1. Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis
Was bringen Schulschließungen, Weihnachtsmarktabsagen, Masken oder gar Impfungen bei der Bekämpfung der Coronapandemie? Nicht nur in der Politik, sondern auch in vielen Familien wurde in den letzten Monaten über diese Fragen teils erbarmungslos gestritten. Mit großer Spannung wurden daher die Ergebnisse des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses erwartet, die heute präsentiert wurden.
Die Experten haben die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf insgesamt 165 Seiten teils kritisch bewertet. Sie kommen in ihrer Evaluation etwa zu dem Schluss, dass die Risikokommunikation in Deutschland nur schlecht genutzt wurde und auch die Aufklärungskampagne besser hätte gestaltet werden können. Die Wirkung von Masken zum Schutz vor der Übertragung sei außerdem nur dann gegeben, wenn die Menschen sie richtig aufsetzten. Künftig solle deshalb stärker über das richtige Tragen von FFP2-Masken aufgeklärt werden.
Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus bleibt aber trotz zahlreicher Studien weiterhin offen. Auch deshalb hat mich das Expertengutachten ziemlich ratlos zurückgelassen. Meine Kollegin Milena Hassenkamp aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro, die alle 165 Seiten gelesen hat, sieht es ähnlich: »Am Ende steht die Frage, warum sich die Wissenschaftler die Mühe eigentlich gemacht haben«, sagt sie.
Auch Viola Kiel aus dem SPIEGEL-Wissenschaftsressort kommt in ihrem Kommentar zum Schluss: »Es ist in Deutschland offenbar auch nach zweieinhalb Jahren, in denen Sars-CoV-2-Viren durch unser Leben kreuchen, eine unüberwindbare Herausforderung, wissenschaftlich brauchbare Daten zum Pandemiegeschehen bereitzustellen und zu pflegen.« Für sie ist klar: »Deutschland braucht eine Infrastruktur für Forschungsdaten – eine digitale.«
Was lernen wir nun daraus für den Herbst? Momentan scheint jedenfalls die Strategie der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Pandemie eine möglichst großflächige Durchseuchung der Bevölkerung zu sein. Die Menschen in meinem Freundes-, Kollegen- und Familienkreis, die noch keine Bekanntschaft mit dem Virus gemacht haben, kann ich jedenfalls langsam an den Fingern einer Hand abzählen. Vielleicht hat es Sinn, nicht mehr die Zahl der täglichen Neuinfektionen zu zählen, sondern diejenigen Bürgerinnen und Bürger zu erfassen, die erwiesenermaßen seit zwei Jahren Corona-negativ sind. Was machen die eigentlich richtig?
Die wichtigste Vorbereitung für den Herbst bleibe, »dass die Menschen sich impfen lassen« , sagt Hausärzte-Verbandschef Ulrich Weigeldt heute im Interview mit meiner Kollegin Jule Lutteroth. Er mahnt außerdem eine intelligentere Impfkampagne an. »Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß.« Das habe damals jeder sofort verstanden. »Jetzt krempelt Deutschland die Ärmel hoch. Das motiviert doch niemanden.«
-
Lesen Sie hier den Kommentar: Nur keine Eile, nach zweieinhalb Jahren
2. Gekommen, um zu bleiben
Die Bundesrepublik steht vor einer der größten Krisen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Inflation erreicht Rekordhöhen, eine Rezession droht. Und der Regierung fehlt ein gemeinsames Projekt, wie sich der soziale Frieden sichern ließe. »Was passiert in Deutschland, wenn der Wohlstand drastisch schwindet?« Dieser Frage widmet sich ein Team aus SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteuren in der Titelstory der neuen Heft-Ausgabe, die morgen am Kiosk erscheint und heute bereits digital zu lesen ist.
Seit der Wiedervereinigung habe es nicht mehr so viele arme Menschen in Deutschland gegeben, heißt es beispielsweise im Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands. Nie hätten mehr Kinder und Alte im geeinten Deutschland in Armut leben müssen. Nie sei die Armutsquote so rasant gestiegen wie 2020 und 2021. »Vieles spricht dafür, dass die Krise auch die große deutsche Mittelschicht erodieren könnte«, heißt es in der Titelstory meiner Kollegen aus dem SPIEGEL-Hauptstadtbüro. »Wenn die Mittelschicht kippt, kann alles kippen.«
Sehr lesenswert ist daher die »Reise durch das deutsche Teuerland« meiner Kollegen Maik Großekathöfer und Katja Thimm. Sie haben eine Familie, einen Single, eine Rentnerin und zwei Alleinerziehende besucht.
Jens Diezinger, ein Familienvater aus Rheinland-Pfalz, zum Beispiel hat Angst davor, dass die Inflation »gekommen ist, um zu bleiben«, wie er sagt. Und dass er dann nachts schlaflos im Bett liegt, weil er überlegen muss, wie er den Kühlschrank für seine Familie voll bekommen soll. Seine Tochter Lena, die fürs Abendessen zuständig ist, wirkt mit ihren 15 Jahren ungewöhnlich erwachsen, wenn sie sagt: »Ich versuche, ausgewogen zu kochen. Gemüse, Kohlenhydrate, Ballaststoffe, gesunde Fette. Das Problem ist: gesund kochen und günstig einkaufen – das überschneidet sich nicht.«
Lesen Sie hier die ganze Titelgeschichte: Erst Inflation, dann Rezession
3. Schicksalstag in Hongkong
»Hierzulande wird extrem unterschätzt, wie stark unser Wohlstand von China mitfinanziert wird.« Gerade weil wir in letzter Zeit so viel über die steigende Armut lesen und schreiben, hat mich dieser Satz bei der Lektüre des neuen SPIEGEL-Hefts besonders aufhorchen lassen. Er stammt von VW-Boss Herbert Diess, der im Gespräch mit meinem Kollegen Simon Hage und unserem Chefredakteur Steffen Klusmann den Chinakurs der Bundesregierung kritisiert. »Ohne die Geschäfte mit China würde die Inflation noch weiter explodieren« , glaubt Diess. Würden wir uns davon abkoppeln, sähe Deutschland völlig anders aus. »Wir hätten sehr viel weniger Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung.«
Volkswagen etwa beschäftigt in Deutschland 20.000 bis 30.000 Entwickler. Die Hälfte davon arbeitet für Kundinnen und Kunden in China. Vier Milliarden Euro Gewinn flössen jährlich aus der Volksrepublik hierher, rechnet der VW-Chef vor. »Meinen Führungskräften sage ich immer: Ein Großteil eures Bonus wird in China erwirtschaftet.«
Noch eine Sache solle man sich aber auch klarmachen: Den deutschen Wohlstand verdanken wir dem Handel mit einem Unterdrückerregime. Er wird moralisch sehr fragwürdig erwirtschaftet. Nach der Veröffentlichung der Xinjiang Police Files vor einem Monat schrieb Simon Hage deshalb im SPIEGEL-Leitartikel : »Weite Teile des Westens haben sich einem Regime ausgeliefert, das so brutal gegen vermeintlich Andersdenkende vorgeht, dass die Parlamente Kanadas, Frankreichs und der Niederlande sowie die US-Regierung von einem Genozid sprechen.«
Gerade heute lohnt der Blick auf China. Denn am 1. Juli vor 25 Jahren wurde die einstige Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik zurückgegeben. Seitdem hat sich die Lage dort für viele Bürgerinnen und Bürger dramatisch verschlechtert, wie der drastische Report meiner Kollegen Georg Fahrion, Christoph Giesen und Muriel Kalisch zeigt. Viele Demokratieaktivisten seien inzwischen nach Großbritannien geflohen. »China hat sich die Stadt weitgehend einverleibt«, schreiben sie.
-
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Das widerständige Hongkong ist jetzt in London
(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)
Was heute sonst noch wichtig ist
-
Russland droht mit Schließung seiner Botschaft in Bulgarien: Zuletzt kappte Moskau die Gaslieferungen nach Bulgarien, folgen nun die diplomatischen Beziehungen? Nach der Ausweisung Dutzender russischer Diplomaten aus Sofia erwägt das Land offenbar Gegenmaßnahmen.
-
SPD blockiert Gesetz – und hilft damit der AfD: Eine AfD-nahe Stiftung bekommt kein Steuergeld und klagt dagegen. Sie könnte Recht bekommen, denn ein Gesetz fehlt. Grüne und FDP wollen Abhilfe schaffen, doch die Sozialdemokraten wiegeln nach SPIEGEL-Informationen ab.
-
Banken wollen Milliarden vom Staat zurück: Deutschlands Geldinstitute hoffen, dass aus dem nationalen Restrukturierungsfonds 2,3 Milliarden Euro an sie zurückfließen. Doch dagegen regt sich Widerstand.
-
Entgleister Zug bei Garmisch – kaputte Betonschwellen als mögliche Ursache: Nach dem Zugunglück nahe Burgrain in Bayern mehren sich laut Medienberichten die Hinweise, dass die Strecke beschädigt gewesen sein könnte. Das legt offenbar ein Dokument des Bundestags nahe.
