1. Verbrenner, Verrenner
Eltern kennen das: Manchmal ist es besser, den Krach der Kinder zu überhören. Beim Koalitionskrach wegen des geplanten Endes für Autos mit Verbrennungsmotor hat sich Olaf Scholz offenkundig für diese Methode entschieden. Den Schlagabtausch zwischen seiner grünen Umweltministerin und seinem liberalen Finanzminister ignorierte er demonstrativ. Als er danach gefragt wurde am Ende des G7-Gipfels, sagte der Kanzler, man orientiere sich am Koalitionsvertrag: »Wir sind eigentlich einig, geschlossen zu handeln.« (Mehr zum Gipfel hier.)
Das Problem mit Krach ist: Jede und jeder kann ihn hören. Erst kündigt Umweltministerin Lemke im ZDF an, die Bundesregierung werde dem EU-weiten Verbrenner-Aus ab 2035 zustimmen. Dann twittert Finanzminister Lindner, diese Äußerungen seien »überraschend« und entsprächen nicht den Vereinbarungen. »Verbrennungsmotoren mit CO₂-freien Kraftstoffen sollen als Technologie auch nach 2035 in allen Fahrzeugen möglich sein.«
Oft entscheiden sich Eltern aus Hilflosigkeit fürs Ignorieren – weil ihnen einfach nichts anderes einfällt. Manchmal geht das sogar gut. Am Nachmittag hat Lemke einen Kompromiss vorgeschlagen: Das generelle Aus für Verbrenner, die mit Diesel und Benzin betrieben werden, soll kommen, aber es soll Ausnahmen geben für sogenannte E-Fuels, also synthetische Kraftstoffe, die als CO₂-neutral gelten. Die FDP muss aufpassen, hier nicht zum Verrenner zu werden.
Am späten Nachmittag einigten sich die Ampelparteien schließlich auf einen solchen Kompromiss.
Allerdings wird es nicht reichen, nur die Antriebe umzustellen. Das zeigt eine Zeitreise, die mein Kollege Arvid Kaiser unternommen hat – nach Norwegen . »Das Land ist der EU auf dem Weg von Verbrennungsmotoren zur E-Mobilität etwa ein Jahrzehnt voraus«, sagt Arvid. »Das Verbrenner-Aus ist dort fast schon erreicht.« Überrascht hat ihn, wie normal sich alles anfühlt – auch bei den Alltagsproblemen. Die Leute warten jetzt halt manchmal mit ihren Ioniqs, Teslas, ID.4s. »Norwegen hat den Stau teilelektrifiziert«, sagt Arvid. Was sinnvoller erscheint: Die Innenstädte autofrei zu machen – mit einfachen Mitteln: Oslo hat Tausende Parkplätze umgewidmet zu Leihradstationen, Caféterrassen und Blumenbeeten.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Warum es in Norwegen schon heute (fast) ohne neue Verbrenner klappt
2. Weniger Netto vom Brutto
Alles wird teurer, auch die Krankenkasse: Für die über 57 Millionen Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) steigt der Zusatzbeitrag im kommenden Jahr deutlich. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine Erhöhung des Zusatzbeitrags um 0,3 Prozentpunkte angekündigt. Derzeit beträgt der durchschnittliche Zusatzbeitrag 1,3 Prozent.
Zusammen mit dem allgemeinen Beitragssatz von derzeit 14,6 Prozent müssten dann 16,2 Prozent vom Bruttolohn für die Krankenversicherung abgeführt werden. Der Beitrag in der GKV war noch nie so hoch.
Lauterbach begründete die Erhöhung mit einem Defizit von rund 17 Milliarden Euro, das andernfalls der GKV im kommenden Jahr drohe. Zusätzlich werde der Bundeszuschuss um zwei Milliarden Euro erhöht. Vorgesehen sei auch ein Bundesdarlehen von einer Milliarde Euro.
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Lesen Sie hier mehr: Zusatzbeiträge zur Krankenversicherung steigen deutlich
3. Politik des Wegschauens, Politik des Draufhauens
Nach den Todesfällen am Grenzzaun in Melilla haben sich der Papst und zwei UN-Organisationen geäußert: Franziskus twitterte, das Schicksal der verunglückten Geflüchteten schmerze ihn. Und das Uno-Menschenrechtsbüro sowie der Uno-Ausschuss für Wanderarbeitnehmer haben Spanien und Marokko aufgefordert zu untersuchen, was genau in der spanischen Exklave am Wochenende geschah. Bislang ist offenbar nicht einmal klar, wie viele Menschen genau zu Tode kamen – laut offiziellen Angaben mindestens 23, Menschenrechtler zählten mindestens 29. (Hier erklärt meine Kollegin Monika Bolliger, was die Westsahara mit der Migration nach Europa zu tun hat ).
Oft drängt sich der Eindruck auf, Europa will gar nicht so genau wissen, wie es an seinen Außengrenzen zugeht, ob nun in Nordafrika oder in Griechenland oder Kroatien. Dabei zeigt sich gerade dort, dass die EU sich in die Tasche lügt, wenn sie sich als »Raum des Rechts« bezeichnet. Denn dort, wo die Schwächsten ankommen und um Hilfe bitten, gibt es immer wieder Rechtsbrüche – auch von staatlichen Stellen.
Das offenbart heute – leider erneut – die Recherche eines Teams um meine Kollegen Giorgos Christides, Steffen Lüdke und Maximilian Popp: Demnach setzt die griechische Polizei Geflüchtete gegen Geflüchtete ein – und benutzt sie für illegale Pushbacks . Zeugen, Satellitenbilder und Dokumente offenbaren, wie die Beamten die Schutzsuchenden ausnutzen. Mit der Aussicht auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis werden Geflüchtete geködert und auf andere Geflüchtete gehetzt.
