem Tweet die Stimmung vieler zusammen: »Grüne wollten immer ›Frieden schaffen ohne Waffen‹, nun ›Frieden mit immer mehr schweren Waffen‹.« Und nun noch »›AKWs ja bitte‹?«, schrieb Ströbele. »Wann kippt die nächste Säule? Bloß nicht.«
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
Selenskyj kündigt Vergeltung an, Ex-CIA-Chef setzt auf Ukraine-Sieg – das geschah in der Nacht: Präsident Selenskyj wirft Russland vor, vorsätzlich Kriegsverbrechen zu begehen. Und: Der frühere CIA-Chef Petraeus hält einen ukrainischen Sieg für »immer wahrscheinlicher«. Der Überblick.
-
Deutsche Panzerhaubitzen in der Ukraine zeigen Verschleißerscheinungen: Bei deutschen Artilleriesystemen in der Ukraine gibt es erste Probleme. Nach SPIEGEL-Informationen sind einige der Panzerhaubitzen 2000 nach intensiven Gefechten bereits reparaturbedürftig .
-
Dieser Mann entscheidet, wer in Deutschland noch Gas bekommen wird: In deutschen Firmen geht die Angst um: Die Netzagentur könnte ihnen wegen Putins Krieg bald das Gas abstellen. »Wie in Wellen«, sagt Behördenchef Müller. Vor allem zwei Bundesländer dürfte es hart treffen.
Sieg in der Verlängerung?
Das letzte große Finale einer deutschen Fußball-Mannschaft habe ich vor acht Jahren in einer Kneipe voller Argentinien-Fans im Bundesstaat Delaware an der US-Atlantikküste verfolgt. Es war, najanu, intensiv. Sie erinnern sich: 113. Minute, Schürrle, Götze, 1:0, Party.
Deutsche Nationalmannschaft im Training
Foto: Sebastian Gollnow / dpa
Am Sonntagabend werde ich es entspannter angehen – Wohnzimmer statt Kneipe mit gegnerischen Fans – aber im Finalefieber werde ich nichtsdestotrotz sein, wenn Deutschland vor 90.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion gegen England spielt.
Und, wer wird Europameister? Das habe ich meinen Kollegen Jan Göbel gefragt, der unser Reporter vor Ort in London ist. Jan sagt: Vor der EM hätte er mit Blick auf eine solche Finalpaarung auf England getippt, und auch jetzt seien die Gastgeberinnen noch leicht im Vorteil. Aber er habe vor Ort eben auch erlebt »welch’ unglaublichen Teamgeist die deutschen Fußballerinnen während der EM entwickelt haben«. Fazit: »Daher tippe ich, dass Deutschland in der Verlängerung siegt.«
In jedem Fall stehe uns »eines der spektakulärsten Spiele der Geschichte im Fußball der Frauen« bevor: »Beide Teams haben eine klare Spielidee und mit Beth Mead und Alexandra Popp (jeweils sechs Treffer) die Topstürmerinnen der EM in ihren Reihen.«
Bis zum Sonntagabend können Sie sich auf SPIEGEL.de schon mal warm lesen: Wir haben ein Porträt von Lena Oberdorf im Programm, der besten deutschen Spielerin. Außerdem liefert unser Sport-Ressort natürlich eine ausführliche Gegneranalyse. Und hier finden Sie schon jetzt eine Geschichte über die Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg sowie ein Gespräch mit Ex-Nationalspielerin Tabea Kemme, die sich der Frage stellt, wie nachhaltig die Begeisterung hierzulande wirklich ist.
Alt oder Jung? Jung und Alt!
In der vergangenen Woche haben wir in der Redaktionskonferenz lange über eine Mitteilung des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden diskutiert. »In Deutschland leben so wenig junge Menschen wie noch nie« – so der Befund der Statistiker. Während die Bevölkerung mit 83,2 Millionen Menschen einen neuen Höchststand erreicht habe, sei der Anteil der 15- bis 24-Jährigen so gering wie nie seit Beginn der Erhebungen 1950: exakt zehn Prozent.
Erster Reflex bei mir: Oh weh, die Republik der Rentnerinnen und Rentner, zementiert auf absehbare Zukunft. Aber so einfach ist es vielleicht nicht. Und so veröffentlichen wir nun, zum Ende dieser Woche, zwei Meinungsbeiträge, die wichtige Perspektiven öffnen.
Nicht im Sinne eines Pro und Contra – sondern sie ergänzen sich, weiten den Blick.
Mein Kollege Alfred Weinzierl plädiert dafür, das Potenzial der Älteren besser zu nutzen: »Deutschland könnte anfangen, die Generation nicht als Last zu sehen, sondern als Kapital.« Die Alten seien heute »viel fitter, sie sind gebildeter und finanziell unabhängiger als ihre Vorgänger vor 30 oder 50 Jahren«.