-
Handelsverband spricht von Störung »nie zuvor gesehener Dimension«: Die Probleme bei Kartenzahlungen mit einem weit verbreiteten Gerät haben Verbraucher und Unternehmen verunsichert. Der Handelsverband Deutschland hat nun 800 Firmen zu den Beeinträchtigungen befragt.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Zeiten ändern sich
Beim nächsten Ton ist es … still: In Frankreich wurde die automatische Zeitansage Punkt Mitternacht abgeschafft. Im Smartphone-Zeitalter sei der Bedarf gesunken, hieß es. So weit, so logisch. Trotzdem ging mir diese Meldung heute den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf.
Vielleicht weil sie zeigt, wie sehr die Erfindung des Handys unseren Alltag revolutioniert hat. Nicht nur die genaue Uhrzeit tragen wir permanent in unseren Handtaschen oder Hosentaschen durch die Gegend. Ich entsperre zum Beispiel seit Neuestem mein E-Bike per App, schreibe Tagebuch per App, suche nach Schokoladenkuchen-Rezepten per App, erledige Überweisungen, bezahle Parktickets, buche Kinokarten per App. Die Aufzählung würde noch drei weitere Absätze problemlos füllen.
Seltsamerweise telefoniere ich viel seltener als früher mit Menschen. Viel Kommunikation findet heutzutage per Kurznachricht, im Videocall, über Mailverkehr oder Herzchen in sozialen Netzwerken statt. Vielleicht sollte ich meine Freunde wieder mehr anrufen? Oder gar die 0180 4100 100 wählen. In Deutschland bietet die Telekom die automatische Zeitansage weiterhin unter dieser Nummer an. Besonders zur Zeitumstellung von Sommer- und Winterzeit erfreue sich die Zeitansage auch noch heute großer Beliebtheit, heißt es.
-
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Automatische Zeitansage in Frankreich ist eingestellt worden
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
-
So funktioniert der Wirtschaftskrieg gegen Putin: Die EU hat die Sanktionen gegen Russland lange vorbereitet – und greift jetzt so hart durch wie nie zuvor. Geht die Strategie auf? Ein Besuch in der Kommandozentrale in Brüssel .
-
»Biden wird die Ziele beim Klimaschutz nicht einhalten können«: Das oberste US-Gericht hat eines der wichtigsten Klimaschutzinstrumente der Regierung beschnitten: die Umweltbehörde. Die Auswirkungen dürften gravierend sein, auch international .
-
Lieber weghören: Der ukrainische Botschafter Andrej Melnyk hat die Kriegsverbrechen eines Nationalistenführers in Polen verharmlost. Die Regierung in Warschau hält sich trotzdem mit Kritik zurück – zu wichtig ist das Bündnis mit Kiew .
-
Dieser Däne ist nun deutscher Minister – was will er, was kann er? Claus Ruhe Madsen ist neuer Wirtschaftsminister von Schleswig-Holstein. Dabei war seine Bilanz als Rostocker Oberbürgermeister ziemlich durchwachsen .
Was heute weniger wichtig ist
Glück im Unglück: In der Nähe des Hubbard-Gletschers in Alaska ist ein Kreuzfahrtschiff mit einem Eisbrocken zusammengestoßen. Laut der US-Küstenwache wurde es durch den Aufprall am Steuerbordbug beschädigt, wie CNN meldet. Taucher begutachteten das Schiff und stellten fest, dass es noch seetüchtig war. Es konnte mit geringerer Geschwindigkeit weiter in seinen Heimathafen nach Seattle fahren, wo es nun repariert werden soll. Verletzt wurde bei dem Zusammenstoß offenbar niemand.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Bei guten Noten will er Daniel die Aufnahmegebühr für eine Finanzplatztform zahlen, die freiberuflichen Tradern Kapital verspricht.«
Cartoon des Tages: Nato-Gipfel
Foto: Illustration: Chappatte
Und am Wochenende?
Was für ein Name! Der Regisseur Jöns Jönsson klingt wie ausgedacht. Vor allem, wenn man weiß, dass er einen Film über einen Hochstapler mit wechselnden Identitäten gedreht hat. Es handelt sich bei dem gebürtigen Schweden, der an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg studiert hat, aber offenbar um einen real existierenden Menschen, den die SPIEGEL-Filmexpertin Hannah Pilarczyk als »echtes Regietalent« bezeichnet.
Hauptfigur seines Debütfilms »Axiom« ist der Museumswächter Julius, der sein Umfeld mühelos davon zu überzeugen versteht, dass er jemand ganz anderes, Besseres, Interessanteres ist. Mehr sollte über »Axiom« aber nicht verraten werden, schreibt Hannah, »denn der Reiz der toll inszenierten und noch besser gespielten Geschichte« sei, »dass man so gut wie nichts über Julius weiß und sich ständig ein neues Bild von ihm zusammensetzen muss«.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.