Der Parteitag in Erfurt läuft schon gut einen Tag, als der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann das Urproblem der Linken anspricht: die Lagerbildung. Es gebe da angeblich die »Bartschisten« und die »Wissleristen«, sagt er in seiner Bewerbungsrede für den Parteivorsitz. Und er selbst, er sei wohl ein »Wagenknecht«.
Gemeint sind die Reformer um Fraktionschef Dietmar Bartsch, die Bewegungslinken rund um die Parteichefin Janine Wissler – und die linken Anhängerinnen und Anhänger von Ex-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Gemeint ist aber auch der ewige Streit zwischen Gruppierungen. Taktiker Bartsch schützt seit Jahren die »Wagenknechte«, die machen es dem Parteiestablishment um Wissler schwer, eine progressive Linke zu formen.
Die Lager lähmen die Linke. Dabei gäbe es für die Partei einiges aufzuarbeiten: Nach mehreren Wahlniederlagen und einer MeToo-Debatte steckt sie in der Existenzkrise. Im Bundestag sitzt die Linke nur noch, weil sie trotz magerer 4,9 Prozent mit drei Direktmandaten einziehen konnte.
Der Erfurter Parteitag sollte nun eigentlich die Probleme der Vergangenheit klären – und ein Signal zum Neustart senden . Gleichzeitig musste sich die Partei auf eine gemeinsame Haltung im Ukrainekrieg einigen; der Vorstand wollte den russischen Angriffskrieg deutlich verurteilen, die Wagenknechte dagegen wollten viele Formulierungen abschwächen.
In Erfurt bemühten sich viele, den Lagerstreit kleinzureden. »Diese Strömungsdebatten schaden uns«, sagte Fraktionschef Bartsch, »wir sind eine Linke oder wir sind keine Linke«. Der politische Gegner sitze »nicht in der Partei, sondern außerhalb«, rief Wissler den Delegierten zu. Lageretiketten »kleben sehr schnell«, sagte dann auch Pellmann in seiner Rede, »sagen aber gar nichts über die Fähigkeiten zur politischen Zusammenarbeit aus«. Die Partei müsse lernen, wieder mehr miteinander zu reden, statt sich gegenseitig zu stigmatisieren.
Für die Aussage bekam Pellmann viel Applaus, lagerübergreifend. Doch schon am Sonntag war es mit der »Fähigkeit zur politischen Zusammenarbeit« wieder vorbei. Gegenüber dem SPIEGEL keilte Pellmann gegen das neue Führungsduo. Er vermisse einen echten Dialog zwischen den Lagern der Partei, persönliches Engagement werde von der Parteispitze »mit Füßen getreten«.
Das war nach seiner Niederlage in der Kampfabstimmung um den Parteivorsitz. Der sächsische Abgeordnete erhielt nur knapp 32 Prozent der Delegiertenstimmen. Mit deutlicher Mehrheit gewählt wurde der Europapolitiker Martin Schirdewan, der künftig mit Janine Wissler die Parteispitze bildet. Gemeinsam stehen beide nun vor der Aufgabe, die Partei zu einen. Und das auch für Wählerinnen und Wähler sichtbar zu machen.
Wie schwer das wird, zeigte der Parteitag gleich an mehreren Stellen:
1. Die Ukrainefrage
Wenn sich Delegierte im Vorfeld des Parteitages in einem Punkt einig waren, dann darin, dass die Stimmung spätestens dann kippen wird, wenn es zum Umgang mit dem russischen Angriffskrieg kommt. Im Leitantrag hatte die Linkenführung klar zum Leid der Menschen in der Ukraine Stellung bezogen, Russland wird dort als imperialer Aggressor benannt, der völkerrechtswidrige Angriff scharf verurteilt. Gleich mehrere Änderungsanträge – darunter einer aus dem Wagenknecht-Lager – wollten dem eine relativierende Lesart entgegensetzen. Zwar verurteilten auch die übrigen Anträge den Krieg als »völkerrechtswidrig«, wollten aber eine Mitschuld der Nato und der USA am Konflikt und ein klares Nein zu Sanktionen gegen Russland hinzufügen.
»Wir wissen, dass dieser Krieg eine Vorgeschichte hat«, sagte Wissler vor den Delegierten, »aber es gibt keine Rechtfertigung für diesen Krieg.« Wenn die Linke Angriffskriege der USA oder der Nato verurteile, dann müsse das auch bei Kremlchef Wladimir Putin gelten. Junge Delegierte wie die ukrainischstämmige Sofia Fellinger sprachen sich gar für Waffenlieferung aus. Die relativierenden Wortbeiträge mancher Genossinnen und Genossen verurteilte sie als »unerträglich«.
Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko, einer aus dem Wagenknecht-Lager, widersprach später: Ja, der Krieg sei verbrecherisch, »aber er hat auch eine konkrete Vorgeschichte«, unter anderem erst die Nato-Osterweiterung habe den Weg in den Krieg bereitet. Andere Delegierte unkten über einen »Mainstream«, der eine »Dämonisierung Russlands« vorantreiben wolle. Die größte Sorge: Die Linke gebe womöglich ihren friedenspolitischen Kern auf.
