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News des Tages: EZB, Leitzins, Italien, Mario Draghi, Gaslieferungen

1. Die Europäische Zentralbank hebt den Leitzins gleich um einen halben Prozentpunkt an – gegen die hohe Inflation wirkt das wohl frühestens in einigen Monaten

Haben Sie je einen Kredit aufgenommen? Ich habe es in den letzten Wochen wegen einer Immobilie gemacht. An der heutigen Erhöhung des Leitzinses durch Europas Zentralbank finde ich weniger überraschend, dass sie doppelt so hoch ausfiel wie von vielen Fachleuten erwartet.

Ich finde überraschend, dass die Leitzinsen nun von null Prozent auf 0,50 Prozent steigen. Zu diesem Zins können sich Kreditinstitute bei der EZB Geld leihen; an ihre eigenen Kunden aber verleihen die Institute ihr Geld längst zu viel höheren Zinsen. »Immobilienkredite mit zehn Jahren Laufzeit kosten inzwischen deutlich mehr als drei Prozent«, schreibt mein Kollege Tim Bartz über die Bedeutung der Zinserhöhungen für Verbraucher wie mich, »und damit so viel wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr« .

Begründet wird die Zinsanhebung der EZB mit der Inflation. Sie ist mit derzeit 8,6 Prozent alarmierend hoch im Euroraum, auch weil der Ukrainekrieg und die Pandemiefolgen die Weltwirtschaft lähmen. »Der EZB-Rat hielt es für angemessen, einen größeren ersten Schritt auf dem Weg zur Normalisierung der Leitzinsen zu tun«, teilte die Notenbank heute mit.

Wenn Notenbanken die Zinsen erhöhen, hat das erst einmal keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Inflation. Selbst Notenbanker räumen ein, dass sechs, eher zwölf Monate nötig sind, damit die Verbraucherpreise sinken. Der Lieferstau in China mit seinem Null-Covid-Regime löst sich nur langsam auf. Dass der Kriegstreiber Wladimir Putin seine Armee aus der Ukraine zurückzieht, Weizenlieferungen freigibt und freiwillig den Gashahn aufdreht, ist ebenso unwahrscheinlich wie das Ende der Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland.

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All das aber treibt stark die Preise. Dennoch hoffen die Volkswirte der EZB, dass die Inflation in den kommenden Jahren wieder sinkt. Sie erwarten für 2023 eine Teuerungsrate von durchschnittlich 3,5 Prozent und für 2024 von 2,1 Prozent. Auch viele neutrale Experten glauben, dass sich die Lage beruhigt.

Gilt das auch für den Anleihemarkt? Dort hat die frühzeitige Ansage der EZB am 9. Juni, die Leitzinsen auf ihrer Sitzung an diesem Donnerstag anzuheben und mit dem Ankauf von Staatsanleihen aufzuhören, für ein regelrechtes Beben gesorgt. An dem werden auch die Staatsschulden gehandelt. Insbesondere die Anleihen von Italien – nach Griechenland das prozentual am höchsten verschuldete Euro-Mitglied und politisch instabil – verloren erheblich an Kurswert. Deshalb kündigte die EZB bereits am 15. Juni an, notfalls mit gezielten Käufen von Staatsanleihen deren Kurse zu stützen und Renditen zu senken, um einzelnen Ländern zu helfen.

»Dass die EZB ihre wichtigsten Zinsen nicht, wie seit Wochen erwartet, um 25, sondern sogar um 50 Basispunkte anheben würde, hatte sich seit wenigen Tagen abgezeichnet«, sagt mein Kollege Tim Bartz. Der Inflationsdruck sei inzwischen so hoch, dass auch die geldpolitischen »Tauben« kaum noch Argumente für einen lockeren Kurs haben. »Da hat sich in den Beratungen der Notenbankchefs und EZB-Direktoren die Stimmung in den letzten Tagen merklich gedreht.«

