1. Es gibt ein Rätselraten, wo die reparierte Gazprom-Turbine derzeit ist – zum Betrieb der Pipeline Nord Stream 1 ist sie jedenfalls gar nicht nötig
Eine auf den ersten Blick sehr banale Maschine ist in diesen Sommertagen zum Symbol des Streits um Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland geworden: eine zwischenzeitlich zum Reparieren nach Kanada verschickte Turbine, die dem russischen Konzern Gazprom gehört. »Wo ist es denn nun wirklich: dieses Ding, an dem angeblich Europas Versorgung mit russischem Erdgas hängen soll? In Deutschland, in Russland – oder auf dem Weg zur Ostseepipeline Nord Stream 1?« fragen meine Kollegen Claus Hecking, Martin Hesse und Gerald Traufetter in ihrer Geschichte über das Katz- und Maus-Spiel, das Russland derzeit mit seinen Gaskunden im Westen treibt .
Wladimir Putin hat in der Nacht zum heutigen Mittwoch gesagt, falls Russland die in Kanada reparierte Turbine nicht zurückerhalte, drohe Ende Juli die tägliche Durchlasskapazität der Pipeline deutlich zu fallen. Der aktuelle Aufenthaltsort der Gasturbine, die im Mittelpunkt der Gaskrise steht, ist nebulös. Auch der Konzern Siemens Energy, der die Turbine gebaut hat, gibt darüber keine Auskunft – nicht mal darüber, welche Turbine bei der Pipeline genau zum Einsatz kommt. »Eine naheliegende Variante unter den aeroderivativen Turbinen wäre die SGT-A35«, so die Kollegen. »Sie wiegt in einer Standardausführung rund 99.000 Kilogramm, ist gut neun Meter lang, vier Meter breit und fünf Meter hoch. Damit ist sie deutlich leichter und kleiner als die meisten Turbinen, die beispielsweise in Gaskraftwerken eingesetzt werden.«
Die Faszination, die Maschinen auf viele Menschen ausüben, ist groß. Halbwegs kulturell gebildete Menschen erinnern sich vielleicht an das »Futuristische Manifest«, das der leicht durchgeknallte Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti im Jahr 1909 veröffentlichte. Darin heißt es unter anderem: »Wir erklären, dass die Herrlichkeit der Welt um eine Schönheit bereichert worden ist: die Schönheit der Maschine.«
Zur aktuellen »Turbinen-Saga«, wie die Kollegen die Diskussion nennen, gehört, dass Russland die Bedeutung des reparierten Teils stark übertreibt. Seit Montag vergangener Woche ist Nord Stream 1 stillgelegt, wegen turnusmäßiger Wartungsarbeiten. Ab diesem Donnerstag soll das Gas eigentlich wieder fließen, doch in Europa weiß niemand, wie viel Gas kommen wird. Tatsache ist, dass Gazprom die Turbine nicht brauchte, um vom 14. Juni bis zum Beginn der Pipelinewartung vergangene Woche immer noch bis zu 67 Millionen Kubikmeter Erdgas täglich durch die Ostseepipeline zu schicken, also 40 Prozent des vorherigen Volumens.
»Der russische Staatskonzern Gazprom könnte auch ohne diese eine Turbine gewaltige Mengen Erdgas nach Europa schicken«, sagt mein Kollege Claus Hecking. »Er macht es aber nicht. Das Ziel des Kremls ist, das Gas so knapp wie möglich und damit die Preise und die Anspannung im Westen so hoch wie möglich zu halten.« Am morgigen Donnerstag sei nun alles denkbar: dass über Nord Stream 1 noch gar kein Gas kommt bis hin zu einer Rückkehr zum Vollbetrieb. »Aber am besten zum russischen Vorgehen der vergangenen Woche würden reduzierte Lieferungen gegenüber dem Normalbetrieb passen.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Russlands rätselhafte Turbinen-Saga
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Deutsche Exporte nach Russland stark gesunken: Seit dem Angriff auf die Ukraine haben deutsche Händler deutlich weniger nach Russland geliefert: Laut Statistischem Bundesamt sanken die Exporte im ersten Halbjahr um 41 Prozent. Ein klares Plus erreicht ein anderes Land.
