Ende einer Freundschaft: Die Demokratien sollten sich dem Kapitalismus nicht mehr ausliefern
Am Sonntag beginnt auf Schloss Elmau die Politmesse des Westens, der Gipfel der G7. Aus diesem Anlass gibt es in dieser Lage nur ein Thema: In welchem Zustand ist der Westen? In Elmau ist er repräsentiert durch seine stärksten Volkswirtschaften, USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada sowie Japan, das nicht kulturell Teil des Westens ist, aber politisch.
Beginnen wir mit dem, was der Krieg in der Ukraine bislang gezeigt hat. Der Westen, der für die Universalität von Demokratie und Freiheit wirbt, ist nicht bereit, für die Demokratie und die Freiheit der Ukraine zu kämpfen. Zwar liefern die meisten Staaten Waffen, aber vorsichtig, um Wladimir Putin nicht zu reizen, aus Angst vor einem Atomkrieg. Das ist nicht falsch, doch büßt der Westen damit Glaubwürdigkeit ein. Jeder weiß nun: Die eigene Sicherheit ist den westlichen Staaten weit wichtiger als die Universalität der eigenen Werte.
Schloss Elmau
Foto: Sven Hoppe / dpa
Das hatte schon ein Vorspiel in Afghanistan. Auch hier wollte der Westen, neben sicherheitspolitischen Zielen, Demokratie und Freiheit etablieren, zeigte sich jedoch der Hartnäckigkeit der Taliban nicht gewachsen. Der ewige Krieg wurde zu teuer, sein Sinn war den heimischen Gesellschaften nur schwer zu vermitteln. Also ließ man die demokratischen Kräfte in Afghanistan im Stich und machte sich Hals über Kopf davon.
Wahrscheinlich ist die Nato, der militärische Arm des Westens, immer noch die stärkste Macht der Welt, dank der Leistungskraft der Armeen und der Waffen. Den Politikern und Gesellschaften mangelt es jedoch an Entschlossenheit. Putin weiß das genau, hat diese Schwäche schon in Syrien beobachten können und macht sie sich zunutze. In Zeitalter der Atomwaffen ist Zurückhaltung oft weise, man muss aber in Kauf nehmen, dass einen Hasardeure wie Putin vor sich hertreiben.
Über Jahrzehnte dachte man, dass Demokratie und Marktwirtschaft zusammengehören. Die politischen und die ökonomischen Freiheiten passen tatsächlich gut zueinander. Doch inzwischen hat auch das autoritäre China gelernt, wie es die Marktwirtschaft mit seinem System verknüpfen kann. Damit geht dem Westen ein Vorteil verloren. Denn aus ökonomischer Stärke erwächst auch militärische, technologische, wissenschaftliche Stärke. Zudem sorgt sie für Zufriedenheit in der Bevölkerung, also für Stabilität. Was einmal westliche Überlegenheit war, wird mehr und mehr zu einem echten Systemwettbewerb mit offenem Ausgang.
Der Westen muss zudem registrieren, dass die Marktwirtschaft (der Kapitalismus) nicht so ein verlässlicher Freund ist wie gedacht. Die ökonomisch getriebene Globalisierung hat den westlichen Volkswirtschaften auch geschadet, weil Industrien abwanderten und Landstriche veröden ließen, mit politischen Folgen vor allem in den USA, wo Donald Trump sich als Ritter im Kampf gegen die Globalisierung profilieren konnte. Schon zuvor hatte die Finanzindustrie mit ihrer Gier eine gigantische Krise ausgelöst, zum Schaden der Regierungen, die mit ihren Rettungsaktionen für Großbanken das Gefühl von Ungerechtigkeit beförderten.
Donald Trump: Konnte sich als Ritter im Kampf gegen die Globalisierung profilieren
Foto: Joe Rondone / dpa
Auch dass die Demokratien einen Teil ihrer Außenpolitik an den Kapitalismus delegierten, erst bekannt und nun berüchtigt als »Wandel durch Handel«, erweist sich als Fehler. Es war ein Irrtum anzunehmen, dass alle Politiker dem Wirtschaftswachstum oberste Priorität einräumen würden. Putin tut das nicht. Ihm ist das, was er für nationale Ehre hält, wichtiger. Weil ihn Politiker in Europa und besonders Deutschland vor allem als Rohstofflieferanten gesehen haben, entging ihnen der Kern seines politischen Wesens.
