Winter is coming
Ich muss dieser Tage oft an Ned Stark denken. Ned Stark ist eine Figur aus dem Fantasy-Epos »Game of Thrones«. Er war mir in seiner maulfaulen, hüftsteifen Art grundsympathisch, weshalb ich es traurig fand, dass er früh den Serientod starb. Stark kommt aus dem Norden der von Autor George R. R. Martin entworfenen Fantasiewelt, und weil es dort, im Norden, sehr lange sehr kalt werden kann, lautet der Leitspruch seines Hauses: »Winter is coming«. Ned Stark sagte ihn oft und gern, so lange er noch konnte.
Sean Bean als Eddard »Ned« Stark: Wer weiß schon, was heute gilt
Foto: LMK Media / Game of thrones / ddp
Ich habe den Satz jetzt jeden Tag im Ohr, wenn es um die Frage geht, ob und wie viel Gas uns hier im Winter zur Verfügung stehen wird. Wir haben uns mit dem Thema ja schon gestern beschäftigt, wir kommen auch heute nicht drumherum. Heute ist der lange erwartete Stichtag, an dem die Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 enden sollen und an dem sich deshalb (womöglich) entscheidet, ob und wie viel russisches Gas nun wieder nach Deutschland fließen wird. Gestern wurde gemeldet, es werde wieder Gas fließen, aber wer weiß schon, was heute gilt. Winter is coming.
Ich mag den Satz, weil in ihm ja mehr steckt als die Feststellung, dass irgendwann die Jahreszeiten wechseln. Eigentlich ist er eine Aufforderung: Seid vorbereitet, da kommt was auf uns zu, und deshalb passt er gut zur aktuellen politischen Lage. Die Bundesregierung, allen voran der Kommunikationskünstler Robert Habeck, tut ja derzeit einiges, um das Schlimmste zu verhindern: Sie ruft zum Gassparen auf, verneigt sich vor dem Emir von Katar, bringt LNG-Terminals auf den Weg (auch wenn das für diesen Winter nur noch von begrenztem Nutzen sein wird), lässt in großem Stil Gas einkaufen. Sie betreibt damit etwas, was es etwa in der Pandemie zu selten gab: vorausschauende Politik. In der Pandemie war es meist so, dass sich das Unheil lange für alle sichtbar anbahnte, die Regierungen in Bund und Ländern aber nichts oder zu wenig taten. Und dann war es zu spät. Diesmal ist das anders. Winter is coming.
Noch viel bitterer nötig wäre diese Art der Politik beim größten Thema unserer Tage, dem Klimawandel, aber da klappt das nicht, jedenfalls nicht gut genug. Dabei sind Hitze und Dürre ja nicht erst coming, sie sind bereits da und für alle spürbar, selbst hier, in Mitteleuropa. Aber so richtig, richtig schlimm wird es wohl erst nach der nächsten oder übernächsten Wahl. Das ist, so seltsam das klingen mag, ein Teil des Problems.
-
Wie Moskau schon vor 32 Jahren Litauen das Gas abklemmte: 1990 stoppte die Sowjetunion die Gas- und Öl-Lieferung ans kleine Litauen, um dessen Unabhängigkeit zu verhindern, drei Monate lang. Welche Lehren hat man dort aus dieser Erfahrung gezogen?
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
CIA geht von 15.000 russischen Gefallenen aus, Selenskyj warnt Europa: Hinrichtungen, Folter, sexuelle Gewalt – internationale Experten dokumentieren massive Vergehen russischer Soldaten. Und: Die USA haben sich zu Opferzahlen auf russischer Seite geäußert. Das geschah in der Nacht.
-
Wie das Gas nach Deutschland kommt: Heute endet die Wartung der Pipeline Nord Stream 1. Fließt jetzt wieder Gas nach Europa? Wie gut sind die Speicher gefüllt? Und wie viel LNG wird über Häfen importiert? Verfolgen Sie alle Daten im Live-Tracker.
-
»Was wir jetzt brauchen, ist ein Gamechanger«: Kanzler Scholz wägt Waffenlieferungen an die Ukraine stets gegen die Gefahr ab, in den Krieg hineingezogen zu werden. Der tschechische Außenminister Jan Lipavský findet das zu zaghaft .
-
Ukrainische Präsidentengattin attackiert Putin: Olena Selenska hat eine Rede im Kapitol von Washington gehalten – und die US-Polit-Elite um mehr Waffen angefleht.
Das rote Grauen
Seit Jahren hege ich eine heimliche Bewunderung für die CSU. Das hat weder mit ihren in der jüngeren Vergangenheit eher ausbaufähigen Wahlerfolgen noch ihrem (in mehrerlei Hinsicht ebenfalls ausbaufähigem) Personal zu tun. Sondern mit einer Fähigkeit, die heute, im Zeitalter von TikTok und Instagram, sehr gefragt ist, von der CSU aber schon seit Jahren, ach was, Jahrzehnten kultiviert wird. Es geht um Selbstinszenierung.