Die Inflation werde die EZB zwar damit kurzfristig nicht senken. Aber die Hoffnung sei, dass die Zentralbank die Inflations-Erwartungen »verankern« und die Inflation so doch in den Griff kriegen. Langfristig problematisch sei, dass die EZB beschlossen hat, abermals Staatsanleihen von Ländern zu kaufen, die die Investoren zuhauf auf den Markt schmeißen. »Der Lackmustest kann rasch kommen«, so mein Kollege Tim. »Sollten sich bei vorgezogenen Neuwahlen in Italien Rechtspopulisten und Neofaschisten durchsetzen, dürften die Investoren Italien fallen lassen. Dann müsste die EZB als Käufer der Schulden eines europäischen Kernstaates einspringen, der von Radikalen regiert wird. Einfach war der EZB-Job noch nie, aber jetzt droht ein Pakt mit dem Teufel.«

2. Nach dem Rücktritt von Mario Draghi als Regierungschef muss Italien neu wählen – dabei könnten die Postfaschisten triumphieren

Die italienische Politik war heute nicht bloß im Zusammenhang mit dem EZB-Zinsentscheid ein Aufreger. Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella hat am Vormittag den Rücktritt des Regierungschefs Mario Draghi angenommen. Die Regierung bleibe für die laufenden Geschäfte aber noch im Amt.

Draghi, der früher mal Chef der EZB war, hatte sein Amt schon in der vergangenen Woche zur Verfügung gestellt. Er war von Mattarella jedoch beauftragt worden, die Lage neu zu bewerten. Daraufhin versuchte Draghi, seine Koalitionspartner wieder zusammenzubringen. Am Mittwoch forderte er einen »Pakt« zwischen den Parteien, um die Krise zu beenden. Bei einer Vertrauensabstimmung im Senat am Mittwochabend erhielt der Premier dann zwar eine Mehrheit, Draghis drei große Koalitionsparteien Lega, Forza Italia und Fünf-Sterne-Bewegung hatten ihre Teilnahme an dem Votum jedoch zurückgezogen. Die Bemühungen Draghis wurden damit faktisch torpediert.

Wie beunruhigend ist die Krise in Italien? »Non ossiama fare un drama«, frei übersetzt »Lass uns kein Drama draus machen«, heißt es in einem Lied von Lucio Battisti, das ich in jungen Jahren sehr mochte. Mein Kollege Frank Hornig berichtet aus Rom und schildert aber doch einigen Aufruhr in einer »dramatischen Woche«: Aus dem ganzen Land seien in den vergangenen Tagen Appelle auf den genervten, zum Rücktritt entschlossenen Premier eingeprasselt. Die Bürgermeister von Mailand, Rom, Florenz, Neapel und 2000 weiteren großen und kleinen Städten forderten ihn zum Weitermachen auf. »Lasst uns ein für alle Mal beweisen, dass wir ein seriöses Land sind«, sagte einer von ihnen, Antonio Decaro aus Bari, der zugleich den Verband der Kommunen führt. Daraus wurde eher nichts.

Spätestens Anfang Oktober wird es im Land vorgezogene Neuwahlen geben. »Italien stürzt ins Chaos – mal wieder« , schrieb Frank schon gestern Abend über den Machtkampf, als er den »Tag des Wahnsinns« rekonstruierte.

Heute schätzt Frank die Situation so ein: »Die vielleicht chaotischste aller italienischen Politkrisen ist beendet.« Das im Februar 2021 vereidigte Kabinett der »nationalen Einheit« sei nur noch geschäftsführend im Amt, das Parlament aufgelöst. »Für Italien und für die EU steht viel auf dem Spiel: Der von Draghi gesteuerte Reformprozess ist vorerst gestoppt. Ebenso sein entschieden proeuropäischer, transatlantischer Kurs gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin«, so der Kollege. »Und die Postfaschisten träumen schon von einem rauschenden Wahlsieg, der das Gründungsmitglied der EU erschüttern soll.«

3. Durch die Pipeline Nord Stream 1 wird seit heute wieder Gas nach Deutschland geliefert, das sorgt für Erleichterung – aber die Aussichten für den Winter bleiben düster

Ob die Gaspipeline Nord Stream 1 von den russischen Lieferanten nun halb voll oder halb leer betrieben wird, darüber wurde in den letzten Wochen des gedrosselten Gasflusses nach Deutschland oft bitter gescherzt. Heute ist die Lieferung nach einer Wartungspause von zehn Tagen, in denen überhaupt kein Gas durch die Pipeline gepumpt wurde, wieder angelaufen .

