Es gab großen Beifall, als Ursula von der Leyen vor drei Monaten klare Kante gegen Viktor Orbán versprach. »Wir haben den Rechtsstaatsmechanismus aktiviert«, erklärte die Präsidentin der EU-Kommission kühl im Europaparlament. Der werde nun »nach dem vorgeschriebenen Zeitplan« in Gang gesetzt.
Endlich, so schien es, will die EU dem ungarischen Ministerpräsidenten wegen seiner fortgesetzten Verstöße gegen Demokratie und Gewaltenteilung den Geldhahn zudrehen.
Seither belauern sich die Streitparteien in ihrem seit Jahren schwelenden Dauerkonflikt.
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Mal provozierte Orbán die EU mit Einsprüchen gegen Russland-Sanktionen oder Konzernsteuern. Mal schickte er Emissäre nach Brüssel, die Entgegenkommen in Sachen Rechtsstaat signalisierten.
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Von der Leyen wiederum bekräftigte ihre Kritik an Orbán, sagte im ähnlich gelagerten Streit mit Polen aber zu, blockierte EU-Gelder bald wieder fließen zu lassen.
Kann es sein, so fragen sich nun viele in Brüssel, das auch der starke Mann in Budapest mit Milde rechnen darf?
Gelder »zu einhundert Prozent« zurückhalten
Wenn es nach führenden Juristinnen und Juristen geht, darf es zu diesem Szenario auf keinen Fall kommen. Im Auftrag der Grünenfraktion im Europaparlament haben die Rechtsgelehrten Kim Lane Scheppele (Princeton), Daniel Kehleman (Uni New Jersey) und John Morijn (Uni Groningen) den Fall unter die Lupe genommen. Und was sie dazu veröffentlichen, ist geeignet, der Debatte neue Dynamik zu verleihen.
In ihrem 32-seitigen Gutachten kommen die Professorin und die Professoren zu dem Schluss, dass die EU-Kommission dem Land nicht nur Mittel aus den verschiedenen Agrar-, Kohäsions- und Wiederaufbauetats kürzen sollte. Sie halten es sogar für »angemessen« und »verhältnismäßig«, Ungarn von jeglichem Geldzufluss aus Brüssel abzuschneiden.
Weil das Land derart »fundamental, regelmäßig und weitreichend« gegen demokratische Prinzipien verstoße, sei die »Rechtmäßigkeit der Vergabe von EU-Mitteln« in Ungarn generell gefährdet. Deshalb halten es die Gutachter für »angezeigt«, dass Brüssel die Gelder »zu einhundert Prozent zurückhält«.
Es sei wie bei einer »Trinkwasserleitung aus Blei«, argumentiert das Juristen-Trio: Solange das vergiftete Rohrsystem nicht ausgetauscht sei, müsse jeder Tropfen Wasser, der hindurchströme, »als kontaminiert gelten«.
Autokratischer Regierungschef Orbán
Foto: GABRIEL BOUYS / AFP
Das Ergebnis setzt nicht nur die EU-Kommission unter Druck, das Verfahren gegen Orbán voranzutreiben. Es trifft den autokratischen Regierungschef auch an seiner empfindlichsten Stelle.
Seit Jahren inszeniert sich der Regierungschef als Verteidiger abendländischer Werte gegen eine angeblich allzu ausländerfreundliche und dekadente EU. Zugleich nimmt Orbán die Milliarden aus Brüssel gern entgegen, um im großen Stil Familienmitglieder und politische Günstlinge zu belohnen und das politische System auf sich zuzuschneiden.
Dadurch seien weder die Verwaltung noch die Rechnungsprüfer oder die Gerichte des Landes in der Lage, gegen die »systemische Korruption« in Ungarn vorzugehen. Solange sich dies nicht ändere, könnten »die finanziellen Interessen der EU nur verteidigt werden, indem der Geldfluss zu hundert Prozent gestoppt werde«, heißt es in dem Gutachten.
Das Sündenregister, das die Juristen aufmachen, ist lang. Orbán habe seine parlamentarischen Mehrheiten genutzt, um durch wiederholte Änderungen der Verfassung die Rechte der Opposition zu beschneiden. Seit mehr als zwei Jahren regiere er mithilfe von Notstandsgesetzen, die ihm gleichermaßen diktatorische Vollmachten verleihen. Schon das sei ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze.
Fahrplan für tiefgreifende Reformen
Seine politische Macht wiederum habe Orbán genutzt, die Justiz unter Kontrolle zu bringen. Das Verfassungsgericht habe er mit Parteigängern besetzt, unabhängige Richter aus dem Amt gedrängt und die Kompetenzen des politisch beeinflussten obersten Gerichts des Landes ausgeweitet. Die Behörden, die für die Kontrolle der Staatsfinanzen und die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständig sind, hat Orbán der Studie zufolge ebenfalls seinem Einfluss unterworfen.
Dass EU-Mittel deshalb in großem Umfang missbraucht werden, leiten die Gutachter aus einer Reihe von Verstößen der vergangenen Jahre ab. Die ungarische Regierung habe wiederholt Ergebnisse der EU-Betrugsermittlungsbehörde OLAF ignoriert. Und nach einer Kommissionsstudie sei eine große Zahl öffentlicher Aufträge an eine geringe Zahl von Firmen gegangen, deren Eigentümer mit dem Orbán-System in enger Verbindung stehen.
Die ungarischen Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip seien »systemimmanent«, urteilen die Juristen. Nötig sei deshalb eine »proportionale« Reaktion, wie es die EU-Regeln verlangten. Der Fluss der EU-Mittel in das Land, so fordern die Juristen, müsse vollständig eingestellt werden.
So sehen das auch viele Mitglieder des Europaparlaments. »Nach 60 Vertragsverletzungsverfahren ist unsere Geduld mit Orbán erschöpft«, sagt der grüne EU-Abgeordnete Daniel Freund. »Europäische Regeln verlangen, alle EU-Mittel an Ungarn umgehend einzufrieren.« Zugleich müsse die Kommission einen Fahrplan für tiefgreifende Reformen am politischen System des Landes vorlegen, den Orbán zu befolgen habe.
Der grüne Europaparlamentarier ist besorgt, dass von der Leyen dem ungarischen Regierungschef zu weit entgegenkommen könnte, um die Einheit der EU im Ukrainekrieg aufrechtzuerhalten. Im ähnlich gelagerten Streit mit Polen drohe sich von der Leyen bereits mit kosmetischen Korrekturen zufriedenzugeben, warnt Freund. »Dazu darf es im Fall Ungarn nicht kommen.«
Der Grünen-Parlamentarier steht nicht allein. Wenn das Rechtsgutachten an diesem Mittwoch vorgestellt wird, sitzen an seiner Seite auch die Vertreter der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Fraktionen im EU-Parlament.
Sie alle verlangen ebenfalls ein konsequentes Vorgehen gegen den Regierungschef, den schon von der Leyens Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker gern als »Diktator« bezeichnet hat.
»Geld ist der Hebel, der Orbán beeindruckt«, sagt Freund: »Diesen Hebel müssen wir nutzen.«