1. Das Treffen zwischen Putin, Erdoğan und Raisi im Iran zeigt, wie wichtig der türkische Staatspräsident derzeit als Vermittler ist
Die Zeitenwende, die Politiker wie der deutsche Bundeskanzler im russischen Krieg gegen die Ukraine erkennen wollen, hat einen ersten und ziemlich überraschenden Gewinner: den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Vielleicht ist er nur ein vorübergehender Profiteur der Krise, aber im Augenblick scheint Erdoğan die wichtige Rolle zu genießen, die er plötzlich in der internationalen Politik spielen darf. Die heutige Reise des russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Teheran, wo Putin neben seinem iranischen Amtskollegen Ebrahim Raisi und dem iranischen Revolutionsführer Ali Khamenei auch Erdoğan trifft, ist dafür ein guter Beleg. Meine Kollegin Monika Bolliger und mein Kollege Maximilian Popp beschreiben das Treffen als »Gipfel der Opportunisten« .
Es ist das erste Mal seit der Coronapandemie, dass die drei Staatsoberhäupter physisch zusammenkommen – und zuletzt hatte wohl ausgerechnet Erdoğan das Treffen verschoben. Wegen Operationen iranischer Geheimdienste gegen iranische Dissidenten in der Türkei oder weil er noch vorher saudi-arabische und israelische Regierungsvertreter in Ankara empfangen wollte. Erdoğan will vom Iran offensichtlich Zugeständnisse im Zusammenhang mit den Kurdengebieten im Irak und in Syrien. Seit Wochen kündigt er eine neue türkische Militäroperation im Nordosten Syriens an, der gegenwärtig in Teilen von der kurdischen YPG kontrolliert wird, dem syrischen Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Bislang scheiterte der türkische Einsatz unter anderem am Widerstand Irans und Russlands, die stellenweise mit der YPG kooperieren.
Über Jahre hinweg war der türkische Staatschef in der Weltpolitik ein Außenseiter. Er brachte durch Provokationen unter anderem gegen Deutschland und Griechenland und Repressionen gegen türkische Oppositionelle die EU gegen sich auf. Und auch im Nahen Osten war er wegen seiner Parteinahme für die Muslimbruderschaft vielerorts nicht gut gelitten. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist Erdoğan nun wieder ein gefragter Gesprächspartner.
»Erdoğan hat sich gerade in eine geschickte Position manövriert und das Dilemma, das für ihn durch den Ukraine-Krieg entstand, in einen Vorteil für sich gedreht«, sagt meine Kollegin Monika Bollinger. »Die Türkei ist momentan eines der ganz wenigen Länder, das überhaupt Vertreter Russlands und der Ukraine an einen Tisch bringen kann. Erdoğan spricht derzeit mit allen, mit Israel, Saudi-Arabien, Ukraine, Europa, und eben auch Russland und Iran.« Und tatsächlich sehe es so aus, als ob sich der türkische Staatspräsident dabei nicht für eine Seite entscheiden müsse. »Im Moment kann er es sich leisten«, so Monika, »dass er sich als Vermittler positioniert.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Gipfel der Opportunisten
2. Trotz der bislang gut 2000 Affenpockenfälle in Deutschland sind Mediziner zuversichtlich, dass sich die Infektionen eindämmen lassen
Seit Beginn der Coronapandemie sind viele Menschen sofort alarmiert, sobald von neuartigen Infektionskrankheiten die Rede ist. Ich war es auch schon vorher. Als halbwegs fantasiebegabter Mensch und stets besorgter Hypochonder interessiere ich mich schon seit früher Jugend für jede Art von Gesundheitsbedrohung, ob neuartig oder nicht. Heute wurde bekannt, dass sich bislang mehr als 2000 Menschen in Deutschland mit den Affenpocken infiziert haben, davon nur vier Frauen.
»Die Übertragungen erfolgen in diesem Ausbruch nach derzeitigen Erkenntnissen in erster Linie im Rahmen von sexuellen Aktivitäten, aktuell insbesondere bei Männern, die sexuelle Kontakte mit anderen Männern haben«, heißt es auf der Webseite des Robert-Koch-Instituts. Rund zwei Monate nach dem ersten nachgewiesenen Fall von Affenpocken in Deutschland wird die Zahl der entdeckten Erkrankungen mit exakt 2033 angegeben. Weltweit wurden mittlerweile insgesamt mehr als 6000 Affenpocken-Fälle gemeldet. »Soweit bekannt, erkranken die meisten Betroffenen nicht schwer«, meldet das RKI. Es sei jedoch mit steigenden Fallzahlen, auch in Deutschland, zu rechnen. Schwere Verläufe seien möglich, insbesondere bei Kindern oder Menschen mit geschwächtem Immunsystem.
