Exkursion in Franken
Es klingt nach einem lustigen Klassenausflug: Einmal im Jahr bricht der Bundespräsident mit dem Diplomatischen Korps, also den rund 150 in Deutschland akkreditierten Botschafterinnen und Botschaftern sowie den Leitern internationaler Organisationen auf, um die Schönheiten Deutschlands zu erkunden. Heute geht es nach Franken, allein deshalb, weil Bayern seit 2006 nicht mehr auf dem Plan der bunten Reisegruppe gestanden hat, wie es aus dem Bundespräsidialamt heißt.
Gerade noch in Hamburg (mit Buddelschiff beim Geburtstag des Überseeclubs), am Dienstag in Franken unterwegs: Bundespräsident Steinmeier
Foto:
Axel Heimken / dpa
In Nürnberg stehen Besuche eines mittelständischen Unternehmens aus dem Maschinen- und Anlagenbau, des Germanischen Nationalmuseums und der Kartäuserkirche an, wo Markus Söder die Gruppe zum Mittagessen erwartet. Am Nachmittag geht es ins Helmholtz-Institut für Erneuerbare Energien nach Erlangen und zum Weltkulturerbe in der Stadt Bamberg. Nur einige dürfen nicht mit: Vertreter von Schurkenstaaten wie Russland oder Iran müssen in ihren Berliner Residenzen bleiben.
Steinmeier will in einer Rede an die Botschafterinnen und Botschafter auch an deren Berufsethos appellieren. Es gehe nun darum, dem »Gift des Misstrauens« etwas entgegenzusetzen, wird Steinmeier sagen, im globalen Dialog zu bleiben, statt dem Blockdenken und dem Aufkommen nationalistischer Egoismen nachzugeben.
Es wird wohl eine recht pathetische Rede werden.
Zugleich wird der Bundespräsident der Ukraine zusichern, dass Deutschland weiterhin »fest und entschlossen« an ihrer Seite stehe und sie militärisch, politisch und finanziell unterstützen werde.
Einer, für den diese Worte wohl auch gedacht sind, fährt allerdings gar nicht mit. Der ukrainische Botschafter Andrji Melnyk hat abgesagt, aus Termingründen, wie es heißt.
Ukrainischer Botschafter Melnyk: Auf dem Absprung?
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IMAGO/Christian Spicker
Vielleicht aber packt er auch schon seine Koffer. Wie die »Bild«-Zeitung und die »Süddeutsche Zeitung« mit Hinweis auf Informationen aus ukrainischen Regierungskreisen berichten, könnte der umstrittene Botschafter aus Deutschland bald abberufen werden und künftig im Kiewer Außenministerium arbeiten.
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Moskaus Schleiferfolg
Schöne Worte sind das eine, konkrete Taten das andere. Wie genau die militärische Unterstützung für die Ukraine in naher Zukunft aussehen könnte, dazu wird sich Steinmeier nicht äußern, es ist ja auch nicht sein Job. Relevant bleibt die Frage trotzdem.
Zuletzt hatten sich Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht darum bemüht, detailliert aufzuzählen, was Deutschland alles bereits an Munition und Gerät in die Ukraine geliefert habe oder dies gerade plane. Am Ende sah die Bilanz gar nicht so übel aus.
Panzerhaubitze 2000: Begehrtes Gut
Foto: Michael Kappeler / dpa
Doch auch diese Bilanz ist ein paar Tage alt, um das Thema Waffenlieferungen ist es erstaunlich ruhig geworden, von deutscher Seite aus, aber auch von ukrainischer. Vor einigen Tagen hatte Lambrecht angekündigt, drei weitere Panzerhaubitzen 2000 in die Ukraine zu liefern, begleitet mit einer klaren Ansage: »Damit gehe ich schon an die absolute Grenze dessen, was verantwortbar ist.« Mit anderen Worten: Mit der Haubitze war’s das erst mal.
Es kommen nun aber Tage, an denen die Ukraine wieder massiv auf gelieferte Waffen angewiesen sein wird. Die russische Eroberung der strategisch wichtigen Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk markiert einen signifikanten Sieg Moskaus in seinem Plan, mittelfristig den Donbass zu erobern. Sie zeigt auch, dass die russische Strategie des »beständigen Schleifens«, wie es manche nennen, Erfolg hat. Russland kontrolliert nun bereits ein Fünftel der Ukraine.
Meint Deutschland es also ernst mit seinem Versprechen für die Ukraine, dann muss es jetzt dafür sorgen, dass weiterhin und kontinuierlich Waffen in die Ukraine geliefert werden.
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Die Schüsse und der Supreme Court
Vorgestern Kopenhagen, gestern Highland Park, die Dichte an Attentaten ist erschreckend. Mindestens sechs Menschen starben, als am gestrigen Unabhängigkeitstag ein Schütze bei der Parade in dem Vorort von Chicago das Feuer eröffnete. Wieder ein Verrückter, wieder eine Tat, die schrecklich, aber nicht zu verhindern ist? In den USA kann man diese Ereignisse nicht bewerten, ohne das politische Klima mitzuberücksichtigen.
Polizisten in Chicagoer Vorort Highland Park: Auf Parade geschossen
Foto: TANNEN MAURY / EPA
Noch vor wenigen Tagen schrieb der New Yorker Juraprofessor Michael Waldman auf Twitter mit erschreckender Prognosefähigkeit: »Es wird mehr Waffen geben, mehr Gewalt.« Er kommentierte ein Grundsatzurteil des mehrheitlich konservativ besetzten Supreme Court, der sechs US-Bundesstaaten untersagt hatte, das verdeckte Tragen von Schusswaffen außerhalb der eigenen vier Wände einzuschränken. Es sind solche Urteile, die eine Bluttat wie die gestrige mit ermöglichen.
In meiner Zeit als USA-Korrespondent habe ich die Beziehung der Amerikaner zu ihren Waffen zu verstehen versucht. Es gibt historische Gründe, die einiges erklären, die fehlende Polizeipräsenz in vielen Landstrichen der USA in früheren Jahrzehnten, das daraus resultierende Selbstverständnis, sich gegen die Gefahren des Lebens selbst verteidigen zu müssen. Es gibt gesellschaftliche Gründe, das Gefühl von Sicherheit und Respekt, das eine Waffe vermittelt. Und ich würde lügen, wenn ich behauptete, das Ballern in einem Schießclub hätte mir nicht auch Freude bereitet.
Polizistin präsentiert Modell eines Gewehrs, mit dem Attentäter Lanza Schulkinder erschoss
Foto: Jessica Hill/ AP
Nie verstanden habe ich, warum Amoktäter wie Adam Lanza, der 2012 an der Grundschule Sandy Hook in Newtown (Connecticut) 28 Menschen, davon 20 Kinder, erschossen hat, nicht zu einem radikalen Umdenken in der amerikanischen Gesellschaft geführt haben. Wenn selbst der brutale Mord an Kindern den massiven Einfluss von Lobbyverbänden wie der National Rifle Association (NRA) nicht zu brechen vermag, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Befürworter eines strengeren Waffenrechts in den USA wohl nie durchsetzen werden. Und nur so ist es zu erklären, dass die höchsten US-Richter selbst die zaghaften Bestrebungen des Senats, die Waffengesetze zu reformieren, mit ihrem Urteil sehr bewusst unterlaufen haben.
Es ist auch die späte Rache von Ex-Präsident Donald Trump, der mit zwei Neubesetzungen die erzkonservative Linie des höchsten Gerichts für viele Jahre zementierte.
Nach Angaben der Non-Profit-Organisation Gun Violence Archive hat sich die Zahl der Massenerschießungen in den USA in diesem Jahr mit der gestrigen Tat auf 308 erhöht.
Attentat auf Parade zum 4. Juli: Waffenterror am US-Nationalfeiertag
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Lockerungen im Waffenrecht: Feuer frei in Amerika
Nachtrag: TikTok und Melnyk
Gestern berichtete ich in der Morgenlage darüber, dass der Videodienst TikTok einen Teil des viel beachteten Interviews des Journalisten Tilo Jung mit dem ukrainischen Botschafter Melnyk gesperrt hatte, weil es angeblich gegen die Community-Richtlinien verstoße. Nun meldete sich das Unternehmen und kündigte an, das Video nach erneuter Prüfung wiederherzustellen. Dazu teilte eine TikTok-Sprecherin mit: »Wir wissen, dass wir nicht immer alles richtig machen – dies ist ein komplexer und nuancierter Bereich, und wir investieren weiterhin in die Stärkung unserer Richtlinien und Durchsetzung unserer Strategien sowie in die Schulung unserer Teams.«
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Verlierer des Tages ist Deutschland …
… weil es seinen Spitzenplatz in der Weltwirtschaft verloren hat, zumindest kann man die jüngsten Zahlen so interpretieren. Erstmals rutschte seit der Wiedervereinigung die deutsche Handelsbilanz ins Minus, der einstige Exportweltmeister Deutschland führte zuletzt also – nach dem Wert betrachtet – mehr Güter ein als aus. Wo bleiben die guten Nachrichten, wo sind die deutschen Innovationen?
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Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag!
Ihr Martin Knobbe