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EU will Rüstungsproduktion mit einer halben Milliarde Euro unterstützen: Seit Beginn des russischen Angriffskrieges liefern EU-Staaten Waffen an die Ukraine. Nun sollen EU-Mittel genutzt werden, um die Bestände wieder aufzufüllen.
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»Putin und Lukaschenko brauchen einander wie nie zuvor«: Seit zwei Jahren führt Swetlana Tichanowskaja die Oppositionsbewegung aus dem Exil. Hier spricht sie über Pläne für den Fall eines Putsches und die Sorge, dass Putin Belarus tiefer in den Ukrainekrieg hineinzieht .
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Dr. med. Unmöglich: Auch in Deutschland versuchen Studierende, die aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind, sich an der Uni einzuschreiben. Hamburg macht Drittstaatlern spezielle Angebote – aber die Hürden sind hoch .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Eine neue Wetterstudie sucht Ursachen für Rekordtemperaturen – schuld ist wohl tatsächlich die langfristige Erderwärmung
Warum ist es in Europa gerade so heiß? Erstaunlicherweise wegen eines Tiefdruckgebiets. Ich freue mich immer über überraschende wissenschaftliche Erklärungen; ganz besonders erfrischend fand ich heute die Erläuterungen meines Wissenschaftskollegen Arvid Kaiser zu den Ursachen der derzeit gemessenen Rekordtemperaturen in Europa .
Ein Wirbel über dem Atlantik, der ein Tiefdruckgebiet markiert, liegt seit Tagen stabil über dem Meer und sorgt für kühles, regnerisches Wetter – dort. Zugleich leitet er schwer erträgliche Hitze nach Mitteleuropa.
Die Konstellation wirke »praktisch als Europas Wärmepumpe«, zitiert Arvid den britischen Meteorologen Scott Duncan mit seiner Einschätzung des Tiefdruckgebiets, das zwischen Portugal, Madeira und den Azoren lagert.
Das Tief im Atlantik ist wohl deshalb so stabil, weil es lange abgeschnitten war: ohne Verbindung zu den sonst über die Nordhalbkugel ostwärts ziehenden Windbänden, durch die sich Hoch- und Tiefdruckgebiete regelmäßig abwechseln. Dieses, wie es der Kollege nennt, »Cut-off-Tief«, werde von Forschenden, die nach möglichen Erklärungen für die Zunahme von Hitzewellen in Europa suchen, als Ursache der aktuellen Hitzewelle gesehen.
Die aktuelle Konstellation ähnelt stark der Hitzewelle, die bereits Mitte Juni Südwesteuropa und Teile Deutschlands quälte, mit Rekordwerten von 39,2 Grad in Dresden und Cottbus. Exakt allerdings gleicht keine Hitzewelle der anderen; das macht es schwierig, eine allgemeine Ursache zu finden.
Eine neue Studie liefert immerhin eine Theorie, warum Europa künftig ein Hotspot für sommerliche Hitzewellen werden könnte. Besonders häufig komme es dazu, wenn sich der Jetstream spaltet. Der Jetstream ist ein normalerweise schnell von West nach Ost über die Nordhalbkugel ziehendes Windband in großer Höhe, etwa zehn Kilometer über der Erde. Er sorgt für den Luftaustausch in der Atmosphäre und beeinflusst dadurch auch Luftdruck und Temperaturen in Bodennähe.
Derzeit verhalte sich der Jetstream »sonderbar«, so Arvid. Die Spaltung des Windbands sei möglicherweise eine Folge der langfristigen Erderwärmung, so ein Mitautor der neuen Studie. Weil sich die Arktis unter allen Weltregionen am stärksten erwärme, sinke der Temperaturunterschied zu den Tropen und damit der Antrieb für den Jetstream.
Es gibt viele Menschen in Deutschland, die sich heute mehr Wind und Luftzug gewünscht haben. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Wunsch offenbar absolut richtig.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Europa wird zum Hitze-Hotspot
3. Der Regisseur Dieter Wedel war ein Modernisierer des deutschen Fernsehens – und benahm sich oft scheußlich
Der Regisseur Dieter Wedel, so wurde heute bekannt, ist tot. Er starb schon vor einer Woche nach längerer Krankheit.
Viele Jahre lang galt Wedel als bedeutender Fernsehregisseur, seit Anfang 2018 war er ein äußerst umstrittener Mann und wurde mehrerer sexueller Übergriffe beschuldigt. Im »Zeit-Magazin« erhoben vor vier Jahren drei Schauspielerinnen den Vorwurf, dass Wedel sie in den Neunzigerjahren sexuell bedrängt habe. Der Fall wurde der bekannteste in der deutschen #MeToo-Debatte, die 2017 ins Rollen gekommen war.
Eigentlich wollte das Landgericht München I wohl heute mitteilen, ob und wann es zum Vergewaltigungsprozess gegen Dieter Wedel wegen einem der Übergriffs-Vorwürfe kommt. Das Verfahren gegen ihn wird nun eingestellt . Wedel selbst hatte sich als Opfer einer Verleumdungskampagne dargestellt. Zu seinem 75. Geburtstag hatte er noch gesagt, er wolle arbeiten, bis er umfalle. »Ich habe das Glück, an meinem Beruf Spaß zu haben.«
Ich konnte mit Wedels oft hochgelobten Fernseharbeiten leider nie viel anfangen. Zu seinen bekannteren Werken gehören »Der große Bellheim« (1993), »Der Schattenmann« (1996), »Der König von St. Pauli« (1998) und »Die Affäre Semmeling« (2002). »Wedel war ein manischer Erzähler«, schreibt mein Kollege Christian Buß in seinem Nachruf . »Und er war völlig kritikunfähig. Widerspruch empfand er als eine Gotteslästerung.« Fabulierlust, seine Selbstberauschtheit und seine Herrschsucht hätten sein Schaffen geprägt.
Gerade zu der Zeit, als man bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern angesichts der damals neuen Privatsender RTL und Sat.1 zauderte, wie man umgehen sollte mit der ungewohnten Konkurrenz, hatte Wedel die Antwort. »Lauter werden! Größer werden! Und auch: größenwahnsinniger werden!«, schreibt Christian. Wedel habe einen Hauch von Hollywood in die deutsche Piefigkeit gebracht, ohne diese wirklich überwinden zu können. Bei der Industriellen-Saga »Der große Bellheim« etwa bediente sich Wedel bei Oliver Stones »Wall Street«. Für seine Reeperbahn-Räuberpistole »Der König von St. Pauli« nahm er Anleihen bei Francis Ford Coppolas »Der Pate«.
Auch für seine Ausbrüche war Wedel berüchtigt. Vom Dreh zu »Der König von St. Pauli« etwa wird berichtet, wie Wedel den stattlichen Schauspieler Heinz Hoenig, den er selbst zum Star gemachte hatte, so lange zusammenschrie, bis der wimmernd vom Set wankte. Sein Name stehe auch für das brutalste bislang bekannte sittliche Systemversagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, so mein Kollege.
»Das war einer der schwierigsten Texte, die ich je geschrieben habe«, sagt Christian über seinen Nachruf. »Wie würdigt man jemanden wie Wedel, ohne seine Untaten zu leugnen?« Er habe dem deutschen Fernsehen in den Neunzigern einen wichtigen Industrialisierungsschub gegeben, aber er tat das eben auch mit einem objektiv scheußlichen egomanischen Auftreten. »Auch eine späte Begegnung mit ihm verlief eher unerfreulich. Das Beste, was man von ihm sagen kann, ist wohl, dass er ein begnadeter Prahlhans war. Und das meine ich wirklich positiv. Weil heutzutage beim Fernsehen alle so leisetreterisch sind, wird man fast nostalgisch, wenn man an seine Großspurigkeit denkt.«
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Lesen Sie hier den Nachruf: Der Selbstberauschte
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Was heute sonst noch wichtig ist
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»Der Angeklagte hat entschieden, dass er über dem Gesetz steht«: Steve Bannon hat jede Kooperation bei der Aufklärung des Kapitol-Sturms verweigert – deswegen steht der frühere Trump-Berater nun vor Gericht. Zum Auftakt wurde die Staatsanwältin deutlich.
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Deutsche Großstädte schrumpfen im zweiten Jahr in Folge: Lange schienen die Großstädte unaufhaltsam zu wachsen – 2021 aber schrumpften sie zum zweiten Mal in Folge. Eine Ursache findet sich in der Analyse des Einwohnermeldeamtes.
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Nur drei Kinderzahnpasten überzeugen im Test: Damit Karies im Kindermund keine Chance hat, braucht es nicht nur eine gute Putzroutine, sondern auch eine geeignete Zahnpasta. Die ist aber gar nicht leicht zu finden – im Test erhielten neun Produkte die Note mangelhaft.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Erfinder des Spaghettieises
Mein Kollege Sebastian Späth interviewt den Speiseeismacher Dario Fontanella aus Mannheim, der vor mehr als 50 Jahren die Idee hatte, Eis durch eine Spätzlepresse zu drücken. Er habe in einem Lokal in Italien gesehen, wie Kastanienpüree in feinen Schnüren aufgetürmt wurde, und dann zu Hause in der Eisdiele in Mannheim Pistazien-, Zitronen- und Erdbeereis einzeln durch eine Spätzlepresse gedrückt, so Fontanella. Der Kommentar seines Vaters damals: »Bunte Spaghetti habe ich noch nie gesehen!«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Zwei Euro pro Kugel Eis sind ein angemessener Preis«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Ssssssst, die E-Feuerwehr ist da: Auch Einsatzfahrzeuge verursachen Emissionen. Lassen sie sich überhaupt auf E-Antrieb umstellen? Bei der Berliner Feuerwehr hat das erste elektrische Löschfahrzeug seinen Probelauf bestanden .
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»In den nächsten Jahren wird viel passieren im deutschen Tennis«: Jule Niemeier gilt als Deutschlands nächste Spitzenspielerin. Sie spricht über die Wichtigkeit von Niederlagen, das Erfolgsgeheimnis von Wimbledon und gewachsene Erwartungen .
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So soll das neue Bürgergeld aussehen: SPD-Minister Heil spricht von der »größten Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren«. Mit dem neuen Bürgergeld will er das verhasste Hartz-IV-System vergessen machen. Doch was taugt die Reform? Der Schnellcheck .
Was heute weniger wichtig ist
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Jaroslawa Mahutschich, 20-jährige Teilnehmerin der Leichtathletik-WM in Eugene in den USA, hat ihre Goldmedaille im Hochsprungwettbewerb den Menschen in der Ukraine gewidmet. Wie mein Kollege Heiko Oldörp berichtet, sagte die Sportlerin, deren Familie in der Stadt Dnipro lebt, nach ihrem Sprung über 2,04 Meter, sie vermisse ihre Heimat und ihre Freunde. »Ukrainer sind stark. Wir werden für unsere Unabhängigkeit kämpfen, für unser Land. Und wir werden am Ende gewinnen.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat die Forderung seiner Partei bekräftigt, das weitgehenden Verbots von Fracking zur Förderung von Gasreserven in Deutschland aufzuheben«
Cartoon des Tages: Atomausstieg
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie mal wieder ein Buch lesen. Meine Kollegin Katharina Stegelmann schwärmt vom autobiografischen Debütroman »Eine Feder auf dem Atem Gottes« der Autorin Sigrid Nunez, der vor 27 Jahren zum ersten Mal in den USA erschien.
Nunez ist die Tochter eines chinesisch-panamaischen Vaters und einer deutschen Mutter. Ihr Buch erzählt vom Aufwachsen in einer New Yorker Sozialbauwohnung der Fünfzigerjahre, die Protagonistin verspürt als Kind ein Gefühl des Makels wegen ihrer Herkunft. »Nunez’ literarische Spurensuche berührt«, schreibt Katharina.
Sigrid Nunez
Eine Feder auf dem Atem Gottes: Roman
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Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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