Wie viel Schutz darf’s noch sein?
Es kann jetzt jeden Tag soweit sein, halten Sie sich bereit. Er rechne mit Ergebnissen »in sehr kurzer Zeit«, hat der Gesundheitsminister gesagt. Denn gemeinsam mit FDP-Justizminister Marco Buschmann arbeitet Karl Lauterbach an einem Entwurf zur Neufassung des Infektionsschutzgesetzes.
Etwas prosaischer ausgedrückt: Die beiden kämpfen es miteinander aus, wie geschützt wir im Herbst und Winter in die nächsten Coronawellen gehen. Die Rollen in der Ampelkoalition scheinen klar verteilt: FDP für weniger Schutz, SPD und Grüne für mehr.
De facto haben wir in den vergangenen Monaten das FDP-Modell ausgetestet, also Sommerwelle und Durchseuchung. Im Gegenzug hat das sehr vielen von uns ein weitgehend normales Leben ermöglicht, manche scheinen Corona sogar gänzlich verdrängen zu können. Das muss ja nicht schlecht sein, jedenfalls ist FDP-Bashing nicht angebracht.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber vermutlich geht es Ihnen ganz ähnlich wie mir: Es ist zu diesem Zeitpunkt der Pandemie schwer zu sagen, was richtig und was falsch ist. Das empfand ich zu anderen Zeiten, mit anderen Virusvarianten, anders.
Versuchen wir es mit dem gesunden Menschenverstand, mit ein paar grundlegenden Dingen, auf die sich doch alle einigen können sollten:
Dann müssen wir für den Herbst zuallererst anstreben, dass das Gesundheitssystem funktioniert, nicht durch Corona-Ausfälle beim Personal lahmgelegt oder durch Intensivpatienten überlastet ist.
Wir müssen zweitens sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche regelmäßig (!) in ihre Kitas und Schulen gehen können, dass ihr Alltag nicht von der Pandemie geprägt wird.
Wir brauchen drittens eine überzeugende Impfkampagne.
Und wir müssen viertens jene vulnerablen Gruppen schützen, die allein durch Impfungen nicht ausreichend geschützt sind.
Was folgt daraus? Wenn wir uns als Gesellschaft sowie sich SPD, Grüne und FDP als Koalition auf diese vier Grundanforderungen einigen können, dann kommen wir an einer möglichen Maskenpflicht für bestimmte Bereiche nicht vorbei. Abgestuft könnte dies je nach Infektionslage auch für Regeln wie 2G oder 3G gelten. Lieber den Zutritt zu Klubs und Bars reglementieren als erneut Ausfälle in Schulen erdulden.
Ich habe gestern Abend mit meiner Kollegin Milena Hassenkamp gechattet, damit ich hier keinen Unsinn schreibe. Milena beschäftigt sich bei uns im Hauptstadtbüro mit Gesundheitspolitik:
Fischer, Sebastian: Hey Milena, Frage für die LAGE: Wann kommt denn endlich dieser Entwurf zum Infektionsschutzgesetz?
Hassenkamp, Milena: Eigentlich noch in dieser Woche, aber wenn Lauterbach und Buschmann verhandeln, dann wird meist bis zur letzten Minute gestritten.
Fischer, Sebastian: Was wird am Ende drinstehen?
Hassenkamp, Milena: Maskentragen in Innenräumen finden beide sinnvoll, FDP hat Lockdowns und erneute Schulschließungen ausgeschlossen. Vielleicht einigen die sich auf Testkonzepte.
Fischer, Sebastian: Merci. Und wann ist die Pandemie vorbei?
Hassenkamp, Milena: Haha.
Sommermärchen
Entschuldigung, wo findet im Winter noch mal diese komische Männerfußball-WM statt? Egal. Können wir vergessen. Jetzt ist Sommer, jetzt ist Fußball. Und welch’ ein Fußball. Das deutsche Team um Kapitänin Alexandra Popp hat gestern Abend Frankreich 2:1 geschlagen und steht am Sonntag im Finale gegen Gastgeber England vor erwarteten 90.000 Zuschauern im Wembley-Stadion.
Alexandra Popp, Torschützin zum 1:0
Foto: Alex Pantling / Getty Images
Der EM-Titel – es wäre bereits der Neunte für Rekordsieger Deutschland – käme zur rechten Zeit: ein sportlicher Stimmungsaufheller gegen das andauernde Krisengefühl. Fußball kann ja hochpolitisch sein.
Ich erinnere mich noch, wie enttäuscht mancher SPD-Stratege war, als Gerhard Schröder nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2005 auf Neuwahlen setzte. Und nicht das Folgejahr mit der Weltmeisterschaft im eigenen Land abwartete, um von der Stimmung infolge eines möglichen WM-Siegs zu profitieren.
Deutschland bekam dann zwar keine Weltmeister, aber ein Sommermärchen. Und die neue Kanzlerin Angela Merkel wich der Nationalmannschaft die nächsten 16 Jahre nicht mehr von der Seite.
Sommermärchen klingt im Krisenjahr 2022 fast zu schön, um wahr zu werden.
Ideologisches Wärmefeuer passé
Was ist bloß mit den Grünen los? Hatte denn je zuvor eine demokratische Partei in Deutschland in so kurzer Zeit einen solchen Wandel vollzogen? Die SPD zum Beispiel benötigte knapp 100 Jahre für den Abschied von Karl Marx.
Atomkraftwerk Isar 2 bei Landshut
Foto: Armin Weigel / dpa
Die Grünen aber sind jetzt die Treiber bei Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, außerdem der international geachtete Stabilitätsanker in der Regierungskoalition – und sie treten in diesen Tagen ihr letztes ideologisches Wärmefeuer aus: Den lang ersehnten definitiven Ausstieg aus der Atomenergie zum 31. Dezember. Dann nämlich sollen die letzten drei deutschen Meiler eigentlich vom Netz gehen.
Aber plötzlich ist überall von Sachzwängen die Rede.
Wird die Basis das mitmachen? Oder wird die Atomdebatte für die Grünen das, was für die SPD die Agenda2010 war: ein parteipolitisches Desaster?
Immer mehr führende Grüne möchten wegen der Energiekrise einen temporären Weiterbetrieb der Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus nicht ausschließen. Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht das so und hat einen »Stresstest« veranlasst, der Klärung bringen soll. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt hat das schöne Wort vom »Streckbetrieb« publik gemacht. So muss man nicht von der Laufzeitverlängerung sprechen.
Und im grün-rot regierten München, wo die Stadtwerke 25 Prozent am AKW Isar 2 halten, sagt die grüne Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden: Der Streckbetrieb dürfe kein Tabu sein, sollte ein Engpass bei der Stromversorgung drohen.
Ex-Minister Trittin, empört
Foto: Swen Pförtner / imago images/spfimages
Jürgen Trittin, in der rot-grünen Koalition einst der Vater des deutschen Atomausstiegs, zeigt sich im Interview mit meinem Kollegen Serafin Reiber verärgert . Welches Signal die Münchner Grünen gerade an die Partei sendeten, fragte Serafin. Darauf Trittin: »In meinem Landesverband Niedersachsen löst das gerade im beginnenden Landtagswahlkampf genervtes Kopfschütteln aus.«
Heute Vormittag will der »Bund für Umwelt und Naturschutz« (BUND), eine wichtige grüne Vorfeldorganisation, seine Studie zum »AKW-Sicherheitszustand und einer Laufzeitverlängerung« präsentieren. Schon am Titel in der Pressemitteilung ist klar zu erkennen, wohin die Reise geht: »Unsicher, unrentabel, unnötig.«
Ein Termin, bei dem die Entfernung zwischen Parteiführung und Parteiumfeld zu ermessen sein wird. Alte Überzeugungen treffen auf neuen Pragmatismus. Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Monate und die Diskussionen bei den Grünen.
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Selenskyj verspricht der EU Strom, Russland kämpft offenbar mit massiven Verlusten – das geschah in der Nacht: Angesichts drohender Energie-Engpässe in Europa kündigt der ukrainische Präsident Hilfe an. Und: Die Zahl der gefallenen Russen ist laut US-Erkenntnissen viel höher als angenommen.
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»Den russischen Streitkräften geht die Luft aus«: Russlands Offensive kommt im Donbass nur schleppend voran. Moskau möchte die bereits eroberten Gebiete aber möglichst bald unter seinen nuklearen Abschreckungsschirm stellen. Warum, sagt der Militärexperte Ed Arnold.
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Kommentar: Setzt nicht auf China: Auch wenn die Volksrepublik großen Einfluss in Moskau hat, wird sie Putin in der Ukraine kaum in den Arm fallen. Hoffnungen auf eine Vermittlerrolle Chinas sind verfehlt – sie liegt nicht in Pekings strategischem Interesse.
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Berlin schaltet Strahler an 200 Sehenswürdigkeiten ab: Siegessäule und Dom bleiben bald dunkel. Die Idee soll Energie sparen – wirtschaftlich lohnt sie sich erst mal nicht.
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Die Startfrage heute: Auf welche rechtliche Grundlage stützt sich der private Waffenbesitz in den USA?
Gewinner des Tages …
… … sind wir Gas-Sparer. Gestern an dieser Stelle schrieb ich von Putins Stasi-Methoden im Gaskrieg, seinen Zersetzungsmaßnahmen gegen Europas Gesellschaften. Eines der Gegenmittel: Jetzt schon so handeln, als ströme gar kein Gas mehr aus Russland.
Offenbar sind wir auf einem guten Weg, wie ich diesem Text meines Kollegen Michael Kröger entnommen habe: Einer Rechnung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft zufolge lag der Gasverbrauch im Mai um mehr als ein Drittel niedriger als im Vergleichsmonat 2021. Bereinigt um Temperatureffekte beträgt das Minus noch 10,8 Prozent. Im Juni sei ersten Zahlen zufolge sogar 19,2 Prozent weniger Gas verbraucht worden als im Vorjahresmonat. Es funktioniert.
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Papst weist alleinige Schuld der Kirche zurück: Bei einem Treffen mit Kanadas Premier Trudeau hat Papst Franziskus um Vergebung für die Übel gebeten, die Christen indigenen Völkern angetan haben. Zugleich sagte er, die Schuld liege auch bei anderen.
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Facebook mit erstem Umsatzrückgang seit Börsengang: Der Facebook-Konzern Meta hat seinen ersten Umsatzrückgang vermeldet. Nach Jahren mit rasanten Zuwächsen kommt die Entwicklung dem Ende einer Ära gleich.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer