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News des Tages: Arbeitsmarkt, Andrea Nahles, Afghanistan, Kaffeekonsum

1. Neues Selbstbewusstsein

Die Republik erlebt historische Krisenzeiten. Die Nachrichtenlage von heute lässt kaum einen anderen Schluss zu: Die Inflation in der Eurozone hat sich im Juli beschleunigt. Gegenüber dem Vorjahresmonat erhöhten sich die Verbraucherpreise um 8,9 Prozent, wie das Statistikamt Eurostat mitteilte.

Russlands Überfall auf die Ukraine hat außerdem die Rohstoffmärkte durcheinandergewirbelt. Nicht nur das Öl aus Sonnenblumen, sondern auch deren Saatgut wird knapp. Im Großraum Freiburg, einem einstigen Hauptanbaugebiet für die Pflanzen in Deutschland, sorgt sich der Badische Landwirtschaftliche Hauptverband: »Es gibt Lieferengpässe für Sonnenblumen in Europa.«

Und dann wird auch noch das Taxifahren wegen der steigenden Energiepreise teurer, teilt der Bundesverband Taxi mit. Den Betrieben setzt neben dem Mindestlohn auch die Abwanderung von Fahrern zu.

Immerhin: Der Arbeitsmarkt bietet derzeit genug Jobs für Arbeitssuchende und wandelt sich daher in einen Arbeitnehmermarkt, in dem Beschäftigte mehr Macht als früher haben. »Wer sich heute bei uns neu arbeitslos meldet, hat im Durchschnitt nach 19 Wochen einen neuen Job«, sagt Andrea Nahles im Gespräch mit meinen Kollegen Markus Dettmer und Cornelia Schmergal . Die SPD-Politikerin bekleidet seit Kurzem als erste Frau den Chefposten bei der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitnehmer hätten heute ganz neue Möglichkeiten, meint Nahles. Zugespitzt könne man sagen: »Wir sind derzeit mehr Berufsberatung als Jobbörse.«

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Ihrem Eindruck nach gehe die jüngere Generation mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein in das Berufsleben als ihre eigene. »In den Neunzigerjahren hatten es selbst Physiker oft schwer, einen Job zu finden, und Literaturwissenschaftlerinnen wie mir wurde gesagt, lass es, du landest in der Arbeitslosigkeit.« Heute hätten junge Menschen die Wahl. Immerhin eine gute Nachricht an diesem Tag.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Viele Menschen hier fühlen sich verraten – von Kiew: Die Fenster mit Sandsäcken verbarrikadiert, das Grollen der Front allgegenwärtig: Viele ältere Einwohner, die noch in der Region Donezk ausharren, vertrauen trotz Putins Angriffskrieg eher Russland als ihrer Regierung. Woran liegt das? 

  • Unser Mann in Moskau: Gerhard Schröder ist für viele längst der Kim Jong Un der deutschen Politik. Auch seine Moskaureisen werden belächelt. Dabei ist es gut, dass er jetzt seine Kontakte nutzt .

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Übers Unterlassen

Vor ziemlich genau einem Jahr gab die Bundesregierung das Versprechen ab, die vom Tod bedrohten Menschen in Afghanistan zu retten, die für sie gearbeitet hatten. »Die Versprechen wurden gebrochen«, urteilt der SPIEGEL-Kolumnist und Strafrechtsexperte Thomas Fischer in seinem Text von heute.

Viele afghanische Ortskräfte und ihre Familien, Lehrer, Ärzte, Journalisten hätten gerne weiter für »unsere westlichen Werte« gekämpft, schreibt Fischer, aber: »Vergebens! Kein Marder, kein Leopard und kein Gepard wurde im Ring getauscht, keine Reservehaubitzen verschenkt, keine Panzerfaust geliefert.« Von den 70.000 gefährdeten Afghanen, die der damalige Außenminister Heiko Maas so schnell wie möglich in die Bundesrepublik holen wollte, ist allenfalls ein Bruchteil inzwischen hier angekommen.

Auch die SPIEGEL-Titelgeschichte diese Woche beschäftigt sich mit dem Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan vor einem Jahr. Damals überrannten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul. Dort saßen nicht nur viele Ortskräfte in der Falle, sondern auch der Gesandte in der Botschaft und seine Leute. Es begann eine abenteuerliche Flucht. Elitekämpfer wurden in Marsch gesetzt, Fluchtautos gekapert, geheime Anlagen zerstört.

Meine SPIEGEL-Kollegen Konstantin von Hammerstein und Matthias Gebauer werteten Dokumente und Nachrichtenwechsel aus und sprachen über Monate mit Beteiligten. Zum Beispiel mit Geschäftsmann Chris Klawitter, der alle Wege durch das Chaos von Kabul kannte, oder mit dem Gesandten Jan van Thiel, der als Chef der deutschen Botschaft versucht, die Bundesregierung aufzurütteln. Auch ein GSG-9-Mann (Deckname: »Fisch«), der die Evakuierung vorbereitete, packt aus.

Den ersten Teil ihres aufrüttelnden Reports können Sie als SPIEGEL+-Abonnentin oder -Abonnent schon heute lesen. Das neue Heft liegt ab Morgen am Kiosk. Es ist eine abenteuerliche und gleichzeitig ungeheuerliche Story, die die Kollegen Hammerstein und Gebauer da zu Papier gebracht haben. Man wünscht sich beim Lesen eigentlich nur, es wäre das Drehbuch zu einem Hollywood-Blockbuster statt die Realität.

3. Augen zu und durch?

Manche Deutsche sind pandemiemüde, andere vielleicht kriegsmüde. Um mit halbwegs geöffneten Augen irgendwie durch den Tag zu kommen, trinken jedenfalls sehr viele Menschen hierzulande Kaffee.

Insgesamt wurden im ersten Quartal pro Kopf und Tag durchschnittlich 3,7 Tassen konsumiert und im zweiten Quartal sogar 3,8 Tassen, wie der Deutsche Kaffeeverband in seiner jüngsten Marktstudie berichtete. Damit trinken die Deutschen so viel Kaffee wie noch nie.

Zum Aufwärtstrend trage vor allem »der sprunghaft gestiegene Konsum außerhalb der eigenen vier Wände bei«, hieß es in der Mitteilung. Kaffee sei in Deutschland mit Abstand das beliebteste Getränk, noch vor Mineralwasser und Bier. Daran ändern offensichtlich auch die gestiegenen Kaffeepreise nichts. Gespart werde lieber bei alkoholischen Getränken, heißt es beim Kaffeeverband, sowie insbesondere bei Fleisch- und Wurstwaren.

Dazu dürfte auch die Geschichte über einen fragwürdigen Schlachthof in Schleswig-Holstein beitragen, die mein Kollege Hubert Gude im aktuellen SPIEGEL aufgeschrieben hat. Die »Soko Tierschutz« hat in dieser Woche wegen »erheblicher Verstöße gegen das Tierschutzgesetz« Strafanzeige bei der Kieler Staatsanwaltschaft erstattet. Man wolle »diesen Betrieb, der in skrupelloser Art und Weise seinen Profit über das Tierwohl stellt, aus dem Verkehr ziehen«, sagt Vereinsvorstand Friedrich Mülln. Kollege Gude hat das Material der Tierschützer ausgewertet , die mit versteckter Kamera in dem Betrieb gefilmt hatten.

»Es sind Aufnahmen von Rindern, die minutenlang mit aufgeschnittener Kehle auf dem Boden liegen und mit den Beinen strampeln, bevor sie ausgeblutet sind; von Tieren, die mit einem Stahlseil vom Transporter heruntergezogen werden, weil sie offenbar nicht mehr selbstständig die wenigen Meter in den Schlachthof laufen können.«

Falls Sie vorhaben, am Wochenende Fleisch zu essen, kann ich Ihnen nur empfehlen, die Geschichte zu lesen. Nicht, weil ich Ihnen den Appetit verderben will. Sondern weil es wichtig ist, zu wissen, woher die toten Tiere auf dem Teller mitunter kommen.

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Podcast Cover


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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Lauterbach will Schulen im Herbst nicht schließen: Seit Wochen berät Gesundheitsminister Lauterbach mit Justizminister Buschmann über die Coronaregeln im Herbst – bislang ohne Ergebnis. Bei einer Sache sind sie sich offenbar inzwischen einig.

  • EU-Partner drängen Deutschland zur Verschiebung des Atomausstiegs: Angesichts der Gaskrise setzt die Bundesregierung auf Solidarität innerhalb der EU – und hält gleichzeitig am geplanten Atomausstieg fest. Bei einigen europäischen Partnern sorgt das für Kritik.