Am Ende nützte der Protest nichts – der Leitantrag aus dem Parteivorstand setzte sich mit deutlicher Mehrheit durch. Darin werden ein sofortiger Waffenstillstand, ein russischer Rückzug und Verhandlungen gefordert. Und weiterhin ein klares Nein zu Rüstungsexporten. Der realpolitische Widerspruch der Linken bleibt damit bestehen: Solidarität bekunden, aber keine Waffen liefern? Das mag das Gros der Partei hinter dem Leitantrag versammelt haben, eine Lösung für die Ukraine ist es nicht.
2. Die MeToo-Debatte
Die Linke stellte sich tatsächlich der internen MeToo-Debatte. Am Freitagabend hatte der Jugendverband eine sehr eindrückliche Diskussion auf der Bühne organisiert. Es wurden erschreckende Protokolle von Betroffenen vorgelesen, auch die Wortmeldungen danach waren sachlich und der Angelegenheit angemessen. In keinem Moment des Wochenendes war es in der Erfurter Messehalle derart still im Raum.
Seit der SPIEGEL die Vorwürfe im hessischen Landesverband enthüllt hatte , war ein Sturm durch die Partei gegangen. Die Partei gelobte an vielen Stellen Besserung und setzt auf eine externe Anlaufstelle.
Völlig deplatziert war die Rede von Gregor Gysi am Samstag, der darüber sprach, die Partei dürfe sich nicht mit Nebensächlichkeiten beschäftigen und nannte das Gendern als Beispiel. Tatsächlich hatte das Thema aber in Erfurt überhaupt keine Rolle gespielt, Gysis Redebeitrag wurde so aufgenommen, als richte er sich gegen die MeToo-Debatte, welche die Partei am Freitagabend gerade so gut geführt hatte.
Einen Zwischenfall gab es auch bei der Wahl von Wissler, als danach eine junge Frau ihre Erlebnisse schilderte und ihren Unmut über die Wahl ausdrückte. Die Partei zeigte ihr hässliches Gesicht im Umgang mit den Vorgängen. Ein verwirrter Mann brüllte »Verpiss dich« zu der jungen Frau, andere buhten, manche Delegierte machten Grimassen.
In den Schlussminuten des Parteitags übten sich Wissler und die Linksjugend in Versöhnung: Die Parteichefin warb um Unterstützung der Delegierten für einen Antrag des Jugendverbandes, die Linke möge eine Mitgliederbefragung zu Erfahrungen mit Sexismus durchführen. Auch wenn längst nicht alle Jungen der Parteichefin das Engagement abkaufen – der Antrag wurde angenommen.
3. Die neu-alte Parteispitze
Mit Wissler und Schirdewan wird politisch der frühere Kurs fortgesetzt . Wissler steht für das linke Lager, Schirdewan ersetzt für die Realpolitiker die zurückgetretene Susanne Hennig-Wellsow. Die entscheidende Frage wird sein, ob das neue Duo harmonisiert. Wissler und Hennig-Wellsow hatten kaum miteinander gesprochen. Bei der Außenpolitik waren sich die beiden Frauen regelmäßig uneinig. Ob Schirdewan besser mit Wissler umgehen kann, ist offen.
Noch schwieriger könnte die Zusammenarbeit mit dem neugewählten Bundesgeschäftsführer Tobias Bank werden. Der Ex-Fraktionsmitarbeiter gilt als Getreuer von Fraktionschef Dietmar Bartsch, der traditionell ein schlechtes Verhältnis zur Parteispitze pflegt. Die neue Konstellation könnte eine Chance sein, den ewigen Streit zwischen Partei und Fraktion zu befrieden. Sie könnte die Situation aber auch noch schwieriger machen.
4. Der mögliche Abgang der Wagenknechte
Die größte Verliererin des Parteitags in Erfurt war nicht anwesend: Sahra Wagenknecht fehlte aus gesundheitlichen Gründen. Ihr Lager wurde vollständig aus der Parteiführung rausgestimmt. Ihr außenpolitischer Antrag erhielt kaum Unterstützung, ihr Kandidat Sören Pellmann erlitt bei der Wahl der Parteiführung die heftigste Niederlage.
Bisher leugnen die Bundestagsabgeordneten um Wagenknecht, dass sie die Partei oder die Bundestagsfraktion verlassen könnten. Die ersten sogenannten Wagenknechte sind jedoch bereits ausgetreten, wie sie auf Facebook verkündeten. Weitere Konsequenzen werden in den kommenden Tagen und Wochen erwartet.
Wie es für die Partei nun weitergeht
Hört man sich in Erfurt um, nehmen die meisten Delegierten den Parteitag als Aufbruch wahr. So viel Einheit gab es zuletzt selten bei der Linken. So viel Hoffnung auch.
Tatsächlich messbar werden könnte das wohl frühestens 2023: Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen diesen Oktober wird die Linke kaum Aussicht auf große Erfolge haben. Nächstes Jahr im Mai wählt jedoch Bremen eine neue Bürgerschaft. Dort holte die Linke 2019 11,3 Prozent der Stimmen und ist seither Teil einer erfolgreichen Regierung.
Ein ähnlich gutes Ergebnis im kommenden Jahr wäre Balsam für die Partei – und die neue Spitze. Sonst steht die Linke bald wieder dort, wo sie jetzt in Erfurt schon stand: vor einem dringend benötigten Erneuerungs-Parteitag.