Das Ansteckungsrisiko lasse sich unter anderem dadurch verringern, dass Menschen die Zahl ihrer Sexpartner reduzieren. Nach Einschätzung der Robert-Koch-Leute ist es möglich, den aktuellen Ausbruch in Deutschland zu begrenzen, wenn Infektionen rechtzeitig erkannt und Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden. Gegen Affenpocken gibt es eine Impfung, erste Dosen wurden Anfang Juli ausgeliefert.
»Die Affenpockenfälle in Deutschland steigen weiter an, besonders in Berlin, wo mehr als die Hälfte der Fälle gemeldet wurden«, sagt meine Kollegin Katherine Rydlink aus dem SPIEGEL-Gesundheitsteam. »Dabei ist immer noch hauptsächlich die Community von Männern, die Sex mit Männern haben, betroffen.« Und von denen seien mittlerweile die meisten auf das Thema sensibilisiert, genauso wie Hausärztinnen und -ärzte. »Viele haben schon die Möglichkeit genutzt, sich impfen zu lassen.« Auch wenn die Fallzahlen erstmal weiter steigen dürften, seien wir aktuell an einem Punkt, an dem sich das Virus noch gut eindämmen lässt, so Katherine, »wenn Betroffene sich isolieren, Kontaktpersonen sich impfen lassen – und Menschen, die häufig wechselnde Sexualpartner haben, eine besondere Vorsicht an den Tag legen«.
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Lesen Sie hier mehr: Mittlerweile rund 2000 Affenpockenfälle in Deutschland
3. Für manche Menschen sind heiße Sommertage wie heute ein Grund zur Freude – ein Hamburger Mieter konnte sogar seine Miete mindern
Und nun zum Wetter. In Katar, wo demnächst ein wichtiges Fußballturnier ausgetragen werden soll , hatte es heute 39 Grad, morgen soll es ähnlich warm werden. Das ist ein bisschen kühler als in Großbritannien, wo heute der Wetterdienst 40,2 Grad maß. Es ist die höchste jemals im Land festgestellte Temperatur.
Auch in weiten Teilen Deutschlands machte die aktuelle Hitzewelle vielen Menschen zu schaffen . Selbst vor meinem Schreibzimmerfenster in Hamburg, wo es in den vergangenen Tagen erstaunlich kühl war, sind ausnahmsweise wirklich schwitzende und stöhnende Frauen und Männer und lustig kreischende Kinder zu sehen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat heute, wie es sein Amt gebietet, dazu aufgerufen, älteren Menschen während der Hitzewelle zu helfen. »Jüngere Menschen sollten auf Ältere achten und sie an die Bedeutung von ausreichendem Trinken und Kühle erinnern«, sagte er.
Ausgerechnet in Hamburg, so wurde heute bekannt, ist es einem Wohnungsmieter gelungen, wegen zu großer Hitzeentwicklung in seiner Behausung die Miete zu mindern. In dem Fall ging es offenbar um eine hochpreisige und gut ausgestattete Neubauwohnung, ein Gericht sah eine Mietminderung von 20 Prozent als gerechtfertigt an. Allerdings ist die Gerichtsentscheidung eine Ausnahme. Der Deutsche Mieterbund hat heute aus aktuellem Anlass betont, dass selbst eine überhitzte Dachgeschosswohnung in der Regel kein Mietmangel sei.
Bei aller Freibad-Freude, Klimaempörung und Gesundheitssorge angesichts der europäischen Hitzewelle sollten wir nicht ganz außer Acht lassen, dass die heißen Tage wohl schon am Donnerstag in Deutschland vorläufig wieder vorbei sind. Den Rest der Woche geht es mit etwas gemäßigteren Temperaturen weiter, zudem ziehen Gewitter auf.
Sehr erfrischend fand ich heute die Berichterstattung meines Kollegen Jan Göbel, der derzeit in Großbritannien unterwegs ist, um über die Fußball-Europameisterschaft der Frauenteams zu berichten: »In den Zügen riecht es nach Deo, man sieht kurze Hosen, und über die Lautsprecher hört man vor allem ein Wort: Heat! Hitze! Wer in diesen Stunden in England mit dem Zug reist, hat es nicht einfach«, schreibt Jan. »Einige Verbindungen sind wegen der Temperaturen um 35 Grad gestrichen worden, Getränkeautomaten leer gekauft. Im Zug aus London in Richtung Brighton – wo man ins Meer für eine Abkühlung springen oder am Mittwoch das erste Viertelfinale der EM der Fußballerinnen verfolgen könnte – heißt es: ›Steigen Sie hier nur ein, wenn Sie eine Übernachtung in Brighton sicher haben. Es gibt möglicherweise keinen Zug heute Abend mehr zurück‹. Immerhin: Es ist so heiß, dass man wohl auch in der Nacht unter freiem Himmel am Strand von Brighton nicht erfrieren würde. Einen Pullover sollte man jedoch eingepackt haben – die Klimaanlagen in den Zügen arbeiten am Limit.«
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Lesen Sie hier mehr: Kann ich mein Büro auch ins Freibad verlegen?
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Alle aktuellen Entwicklungen zur Hitzewelle in Europa finden Sie im News-Update.
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Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
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Dauerhafter Pipelineausfall träfe Deutschland laut Kühnert härter als Russland: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert nennt die Abhängigkeit von Kremlchef Putin eine »traurige Wahrheit«. Er warnt vor deutlichen Folgen für Deutschland, sollte Moskau die Gaslieferungen weiter drosseln.
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Apple soll Bußgeld wegen Missbrauchs des App Stores zahlen: Russische Behörden gehen verschärft gegen westliche IT-Konzerne vor. Nun ist Apple an der Reihe. Die Strafe soll sich am Umsatz orientieren.
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»Wer einen Wirtschaftskrieg führen möchte, braucht eine Kriegswirtschaft«: Der Historiker Nicholas Mulder erklärt, wie Sanktionen zur Kriegswaffe wurden – und warum wir nicht zu viel von ihnen erwarten sollten .
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Wissing hält Nachfolger für 9-Euro-Ticket für möglich: Bislang galt Bundesverkehrsminister Wissing nicht gerade als großer Verfechter des 9-Euro-Tickets. Inzwischen scheint er jedoch Gefallen an einer Nachfolgelösung zu finden – unter Vorbehalt.
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Journalistin Birte Meier scheitert mit Verfassungsklage für gleiche Bezahlung: Weil ihre männlichen Kollegen rund 800 Euro im Monat mehr verdienten, stritt sich die Journalistin Birte Meier bis vor das Bundesverfassungsgericht. Dort wurde ihre Klage nun abgewiesen.
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Kameramann wird zur zusätzlichen Hürde beim Hindernislauf: 28 Hindernisse und sieben Wassergräben mussten die Läufer beim Finale über 3000 Meter Hindernis bewältigen. Unerwartet kam noch eine neue Herausforderung dazu: Ein Kameramann passte nicht auf und stand mitten auf der Bahn.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Bundesregierung will nun doch keine Wärmepumpenpflicht: Die Bundesregierung sieht im millionenfachen Einbau von Wärmepumpen einen Hebel für die Energiewende. Nun will sie aber deutlich weniger radikal dabei vorgehen als bislang befürchtet. Was soll ab 2024 erlaubt sein, was nicht?
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Stell dir vor, es ist Wirtschaftskrieg, und keiner geht hin: Die Regierungen in Europa und den USA verhängen eifrig Sanktionen gegen Russland, wollen aber nicht die Folgen tragen. Das wird nicht funktionieren .
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Neue Jobs für die Riesenvögel: Wegen des Ukrainekriegs herrscht weltweit Mangel an Frachtflugzeugen. Nun will Airbus seine Werksflieger vom Typ »Beluga« auch kommerziellen Kunden anbieten. Sind die Riesenmaschinen technisch dafür geeignet?
Was heute weniger wichtig ist
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Mutiges Outing: Darja Kassatkina, 25-jährige russische Tennisspielerin, hat sich als homosexuell geoutet und massive Kritik an ihrem Heimatland geäußert. In einem am Montag erschienen Videointerview mit einem Blogger sagte die derzeit beste russische Tennisspielerin (sie belegt im Augenblick Platz 12 der Weltrangliste) über ihre Homosexualität: »Für junge Menschen, die mit Problemen in der Öffentlichkeit konfrontiert werden, ist es sehr wichtig, wenn Sportler oder andere bekannte Persönlichkeiten darüber reden.«
In Russland stellen Gesetze sogenannte Schwulenpropaganda unter Strafe. Im Interview kritisierte Kassatkina, die in Spanien trainiert und am Wochenende in Hamburg bei einem Turnier spielte, auch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Es sei ihr größter Wunsch, dass »dieser Krieg endet«, er sei ein »kompletter Albtraum« .
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Grobritannien: Rishi Sunak gewinnt auch vierte Abstimmungsrunde«
Cartoon des Tages: Urlaub in Deutschland
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich endlich mal wieder Jazz anhören. Mein Kollege Tobias Rapp ist sehr begeistert von dem südafrikanischen Pianisten Nduduzo Makhathini . Der Musiker und Komponist Makhatini ist Leiter der Musikschule der Universität von Fort Hare und der künstlerische Kopf eines der aufregendsten Projekte, die der Jazz gerade kennt, des Labels Blue Note Africa.
Seine Musik werde oft mit der von McCoy Tyner verglichen, dem Pianisten des legendären John Coltrane Quartetts, schreibt Tobias, zudem sei der Musiker »ein Schamane« und »möglicherweise der Pianist, der zeigt, wie Jazz im 21. Jahrhundert klingen kann«.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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