Heute geht die Sommerklausur der CSU-Landesgruppe im Kloster Banz in ihren zweiten Tag. Das ist den Nachrichtenagenturen diverse Meldungen wert, Reporter fahren dorthin (ja, auch vom SPIEGEL). Und auch wenn der Auftrieb im Vergleich zu früher etwas nachgelassen hat, gibt es noch immer eine Menge Aufmerksamkeit, wie eigentlich zu jeder Klausur der CSU-Landesgruppe – etwas viel, wie ich finde. Man muss das ja mal ins Verhältnis setzen und sich vorstellen, ein ähnliches Gewese würde um die Sitzung der nordrhein-westfälischen Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion gemacht, was grob vergleichbar wäre. Das passiert aber nicht, was nicht etwa daran liegt, dass die CSU so viel brillanter wäre. Das Positionspapier, über das sie im Kloster Banz debattiert, heißt tatsächlich »Mut zur Entscheidung«. So viel Worthülse muss man sich erst mal trauen.
Alexander Dobrindt und Markus Söder im Innenhof von Kloster Banz.
Foto: Nicolas Armer / dpa
Aber wie gesagt, Inszenierung können die Christsozialen, im Gegensatz zu den Sozialdemokraten. Ich erinnere mich an eine Klausurtagung des SPD-Parteivorstands an einem Ort namens Nauen. Damals war Sigmar Gabriel noch SPD-Vorsitzender, er hatte ziemlich schlechte Laune und fertigte drinnen im Sitzungsaal einen Genossen nach dem anderen ab. Wir Reporter lungerten draußen herum und wurden Zeuge, wie diverse Gabriel-Opfer den Saal verließen, um mal kurz Luft zu schnappen, eine zu rauchen oder weil sie einfach keine Lust mehr hatten. Die Klausur ging unter dem Titel »Das Grauen von Nauen« in die jüngere Parteigeschichte ein.
So etwas könnte der CSU nicht passieren. Oder nur dann, wenn mal wieder ein Wechsel des Ministerpräsidenten ansteht. Aber so schlimm steht es ja um Markus Söder noch nicht. Oder?
-
Klausur der CSU-Bundestagsabgeordneten: »Opposition ist opportunity«
Zahnräder im Wandel der Zeit
Falls Sie schon immer mal die Welt sehen und dafür noch gut bezahlt werden wollten, wäre heute ein für Sie wichtiger Stichtag gewesen. An diesem Donnerstag ist Bewerbungsschluss für das Auswahlverfahren des Auswärtigen Amtes, gesucht werden bis zu 80 Attachés und Attachées (so geht die weibliche Form) für den höheren Auswärtigen Dienst. Anfang September beginnt der schriftliche Teil, das mündliche Verfahren zieht sich bis Januar, danach werden diejenigen eingestellt, die es geschafft haben. Zuletzt gab es etwas Wirbel um den Auswahlprozess, was daran lag, dass er verändert wurde. Genauer gesagt: etwas vereinfacht.
Veränderungen finden viele im Auswärtigen Amt, kurz AA, eher blöd. Man sieht sich dort in einer langen Tradition, denkt eher in Jahrzehnten als in Jahren, und natürlich bilden sich viele, die irgendwann einmal den Auswahltest bestanden haben, mindestens heimlich ein bisschen was darauf ein. Im laufenden Verfahren fällt nun erstmals der dreistündige psychologische Eignungstest weg, stattdessen soll künftig mehr Wert auf Fachwissen, analytische und sprachliche Fähigkeiten gelegt werden – so habe ich es mir von meinem Kollegen Christoph Schult erklären lassen, der sich im Auswärtigen Amt sehr gut auskennt.
Da wollen die Bewerberinnen und Bewerber rein.
Foto: Marius Becker/ dpa
Ich habe für diese Reform große Sympathie, ich erinnerte mich spontan an einen Test, den ich vor vielen Jahren auf dem Kreiswehrersatzamt machen musste, weil ich angegeben hatte, dass ich zur Bundeswehr wollte. Ich musste dann unter anderem Bilder mit mehreren Zahnrädern anschauen und ankreuzen, welches sich wohl am schnellsten drehen würde. Ich konnte nur raten, weil mir diese Form der Intelligenz einfach nicht gegeben ist. Am Ende beschied man mir, für einen angehenden Abiturienten sei ich »Durchschnitt«, was man als 18-Jähriger, der glaubt, ihm liege die Welt zu Füßen, ja auch nicht ganz so gern hört.
Ich glaube aber, in dem reformierten Auswahlverfahren des AA steckt noch ein anderes, großes Thema. Es geht um die Frage, welche Bewerberinnen und Bewerber man eigentlich will und wer überhaupt noch bereit ist, einen Job zu machen, der mit einem modernen Familienbild (zwei Menschen arbeiten und kümmern sich zugleich beide um eventuell vorhandene Kinder) kaum noch vereinbar ist, weil man ständig versetzt wird – also ein Partner oder eine Partnerin immer zurückstecken muss, falls er oder sie nicht zufällig auch im Auswärtigen Dienst arbeitet. Es gehört schon ein hohes Maß an sozialer, auch emotionaler Kompetenz dazu, Beruf und Privates unter diesen Bedingungen so zu vereinbaren, dass alle damit leben können. Solche Diplomatinnen und Diplomaten findet man womöglich eher nicht mit Zahnrad-Tests.