Viele Deutsche haben vermutlich wirklich kurz aufgeatmet. Aber wie viel Gas kommt jetzt an? Und was heißt das für den Winter?

Mein Kollege Claus Hecking schreibt, dass die von manchen Politikern gefürchtete Totalblockade zwar vorerst ausgeblieben ist, allerdings erste Daten darauf hinweisen, dass Russland viel kleinere Gasmengen liefert als die, die bis Anfang Juni noch normal waren. Grund dafür, dass Russland den Gasfluss nicht komplett stoppt, könnte sein, dass Putin nicht auf die Einnahmen verzichten und die Kontrolle über den europäischen Markt behalten will. »Würde er die Lieferungen ganz aussetzen, hätte er keinen Einfluss mehr«, so Claus. »Vor allem aber würde er einen großen Teil des täglich geförderten Gases nicht mehr los.«

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck hat heute ein neues Maßnahmenpaket vorgestellt, mit dem er der Energiekrise gegensteuern will. Russland nannte Habeck einen »Unsicherheitsfaktor« im Energiesystem. Habeck kündigte als konkreten Schritt eine Erhöhung der vorgeschriebenen Füllstände in den deutschen Gasspeichern an. Zum 1. September müssen die Gasspeicher demnach zu 75 Prozent gefüllt sein, zum 1. November soll der Füllstand bei 95 Prozent liegen. Zum 1. November war bislang nur ein Füllstand von 90 Prozent vorgeschrieben.

Ob sich die Energiesorgen vieler Europäer als begründet erweisen, hänge jetzt unter anderem davon ab, ob Norwegen weiterhin zuverlässig Gas liefert und ob die Deutschen und andere Staaten ihren Verbrauch reduzieren, so mein Kollege Claus. An der Macht der russischen Lieferanten ändert sich vorläufig nichts. »Der Staatskonzern Gazprom kann die Gasflüsse nach Europa jederzeit nach Belieben wieder reduzieren – oder komplett einstellen. Ein Anlass hierfür wäre schnell gefunden. Etwa die vermeintliche Reparatur einer weiteren Turbine, die laut Putin angeblich Ende Juli anstehen soll.«

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Welche Waffen Kiew jetzt braucht: Die EU hat ihr Finanzpaket für neue Waffen für die Ukraine erhöht. Inzwischen zeigen westliche Raketenwerfer und Panzerhaubitzen Wirkung. Aber was hilft dem Land noch gegen die russischen Invasoren? 

  • Europa ist auf dem Weg in die Kriegswirtschaft: Die EU-Kommission will Europa auf die Gaskrise vorbereiten: Ein Sparplan soll die Mitgliedsländer notfalls zwingen, ihren Verbrauch drastisch zu senken – schon bevor Russland seine Lieferungen einstellt .

  • Ukrainische Zentralbank wertet Landeswährung deutlich ab: Der Krieg gefährdet auch das Finanzsystem der Ukraine. Jetzt hat die Zentralbank die Landeswährung Hrywnja gegenüber dem Dollar stark abgewertet.

  • »Ich bitte jetzt um etwas, worum ich niemals bitten wollte«: Täglich sterben in der Ukraine Zivilisten durch russische Raketen – auch Kinder und Jugendliche. Olena Selenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten, richtet eindringliche Worte an die USA.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Uwe Seeler ist tot: Er galt als einer der besten Stürmer der Welt, beim Hamburger SV wurde er zur Legende. Nun ist Uwe Seeler gestorben.

  • Türkischer Außenminister verschärft Ton gegenüber Iran und Russland: Die Türkei droht mit einer neuen Militäroffensive in Nordsyrien, Syriens Schutzmächte Iran und Russland lehnen das ab. Doch Ankara werde »niemals um Erlaubnis bitten«, sagt nun der türkische Außenminister Çavuşoğlu.

  • Republikaner und Demokraten wollen neue Versuche verhindern, Wahlergebnisse zu kippen: Unter Berufung auf ein 135 Jahre altes Gesetz versuchte Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl doch noch zu seinen Gunsten zu drehen. Senatoren haben nun Reformvorschläge vorgelegt – in seltener Einigkeit.