Und schon jetzt bräche vielerorts das Leben in Teilen zusammen, »wenn Landärztinnen, Handwerker oder Schulbusfahrer nicht über ihr Renteneintrittsalter hinaus arbeiten würden«. Alfred argumentiert hier für einen variablen Renteneintritt, »der dem Dachdecker frühzeitig den Ruhestand gönnt, dem Akademiker am Schreibtisch aber einen späteren Ausstieg erlaubt«.
Mein Kollege Sebastian Maas thematisiert die Schwierigkeiten der heute Jungen: Hohe Mieten, unbezahlbare Immobilien, Inflation. »Aufzuwachsen zwischen Finanzkrise, Klimakrise, Coronakrise und nun noch einer Energiekrise macht keinen Spaß«, schreibt Sebastian hier : »Die Welt fühlt sich an wie ein Monopoly-Spiel, bei dem alle Straßen bereits vollgebaut sind und niemand U50 über Los gehen darf.«
Es heiße immer, den Jüngeren gehe es doch heute viel besser als ihren Vorgängern? »Das stimmt, wenn man die Auswahl an Unterhaltungselektronik meint. Aber nicht, wenn es um Chancen geht. Zwar können heute mehr Menschen ein Auslandssemester machen – doch leider brennt die halbe Welt, weil sich trotz aller Warnungen niemand in den Generationen unserer Eltern und Großeltern um den Klimawandel gekümmert hat.«
Man könne den jüngeren Generationen nicht verdenken, dass sie immer mehr versuchen, aus dem Hamsterrad auszubrechen, meint Sebastian: »Wer sich trotz Vollzeitstelle in manchen Gegenden niemals ein Haus oder auch nur eine Wohnung leisten können wird, hat verständlicherweise kein Interesse daran, sich kaputtzuarbeiten. Die antreibende Karotte vor unserer Nase hat bereits jemand anderes gegessen.«
Also, lesen Sie bitte die Texte der Kollegen. Beide.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute:
Gewinnerinnen und Gewinner des Tages …
… sind die Schulkinder in Deutschland. Ab nun haben alle Ferien, egal in welchem Bundesland sie zur Schule gehen. Meine Kollegin Swantje Unterberg hat einem Erziehungswissenschaftler mal ein paar generelle Fragen dazu gestellt. Etwa diese hier: Warum sind die Ferien eigentlich so lang?
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Baerbock kritisiert türkische Offensive in Syrien: Misstöne nach dem Austausch der beiden Außenminister: Baerbock nennt die türkischen Angriffe in Nordsyrien nicht gerechtfertigt. Ihr türkischer Kollege Çavuşoğlu widerspricht und formuliert seinerseits Erwartungen.
-
LKA durchsucht Wohnungen von fünf hessischen Polizisten: Das Landeskriminalamt Wiesbaden ermittelt gegen Beamte aus dem Polizeipräsidium Frankfurt – unter anderem wegen der »Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen«. Betroffen sind auch höherrangige Polizisten.
-
Spanien meldet ersten Todesfall durch Affenpocken: Es ist der erste tödlich verlaufende Fall einer Affenpocken-Infektion Fall in Spanien: Das Gesundheitsministerium in Madrid hat den Tod eines Patienten aus Valencia bekannt gegeben.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Der gefährlich halbherzige Kampf gegen die Affenpocken: Die Impfkampagne gegen die Affenpocken läuft nur schleppend an. Noch infiziert das Virus vor allem schwule Männer. Aber was, wenn es sich noch weiter ausbreitet ?
-
Und dann kommt der Endgegner: Millionen Deutsche müssen sich bis Oktober durch Formulare quälen, es geht um die neue Grundsteuer. Ich wollte meiner Mutter beim Papierkram helfen .
-
»Nur noch per Telefon, wir zerstören die IT. Ende«: Dokumente werden verbrannt, 15 Mercedes per Gabelstapler geplättet – damit sie den Taliban nicht in die Hände fallen: Der SPIEGEL hat die Tage vor dem Fall Kabuls rekonstruiert. Und das Versagen der Politik in Berlin.
-
»Nicht pervers, sondern sehr berührend«: Die Modetheoretikerin Barbara Vinken über Putins Kleidungsstil, warum sie das »Vogue«-Cover mit der ukrainischen Präsidentengattin für gelungen hält – und wieso wir alle Kleidung tragen, die einst im Krieg erfunden wurde .
Ich wünsche Ihnen ein gutes und erholsames Wochenende.
Ihr Sebastian Fischer