Russland ist in die Ukraine einmarschiert, und nun hungert der globale Süden. Während die Gewalt weitergeht, verhängen die nationalen Regierungen Sanktionen gegen Russland. Eine unbeabsichtigte Folge dieser Sanktionen ist jedoch der astronomische Anstieg der Lebensmittelpreise in den Entwicklungsländern – schreibt Bruno Roth
Während die politischen Entscheidungsträger der EU weiterhin Strategien zur Bestrafung Russlands ausarbeiten und gleichzeitig der Ukraine die dringend benötigte Unterstützung zukommen lassen, müssen sie diesen Nebeneffekt und die Menschenleben, die auf dem Spiel stehen, berücksichtigen.
Von Südamerika bis Ostasien sind Proteste ausgebrochen, bei denen die Menschen nach Unterstützung schreien, weil Lebensmittel unerschwinglich geworden sind. In einigen Ländern kam es zu Protesten von Landwirten und Bürgern, weil die Regierung die Lebensmittelpreise erhöht hatte. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds besteht der Inflationskorb vieler Entwicklungsländer zu 50 Prozent aus Nahrungsmitteln, so dass die derzeitige Nahrungsmittelknappheit die Entwicklungsländer unverhältnismäßig stark trifft. Die Schwellenländer haben Mühe, damit fertig zu werden, und die Regierungen sind gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um eine Massenverhungerung zu verhindern. Die Weltbank hatte für die Schwellenländer im Jahr 2022 ein Wachstum von 6,3 Prozent vorausgesagt; auf der Grundlage des derzeitigen Kurses liegt die neue Schätzung jedoch nur bei 4,6 Prozent.
Im Jahr 2020 wurde mit 150 Millionen Menschen, die als akut nahrungsunsicher eingestuft wurden, ein neuer Höchststand an Ernährungsunsicherheit erreicht. Im Jahr 2021 wurde dieser Rekord um fast 40 Millionen Menschen übertroffen, und auch das Jahr 2022 wird keine Ausnahme bilden, wobei diese Zahlen durch die russische Invasion noch verstärkt werden. Die Ukraine und Russland produzieren zusammen etwa 30 Prozent der weltweiten Gersten- und Weizenexporte sowie 15 Prozent des weltweiten Maisangebots und 65 Prozent des Sonnenblumenkernöls. Sie sind auch für ein Drittel der weltweiten Kalium- und Ammoniakproduktion verantwortlich, die beide wesentliche Bestandteile von Düngemitteln sind. Die beiden Länder produzieren zusammen 12 Prozent des weltweiten Kalorienverbrauchs.
Nach Beginn der Invasion stiegen die Preise für Düngemittel und Lebensmittel zwischen 20 und 50 Prozent. Das Welternährungsprogramm hat davor gewarnt, dass die anhaltende Nahrungsmittelknappheit das Niveau des Zweiten Weltkriegs übertreffen könnte und dass Lebensmittelrationierungen bald notwendig werden könnten. Dies wird zweifellos, wenn auch ungewollt, zu massiven sozialen Unruhen führen.
Die Invasion hat nicht nur die Produktion unterbrochen, sondern durch die Beeinträchtigung der Versorgungsketten und -abläufe auch die Produktions- und Verteilungskanäle blockiert, was zu dem steilen Preisanstieg beigetragen hat. Ohne erschwinglichen Zugang zu Düngemitteln sind die Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika, nicht in der Lage, ihre eigenen Erzeugnisse anzubauen und können sich auch keine Nahrungsmittelimporte leisten. Die noch vorhandene Produktion wird durch die steigenden Kosten stark eingeschränkt, und die Nahrungsmittelerträge sinken um bis zu 15 Prozent, da der Zugang zu Düngemitteln eingeschränkt wird. Die Kosten für synthetische Nährstoffe steigen weiter, und der geringere Einsatz von Düngemitteln birgt die Gefahr, dass die Qualität der Lebensmittel sinkt. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat fast 20 Prozent der weltweiten Nährstoffexporte abgeschnitten und damit zu einer bereits bestehenden Krise beigetragen. Damit kommen wir wieder auf die Sanktionen zu sprechen.
Sanktionen gegen russische Unternehmen und Einrichtungen sind zwar ein wichtiges geopolitisches Instrument, doch der Übergang von pauschalen zu intelligenten Sanktionen ist ein wichtiger Schritt, den die Entscheidungsträger der EU in Betracht ziehen müssen. Das bedeutet, Sanktionen zu formulieren, die den Druck auf Russland maximieren und gleichzeitig den Kollateralschaden minimieren. Die Zahl der Hungernden in der Welt steigt kontinuierlich an und hat einen historischen Höchststand erreicht. Verschlimmert wurde dies durch die Covid-19-Pandemie, von der sich nur sehr langsam erholt, und die ungleichen Auswirkungen dieser globalen Gesundheitskrise haben viele Entwicklungsländer bereits in eine prekäre finanzielle Lage gebracht.
Die Preise steigen weiter an, ohne dass ein Ende in Sicht ist, und das Schlimmste der Krise steht noch bevor. Während die nationalen Regierungen ihr Bestes tun, um die Zinssätze und Löhne anzupassen, sind sie gleichzeitig mit der globalen Inflation und dem internationalen Druck konfrontiert, sich gegen Russland zu behaupten. Menschenrechtsverletzungen können nicht geduldet werden, und es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft dem ukrainischen Volk zur Seite steht. Während jedoch russische Sanktionen unterschiedslos verhängt werden, werden die wesentlichen Funktionen russischer Agrarunternehmen in den globalen Nahrungsmittelsystemen behindert.
Der Ukraine zu helfen und Russland zu bestrafen, kann und sollte geschehen, ohne Millionen von Menschen der Nahrungsmittelknappheit zu opfern. Unterernährung und Hunger sind bereits ein ernstes Problem in den Schwellenländern, und willkürliche Sanktionen tragen nicht dazu bei. Die derzeitigen EU-Sanktionen haben sogar einigen in der EU ansässigen Düngemittelunternehmen wie EuroChem mit Sitz in Antwerpen aufgrund ihrer Verbindungen zu Russland den Abschluss von Geschäften untersagt und so zu weiteren Unterbrechungen der Lieferkette beigetragen. Europäische Unternehmen müssen sich an diese Sanktionen halten, obwohl die negativen Auswirkungen dazu geführt haben, dass die EU darüber nachdenkt, die Sanktionen gegen bestimmte besonders betroffene Unternehmen und Personen, wie z. B. die Eigentümer von EuroChem, aufzuheben.
Dielaufenden Dialoge zwischen Russland und der Ukraine, die von Drittländern vermittelt werden, sollen einen Teil der Getreidelager freigeben, doch ist dies nur eine vorübergehende Lösung. Da die Preise weiter steigen, reicht eine Wiederaufnahme der Lebensmittelimporte nicht aus, um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Nur die Verhängung intelligenter Sanktionen gegen die Landwirtschaft und insbesondere gegen Düngemittelfirmen wird dazu beitragen, Millionen unschuldiger und schutzloser Menschen in der Ukraine und in den Entwicklungsländern zu schützen. Andernfalls wird es den Entwicklungsländern weiterhin an der landwirtschaftlichen Autonomie fehlen, die sie für die Ernährung ihrer Bevölkerung benötigen.
Bruno Roth hat sein ganzes Leben lang Geschichte studiert und war früher technischer Redakteur bei der Allianz Deutschland. Jetzt ist er wieder in seiner Heimat Schweiz und geht seiner Leidenschaft für den Journalismus nach.