: Annalena Baerbock in Griechenland, Friedrich Merz in Litauen, Porsche-Chef Oliver Blume gibt Nebenfunktionen ab //
Auf grosser Tour
Bei Auslandsreisen mit Angela Merkel galt: Auf dem Hinflug wird eher nicht uber deutsche Innenpolitik geredet, auf dem Ruckflug nach Deutschland eher schon. Ich erinnere mich an Fluge wahrend einer Afrikareise, auf denen die Kanzlerin detailliert uber Kenia, Angola und Nigeria zu briefen wusste, obwohl wir Journalisten doch gern die ein oder andere, uns geografisch naherliegende Frage hatten beantwortet haben wollen. Na gut, die Regel war die Regel war die Regel.
Aber Merkel war nicht immer so, nein. Als Oppositionsfuhrerin veroffentlichte sie kurz vor einer US-Reise im Februar 2003 – also kurz vor Beginn des Irakkriegs, den die rot-grune Bundesregierung ablehnte – einen Beitrag in der >>Washington Post<>Schroder spricht nicht fur alle Deutschen<<.
In der Folge war ordentlich Dampf im Regierungslager. SPD-Fraktionschef Franz Muntefering warf der CDU-Chefin >>Diffamierung<>nicht madig zu machen<<.
Merkels Nachnachnachfolger Friedrich Merz war gestern in Polen und heute in Litauen. Er sagt zwar nicht: Scholz spricht nicht fur alle Deutschen. Aber allzu freundliche Worte fand er in Warschau auch nicht fur die Bundesregierung, die wegen des stockenden Panzer-Ringtauschs ostlich der Oder aktuell nicht wohlgelitten ist. Merz stellte klar: Die deutschen Panzer mussen kommen, >>diese Kompensation muss geleistet werden, so wie die polnische Regierung es erwartet<<. Basta.
Annalena Baerbock ist derweil in Griechenland und der Turkei unterwegs. Kritik an der eigenen Regierung gibt’s von der Aussenministerin logischerweise nicht. (Obwohl das so logisch gar nicht ist, denken Sie mal an Herbert Wehner anno dazumal, als er in Moskau seinem Kanzler Willy Brandt daheim attestierte, der Herr bade gern lau).
Aber Baerbock hat bestimmt genug mit den Regierungen in Athen und Ankara zu tun. Die beiden Nato-Partner sind ja traditionell nicht so arg freundschaftlich miteinander unterwegs, ausserdem schwelt ein weiterer Konflikt um – wie konnte es in diesen Tagen anders sein – Erdgasvorkommen im ostlichen Mittelmeer.
Und dann ist da noch dies: Baerbock konnte den griechischen Ministerprasidenten Kyriakos Mitsotakis am Vormittag auf den Untersuchungsbericht der EU-Antibetrugsagentur Olaf ansprechen.
Denn deren Ermittler haben detailliert die Menschenrechtsverletzungen der griechischen Kustenwache dokumentiert, die in der Agais Asylsuchende in wackeligen Booten oder aufblasbaren Rettungsinseln systematisch auf dem Meer aussetzt. Und sie zeigen auch, wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex in diese illegalen Machenschaften der Griechen verwickelt war. Meine Kollegen Giorgos Christides und Steffen Ludke haben den Bericht gelesen .
>>Es ist mir wichtig, dass wir diese Falle systematisch aufklaren<>dass jede Grenze eben auch eine Tur haben muss, und dass an den Aussengrenzen unsere europaischen Werte gelten<<.
Tater und Opfer
In Berlin ist die Geschichte uberall. Diese Woche war ich mit dem Fahrrad am Britzer Verbindungskanal unterwegs, auf Treptower Seite, gegenuber liegt Neukolln. Auf dieser Seite lichter Wald und Kleingarten, auf jener Industrieanlagen. Und am Ufer eine rostfarbene Gedenkstele fur Chris Gueffroy, den letzten Mauertoten.
Der 20-Jahrige wurde am 5. Februar 1989 von DDR-Grenzern erschossen, direkt ins Herz getroffen. Neun Monate vor dem Fall der Mauer. Erst zwei Tage nach dem Tod des Sohnes erfuhr es die Mutter.
Gueffroy und ein Freund hatten geglaubt, der Schiessbefehl sei ausgesetzt, deshalb entschlossen sie sich zur Flucht. Aber Erich Honecker hatte den Befehl nicht ausgesetzt.
Der Todesschutze wurde drei Jahre spater zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, wieder zwei Jahre spater wurde das Urteil aufgehoben, abgemildert zu zwei Jahren auf Bewahrung. Die meisten Mauerschutzen kamen so davon. And Honecker?
Der wurde heute vor 30 Jahren, am 29. Juli 1992, von der Sowjetunion an die Bundesrepublik ausgeliefert, auf dem Flughafen verhaftet und ins Gefangnis in Berlin-Moabit gebracht, im Herbst begann der Prozess.
Allerdings war davon auszugehen, dass der unheilbar an Krebs erkrankte Honecker das Ende des Verfahrens wohl nicht mehr erleben wurde. Der Ex-Diktator legte Verfassungsbeschwerde ein, im Januar 1993 kam er auf freien Fuss und reiste nach Chile aus.
Honecker und Gueffroy, Opfer und Tater. Ein paar Meter entfernt von der Stele verlauft die Chris-Gueffroy-Allee, fuhrt uber die Chris-Gueffroy-Brucke ruber nach Neukolln, in den Westen.
Dr. Jekyll & Mr. Hyde
Gestern beim Aufraumen ist mir ein Buch aus der zweiten Regalreihe aufgefallen. Der Einband schon ein wenig vergilbt, lange nicht in Handen gehalten, deutsche Erstausgabe von 1997. >>Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet<<, geschrieben vom Publizisten und Historiker Sebastian Haffner.
Das war lange vor seiner Karriere bei >>Stern<< und Co. in der Bundesrepublik, geschrieben und veroffentlicht 1940 im Londoner Exil, um den Briten die Deutschen, ihren Kriegsgegner, zu erklaren. Das Buch solle, so schreibt Haffner im Vorwort, >>auf ganz bescheidene Weise helfen, den Krieg zu gewinnen<<.
Ich blatterte also hin und her, las hier und da und erinnerte mich wieder an den Reiz dieses Buches: Dass da ein Zeitgenosse (und kein Historiker in der Ruckschau) die Frage zu klaren versucht, was bloss in die Deutschen gefahren ist. Und wie man sie von ihrem ublen Kurs abbringen kann.
Ein Kapitel handelt von der >>loyalen Bevolkerung<>40 Prozent<>die dem Naziregime treu dienen, ohne Nazis zu sein<>Weil es ihr Krieg ist, mochten die Nazis ihn gewinnen. Die loyalen Deutschen mochten ihn, obwohl es nicht ihr Krieg ist, gewinnen, weil sie es fur richtig und angemessen halten, in Kriegen des Vaterlandes den Sieg herbeiwunschen.<<
Haffner nennt es den >>tagtaglichen Selbstbetrug<< der Loyalen.
Die seien im Privatleben ubrigens >>oft anstandig, sympathisch und liebenswurdig, manchmal auch hochgebildet<<. Und gleichzeitig wurden im Namen dieser zivilisierten Leute Graueltaten begangen. Von der Anstandigkeit des Deutschen bleibe nichts ubrig, wenn die Deutschen als politische Masse auf den Plan traten: skrupellos, arglistig, unzuverlassig.
Haffner weiter: Der Durchschnittsdeutsche merke gar nicht, dass er in der Politik gegen die Moral verstosse, ihm erscheine Politik einfach generell als unmoralisch. Machen doch alle anderen auch so!
Der Autor schlussfolgert: Andere Nation hatten das meiste Vertrauen zu denjenigen ihrer Politiker, >>in denen sie sich selbst wiedererkennen<>bedeutend, damonisch, genial, hervorragend<>keine ehrlichen Bevollmachtigten und Sachwalter haben, sondern Idole. Wenn ihr Idol sie im Stich lasst – wenn es ihren Krieg verliert – wird ihm alle Schuld zugeschoben und er wird vom Postament geschoben.<<
Mal ehrlich, haben Sie gerade an Wladimir Putin und die Russen gedacht?
So jedenfalls ging es mir beim Lesen. Na klar, Putin ist nicht Hitler, alles richtig. Aber was Haffner hier beschreibt, das sind Mechanismen, die in einer politisch luftdicht verpackten Bevolkerung ablaufen konnen. Beobachtungen, die vielleicht auch heute zu erklaren helfen, warum so viele Russinnen und Russen sich loyal verhalten gegenuber einem Kriegsverbrecher.
Haffner widmet sich der Gruppe der Loyalen ubrigens deshalb so ausfuhrlich, weil er sie nicht verloren gibt, weil er glaubt, dass man sie noch erreichen kann. Er sollte sich tauschen, damals.
Aber Putin ist ja nicht Hitler und Geschichte wiederholt sich nicht.
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… ist Oliver Blume. Der Mann soll ja bekanntermassen Porsche-Chef bleiben und zusatzlich noch VW-Chef werden. Eine bisher ungekannte Doppelrolle. Dafur will er nun einige Nebenfunktionen abgeben, wie meine Kollegen Simon Hage und Martin Hesse recherchiert haben.
Demnach ist geplant, dass sich Blume von seinem derzeitigen Posten des VW-Produktionsvorstands zuruckzieht. Auch Aufsichtsrats- und Beiratsmandate mochte Blume abgeben. Anders als der bisherige VW-Konzernchef Herbert Diess wird Blume wohl auch nicht den Audi-Aufsichtsrat fuhren.
Ich finde die Kombination aus VW und Porsche ganz sympathisch. Vielleicht gelingt es Blume ja nach Jahren des asthetischen Niedergangs im >>Sportwagen<<-Bau, wieder an bessere Zeiten anzuknupfen. Ein Porsche 924 aus den Siebzigerjahren zum Beispiel, gefertigt bei Audi in Neckarsulm mit VW-Teilen, stellt zumindest beim Design jedes aktuelle Porsche-Produkt in den Schatten, oder?
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Ihr Sebastian Fischer