  • Mehr als 50 deutsche Extremisten wollten in die Ukraine reisen: Die Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine ziehen auch radikale Aktivisten aus Deutschland an: Nach SPIEGEL-Informationen zählten die Sicherheitsbehörden bereits 31 Ausreisen ins Konfliktgebiet – einige konnten gestoppt werden.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Deutsche Panzerhaubitzen in der Ukraine zeigen Verschleißerscheinungen: Bei deutschen Artilleriesystemen in der Ukraine gibt es erste Probleme. Nach SPIEGEL-Informationen sind einige der Panzerhaubitzen 2000 nach intensiven Gefechten bereits reparaturbedürftig .

  • »Unsere Priorität ist es nicht, den Planeten zu retten«: Die demokratische Republik Kongo versteigert gerade Öl- und Gaskonzessionen. Die Vorkommen liegen zum Teil im größten tropischen Torfgebiet der Welt. Experten warnen vor einer globalen Klimakatastrophe .

  • Computer könnten Ihre Wohnung heizen: Streaming, Gaming, Food-Selfies: Der digitale Alltag schluckt schon jetzt sechs Prozent des weltweiten Stroms. Beschleunigen Digitalisierung und Internet den Klimawandel? Oder können sie helfen, ihn zu bremsen? 


Was heute weniger wichtig ist

  • Mit Blaulicht auf die Bühne: Zu ihrem Konzert in Gelsenkirchen wären die Rolling Stones beinahe zu spät gekommen: Kurz vor ihrem Auftritt steckten Teile der Band auf der Autobahn fest – also rief das Team von Sänger Mick Jagger bei der örtlichen Polizei an. Die eskortierte die Band durch den Verkehr von der A2 bis zur Veltins Arena. Der Auftritt konnte so noch rechtzeitig stattfinden. Vor dem Konzert hatte die Polizei Gelsenkirchen noch vor einem Stau gewarnt. »›Don’t Stop‹ an der Ausfahrt Gelsenkirchen-Buer auf der Autobahn 2, sondern fahren Sie bis zur Anschlussstelle Herten«, war im Twitteraccount zu lesen, in Anspielung auf einen Song der Stones. »Von dort aus erreichen Sie bequem die Arena und ersparen sich eine ›Long Long While‹ auf der Autobahn«.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Eigentlich sollten Sie dieses Jahr abgeschaltet werden.« 

Cartoon des Tages: Check-in

Und heute Abend?

In Bayern feiern wir heute Ferienbeginn. Meine Abendbeschäftigung könnte sein, den Esszimmertisch vom großen Stapel Schulhefte zu befreien, die der Sohn die letzten Tage mit nach Hause gebracht hat. Am Mittwoch hat er stolz eine gelbe DIN-A3-Mappe voll selbstgebastelter und -gemalter Erinnerungen an sein erstes Schuljahr präsentiert. Seither frage ich mich: Ist das Kunst oder kann das weg? 

So kreativ die Werke des Siebenjährigen sind – ich wünschte, sie würden die Flure der Grundschule schmücken, statt uns Eltern ein schlechtes Gewissen zu machen. Jedes Mal, wenn ich an der gelben Mappe vorbeilaufe, erleide ich einen kleinen Stich ins Herz. Es scheint mir lieblos, die gesammelte Erstklässlerkunst an einer noch freien Stelle im Kellerregal verstauben zu lassen. Dann kann ich sie auch gleich wegschmeißen. Das traue ich mich aber nicht.

Statt den Weg zur Altpapiertonne schlage ich vielleicht doch lieber den zum Sofa ein. Meine Kollegin Nora Gantenbrink hat mir mit ihrer fulminanten Lobeshymne auf die Münchner Serie »Fett und Fett«  Lust auf einen Fernsehabend gemacht.

»In den einzelnen Folgen passiert quasi nichts Richtiges und doch alles«, schreibt Nora. Hauptfigur ist ein etwas verpeilter Typ namens Jaksch auf der Suche nach Liebe, einem Beruf, der einen ausfüllt, etwas Wärme, ja, das, was alle wollen eben. »Jaksch und seine Freunde haben alle gute Absichten, aber das meiste in ihrem Leben kommt zumindest anders als geplant – und dennoch werden sie nie als Verlierer dargestellt, sondern als ganz normale Leute«, so die SPIEGEL-Serienkritikerin. Diese beiläufige Inklusion von Fehlbarkeit in einer durchkapitalisierten Welt mache »Fett und Fett« zur besten Serie des Sommers. Ich bin gespannt.

Ein schönes Wochenende wünscht
Ihre Anna Clauß

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