  • Zahl der Coronakrankmeldungen hat sich verdoppelt: Viele Firmen kämpfen mit massiven Personalengpässen – weil zu viele Mitarbeiter gleichzeitig an Corona erkranken. Die Zahl der Krankschreibungen hat sich in nur vier Wochen verdoppelt. Einige Bundesländer sind besonders betroffen.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Der Schachmat – Der König dankt ab, lang spiele der König

Der ehemalige Schachweltmeister Magnus Carlsen mag nicht mehr. Im Alter von nur 31 Jahren gibt er seinen WM-Titel freiwillig ab, weil er keine Lust mehr hat. Mein Kollege Florian Pütz beschreibt einen einigermaßen verschrobenen Ehrgeizling, der vom Wunderkind zu einem souveränen Dauersieger im Spiel der Könige wurde. »Monatelange Vorbereitung, intensives Studium zahlreicher Eröffnungsvarianten, stundenlange Partien über mehrere Wochen gegen einen einzelnen Gegner – das machte Carlsen kaum Freude«, so Florian über den Schachmaten Carlsen. »Er spielt lieber schnelle Partien, in denen es mehr auf Intuition als auf auswendig gelernte Varianten ankommt.« Ist es Arroganz, dass Carlsen nicht mehr mag? Garri Kasparow, Ex-Weltmeister und einst Carlsens Lehrmeister, zeigt Verständnis: »Motiviert zu bleiben, nachdem man den Schacholymp erklommen hat, ist so, als würde man den Mount Everest ein zweites oder sechstes Mal besteigen. Der Mensch braucht ein Ziel«.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Warum steigt die Zahl der Totgeburten in Deutschland? 3420 Kinder sind in Deutschland im vergangenen Jahr tot zur Welt gekommen. Der Arzt Ulrich Pecks über die Ursachen, Risikofaktoren und Möglichkeiten, Totgeburten zu verhindern .

  • »Geil wird das«: Das deutsche Team ist in dieser EM bislang ohne Gegentor geblieben. Im Viertelfinale könnte sich das ändern: Österreichs Stürmerin Billa hat die nötige Qualität. Ihre Mannschaft ist die Überraschung des Turniers .


Was heute weniger wichtig ist

Don’t look up: Keke Palmer, 28, eigentlich sehr smarte US-amerikanische Schauspielerin und Sängerin, warnt ihre Fans vor bescheuerten und gefährlichen Meditationstechniken. Palmer, die unter anderem in »Hustlers« und im neuen Film »Nope« mitspielt, hat eine Augenverletzung davongetragen, als sie die sogenannte Sun-Gazing-Technik ausprobierte. Bei der soll das Betrachten der Sonne für Entspannung sorgen. »Ich habe mir die Netzhaut verbrannt, als ich Unsinn getrieben habe«, so die offenbar ernsthaft verletzte Schauspielerin. »Passt auf mit der Sonne!«

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Angesicht einer weiteren Coronawelle und den extrem hohen Energiekosten wegen der Gaskrise gebe es auch in diesem Herbst wieder außergewöhnliche Belastungen für den Hochschulbetrieb.«

Cartoon des Tages: Energieeinsparungspaket

Illustration: Klaus Stuttmann


Und heute Abend?

Könnten Sie mal wieder ins Kino gehen und sich Alex Garlands Horrorfilm »Men – Was dich sucht, wird dich finden« ansehen. Mein Kollege Andreas Borcholte findet das Drama in den satt­grünen englischen Landschaften von Gloucestershire »schaurig-schön«. Eine von Jessie Buckley gespielte Londonerin ist nach schlimmen Erlebnissen aufs verwunschene Land geflüchtet, dort begegnet sie unter anderem einem nackten, mit Moos und Eichenlaub geschmückten Landstreicher, der sie stalkt (dargestellt von Rory Kinnear). Für diesen offenbar ziemlich blutigen Film braucht man allerdings starke Nerven. Ein »feministisch grundierter Gruselschocker«, lautet das Urteil von Andreas,

Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel

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