»Griechenland schiebt seit Jahren Schutzsuchende gewaltsam in die Türkei ab«, sagt Max. »Dass die griechische Polizei für diese illegalen Pushbacks nun auch noch Geflüchtete einspannt, zeigt, wie verroht die griechische Asylpolitik ist.« Die europäischen Außengrenzen hätten sich in einen rechtsfreien Raum verwandelt. »Und die EU-Kommission und die Regierungen in den Mitgliedstaaten lassen es zu.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Griechische Polizei setzt Flüchtlinge gegen Flüchtlinge ein
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Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Dies ist der Krieg eines einzigen Mannes«: In Madrid treffen sich die Nato-Staaten zum Gipfel. Gastgeber Albares hofft auf einen Durchbruch für die Mitgliedschaft von Finnland und Schweden – und spricht über mögliche Panzerlieferungen an Kiew .
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»Eine der dreistesten Terrorattacken in der Geschichte Europas«: Russische Raketen haben ein Einkaufszentrum in Krementschuk getroffen, viele Menschen wurden verletzt oder getötet. Der ukrainische Präsident nennt die Attacke »Terror«.
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Warum eine Ukrainerin ausgerechnet in Gaza Schutz sucht: Als Putins Angriff begann, flohen Viktoria Saidam und ihr Mann nicht nach Westeuropa – sondern in den Gazastreifen. Explosionen gibt es hier auch, die Versorgung ist katastrophal. Bereuen sie die Entscheidung?
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Mit diesem Luftabwehrsystem soll der russische Vormarsch gestoppt werden: Die USA wollen die Ukraine mit weiteren Raketen beliefern. Das Luftabwehrsystem soll eine große Schwachstelle an der Front beheben. Wie es funktioniert und was es bringen soll .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
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Schottische Regierung plant neues Unabhängigkeitsreferendum: Die Volksabstimmung 2014 brachte keine Abspaltung von Großbritannien, nun startet Schottlands Regierungschefin Sturgeon nach dem Brexit einen neuen Versuch. Das Wunschdatum steht schon fest.
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Umstrittene Klimastiftung MV schreibt neues Förderprogramm aus: Die umstrittene Klimastiftung MV war in einem undurchsichtigen Konstrukt mit Gazprom vernetzt. Der Vorstand will zurücktreten, auch ein Untersuchungsausschuss tagt. Trotzdem wird die Stiftung nun wieder aktiv.
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Wüst als NRW-Ministerpräsident wiedergewählt: Der Koalitionspartner wechselt, der Regierungschef bleibt: Mit breiter Mehrheit hat der Landtag in Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt.
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Sieben-Tage-Inzidenz steigt auf 635,8: Die Coronazahlen in Deutschland steigen weiter. Das Robert Koch-Institut meldet 142.329 Neuinfektionen – in der Vorwoche waren es noch 123.097.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Die Klima-Kehrtwende des Kanzlers: Noch vor Kurzem hat sich Deutschland verpflichtet, nicht mehr in fossile Projekte im Ausland zu investieren. Doch nun wirbt Olaf Scholz für Gasförderung in Afrika. Was die Energie-Entscheidung der G7 bedeutet .
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Einmal auf die Hand, bitte! Steuerfreie Einmalzahlungen statt hoher Tarifabschlüsse? Olaf Scholz will eine Lohn-Preis-Spirale verhindern. Sein Ansatz könnte funktionieren, aber er ist riskant .
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Er wollte seine Gesundheit fördern: Blass, müde, geplagt von Bauchschmerzen: Als sich der 24-Jährige in der Notaufnahme vorstellt, stellt sich die Frage – zeigt sich hier eine angeborene Krankheit, oder hat den Mann etwas anderes erwischt?
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Warum heiratet man auf dem Mond, Herr Rein? Fußballer Kevin-Prince Boateng hat seine Ehe virtuell auf dem Mond geschlossen, andere wollen einen Livestream: Hochzeitsplaner Andrej Rein über Trends nach der Pandemie, die größten Kostentreiber und verrückte Extras .
Was heute weniger wichtig ist
Wer den Schaden hat, braucht für den Sport nicht zu sorgen: Ex-Tennisstar Boris Becker, 54, verklagt TV-Komiker Oliver Pocher, 44, weil er unter anderem erreichen will, dass ein Fernsehbeitrag aus der RTL-Sendung »Pocher – gefährlich ehrlich« aus dem Jahr 2020 nicht mehr gezeigt werden darf. Darin wurde ein Spendenaufruf gestartet, und es ist zu sehen, dass Becker das Geld auch bekam – aber ohne davon zu wissen: Es war in den Sockel eines vermeintlichen Modepreises eingearbeitet, der Becker verliehen wurde. Der Slogan »Make Boris rich again«.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Zu Gast sind diesmal Susanne Götze aus dem SPIEGEL-Wissenschaftsressort.«
Cartoon des Tages: Erdgasblase
Foto: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie kochen. Jetzt ist Saison für Zuckermais – unsere Köchin Verena Lugert empfiehlt, ihn als mexikanische Suppe mit einer Mango-Maracuja-Salsa zu genießen.
Sie erzählt auch, warum der Maisgott bei den Mayas so verehrt wurde. Der war es nämlich, der den Himmel aufrichtete, indem er ihn emporhob und mit einem Weltenbaum namens Wacah Chan im Zentrum des Universums abstützte. Und die Menschen im Maya-Mythos waren aus Mais geknetet. Das sollte Sie aber nicht davon abhalten, daraus Suppe zu kochen. (Wie Sie zum Maisterkoch werden, lesen Sie hier.)
See you Spoon. Schönen Abend, herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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