Diese Nichtpolitik, die den Wohlstand fördern sollte, beeinträchtigt nun den Wohlstand im Westen, durch Engpässe bei der Energie, durch hohe Inflation. Das wird die nächste große Prüfung: einen wirtschaftlichen Absturz und soziale Verwerfungen zu vermeiden. Denn der Westen wird von zwei großen Versprechen getragen: Freiheit und Wohlstand. Beide haben es gerade schwer.
Die Freiheit war durch die Coronapandemie erheblich eingeschränkt, und noch ist sie nicht vorbei. Zudem ist noch offen, ob es gelingen kann, den Klimawandel aufzuhalten, ohne die Freiheiten zu beschneiden. Beide Katastrophen bedrohen insbesondere den westlichen Way of Life.
In sechs der G7-Staaten erweist sich die Demokratie bislang als weitgehend robust. Die Wahlen gelingen, es kommt zu Machtwechseln, zum Beispiel in Deutschland, die Systeme wirken stabil, auch wenn einen die Stärke Marine Le Pens in Frankreich und die niedrige Wahlbeteiligung dort beunruhigen kann. Ein Drama ist das allerdings noch nicht.
Das Drama spielt sich in den USA ab. Dort wird immer klarer, dass Trump einen echten Putschversuch unternommen hat, dass er aus einer verlorenen Wahl einen Sieg machen wollte, durch Aufforderung zur Manipulation, durch Aufwiegelung. Man könnte sich damit beruhigen, dass er damit nicht durchkam, dass sich die US-Demokratie als robust erwiesen hat. Doch leider hat er immer noch erheblichen Zuspruch in der Bevölkerung und bei den Republikanern, sodass eine Wiederwahl nicht ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Viele Amerikaner können gut damit leben, dass jemand ihr System aushebeln wollte. Damit rutscht diese Demokratie vom Zustand »stabil« in den Zustand »prekär«.
Sollte Trump noch einmal gewählt werden, wäre das eine Katastrophe für den Westen. Die Führungsmacht der Demokratien hätte sich einem Mann anvertraut, dem Wahlen nicht heilig sind, was ein Merkmal für einen Diktator ist.
So ist die Lage. Ist sie wirklich so schlimm? Einerseits ja, aber Demokratien haben bewiesen, dass sie sich schwierigen Situationen anpassen können. So haben sie, gemeinsam mit der Sowjetunion, Nazideutschland besiegt. Demokratien gelten als behäbig, sind aber in Wahrheit flexibel.
Das beweist auch der Krieg in der Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sofort mit der »Zeitenwende« reagiert. Die EU zeigt große Bereitschaft, das bedrängte Land aufzunehmen. Der Zwist, der vorher herrschte, in der Nato, der EU, der transatlantischen Partnerschaft, ist weitgehend beendet. Der Westen hat die Reihen geschlossen.
»Querdenker«-Demonstration in Berlin (2021)
Foto: Fabian Sommer / dpa
Ermutigend ist auch die relative Gelassenheit in den Bevölkerungen. Corona hat den Menschen viel abverlangt, was sogenannte Querdenker auf den Plan rief, die aber ein Randphänomen blieben. Die Demokratien sind stabil, mit der offenen, leider sehr großen Frage, was aus den USA wird.
Die wichtigste Aufgabe wird sein, dass sich das Politische einen großen Teil der Macht zurückholt, die es an das Ökonomische abgetreten hat. Die demokratischen Institutionen müssen regieren, nicht die Gier nach Wachstum, also der Kapitalismus.
Sollte dadurch weniger zu verteilen sein, muss es gerechter verteilt werden. Auch eine große Aufgabe. Es ist aber nicht sicher, ob auf diese Weise langfristig wirklich weniger zu verteilen sein wird als bislang. Denn der Wachstumswahn kostet auch Wachstum, siehe die Finanzkrise, siehe »Wandel durch Handel«, siehe womöglich der Klimawandel.
Und nun bin ich gespannt, wie die Spitzen der G7-Staaten auf diese Lage des Westens reagieren werden.
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