Damit will ich übrigens nicht sagen, dass ich ein guter Diplomat geworden wäre. Eher im Gegenteil, leider.
-
Diplomaten-Test: Schaffen Sie es ins Auswärtige Amt?
Der Westen im Osten
Falls Sie zu den glücklichen Menschen gehören, die ihren Urlaub noch vor sich haben, zugleich aber nicht wissen, wohin es gehen könnte, sollten Sie den Text meines Kollegen Philipp Laage über den westlichen Teil von Rügen lesen. Rügen ist ja von Berlin nicht allzu weit entfernt, aber für den Sommer hatte ich es eigentlich abgeschrieben – zu voll, dachte ich, wie die Ostsee insgesamt.
Idylle auf Rügen
Foto: Stefan Sauer / picture alliance/dpa
Im Westen der Insel ist das offenbar anders: »Rügens westlicher und nordwestlicher Teil wird von Reisenden gern links liegen gelassen und hat sich deshalb eine angenehme Ruhe bewahrt«, schreibt Laage. »Dort sind weniger Menschen unterwegs, die Felder zwischen den Alleestraßen wirken weiter und üppiger dimensioniert, der Himmel erscheint ein wenig höher.«
Ich weiß schon, wohin ich in zehn Tagen fahre (ans Meer, allerdings nicht an die Ostsee, auch wenn ich sie sehr mag). Aber Rügens Westen, speziell die kleine Insel Öhe gegenüber von Schaprode, kommt für nächstes Jahr auf die Liste. Nur, wer weiß, vielleicht ist es dann mit der Ruhe dort vorbei. Je nachdem, wie viele Menschen den Text des Kollegen lesen.
-
Urlaub an der Ostsee: So schön ist Rügens ruhiger Westen
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: Wer sicher schwimmen können möchte, sollte mindestens die Anforderungen des Bronze-Abzeichens erfüllen. Was gehört nicht (!) dazu?
Gewinner des Tages…
…ist Xavier Becerra, Gesundheitsminister der USA. Becerra bekommt heute Besuch von seinem deutschen Kollegen Karl Lauterbach, der in Washington unterwegs ist. Lauterbach, so formuliert es die Nachrichtenagentur dpa, führt dort »vor dem Hintergrund der anhaltenden Coronavirus-Pandemie gesundheitspolitische Gespräche«.
US-Gesundheitsminister Xavier Becerra
Foto: Heather Khalifa / AP
Üblicherweise sagen Politiker vor solchen Treffen, sie wollten sich bei ihren Kollegen über die Lage informieren, aber wer Lauterbach ein wenig kennt, wird eher davon ausgehen, dass Lauterbach seinen Kollegen über die Lage informiert. Herr Becerra jedenfalls dürfte nach dem gesundheitspolitischen Gespräch mit Lauterbach ein paar Studien kennen, von deren Existenz er bislang noch nichts gehört hatte.
-
Lauterbach beantwortet User-Fragen: »Wir werden Einschränkungen haben«
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Ukrainische Präsidentengattin attackiert Putin: Olena Selenska hat eine Rede im Kapitol von Washington gehalten – und die US-Polit-Elite um mehr Waffen angefleht.
-
Familie und Freunde haben Abschied genommen von Ivana Trump: Donald Trump, seine Frau und seine Kinder haben Ivana Trump das letzte Geleit gegeben. Die Ex-Frau des ehemaligen Präsidenten war vor wenigen Tagen gestorben.
-
Unbekannte sägen Erinnerungsbäume für KZ-Häftlinge ab: Nahe der Gedenkstätte Buchenwald sind sieben Bäume abgesägt worden, die an Opfer des NS-Konzentrationslagers bei Weimar erinnern sollen.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Zahlen, bitte! Rohstoffknappheit, Inflation, Zinswende: Lisa sorgt als Fondsanalystin dafür, dass sich Geld auch in turbulenten Zeiten vermehrt – und sitzt dafür täglich über Excel-Tabellen. Wieso macht ihr das Spaß?
-
Der Vorwurf lebt: Mit dem Tod von Dieter Wedel hat das Landgericht München das Verfahren wegen mutmaßlicher Vergewaltigung gegen den Regisseur eingestellt. Damit bleibt der Fall juristisch ungeklärt.
-
Italien stürzt ins Chaos – mal wieder: Mario Draghi hat sein Vertrauensvotum gewonnen. Aber: Drei Parteien seiner Koalition haben dem Ministerpräsidenten ihre Ja-Stimmen versagt. Die Folge: das Land steht vor Neuwahlen. Der »Tag des Wahnsinns« in der Rekonstruktion.
-
112 gewählt? Bitte warten… In Berlin schlagen Rettungskräfte wegen Überlastung Alarm. Die Situation könne Menschenleben kosten – jetzt kommt auch noch die Hitze hinzu.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann