Vor gut einem Jahr haben die Künstlerin Moshtari Hilal und der Autor Sinthujan Varatharajah bei einem Instagram-Livetalk einen Vorschlag gemacht. Ob es nicht sinnvoll wäre, für die Wendung »Menschen mit Migrationshintergrund« eine Entsprechung zu finden: nämlich für Deutsche, die Nachkommen von NS-Täterinnen und -Tätern sind, den Begriff »Menschen mit Nazihintergrund« einzuführen. Das war eine treffende Polemik, sie wollte etwas bewusst machen und sie erreichte, was sie erreichen sollte: Die Abwehr gegen diesen Vorschlag war groß.
Dies zeigte wiederum, was in diesem Land, trotz einer intensiv gepflegten Erinnerungskultur, immer noch los ist und was Studien auch belegen: Viel zu viele Deutsche wollen sich nach wie vor nicht klarmachen, dass es auch die eigenen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern waren, die ihren Anteil daran hatten, dass der Nationalsozialismus funktionierte, wie er funktionierte.
Dass es hierzulande auch einen aktuellen Antisemitismus gibt, dass er schlimmer wird, erkennen zwar die vernünftigen Deutschen an. Aber sobald das Thema in die eigene Nähe rückt, ist auch hier die Abwehr groß. Linke bezichtigen Rechte des Antisemitismus, umgekehrt funktioniert es auch.
Aber die Bereitschaft, sich freiwillig die Frage zu stellen, ob sich im eigenen Denken antisemitische Muster finden oder ob man selbst durch Unterlassung und Wegsehen antisemitischem Denken den Weg bereitet, ist nicht besonders ausgeprägt.
Unterlassen, Wegsehen, Abwehren – davon war die Vorbereitung der Documenta geprägt: Noch bei der Pressekonferenz vor der Eröffnung beklagten Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) und Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (Grüne), eine »medial aufoktroyierte Antisemitismusdebatte«. Als sei es gar nicht möglich, dass aus dem Bereich der Künste, der ja als Sphäre der Weltoffenheit gilt, schiefe Töne kommen können, als seien vom Zentralrat der Juden in Deutschland vorgebrachte Sorgen nicht in jedem Fall bedenkenswert. Teile der hiesigen Kunstkritik zeigten sich ebenfalls erschreckend überzeugt von einer Immunität der Documenta gegen antisemitisches Gedankengut.
Man kann sich somit jetzt noch Tage, Wochen, Jahre über das Werk des indonesischen Kollektivs Taring Padi aufregen, auf dem unter anderem ein Mann mit Schweinsnase zu sehen ist, der ein Halstuch mit Judenstern trägt. Aber übersehen werden sollte dabei nicht, dass das eigentliche Problem in Deutschland liegt, nämlich in eben jener Abwehrhaltung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Documenta-Leitung und Teilen der Kunstkritik gegenüber Warnungen, Einwänden, Hinweisen im Vorfeld der Documenta, in der Verweigerung gründlichen Nachdenkens, der Verweigerung der Selbstbefragung, ob nicht vielleicht doch sein kann, was nicht sein darf. Ganze Fernsehbeiträge und Artikel über die Documenta suggerierten, dass die Diskussion um Antisemitismus nicht der Rede wert sei.
Die Documenta sollte Raum schaffen für Perspektiven des Postkolonialismus. Die postkoloniale Bewegung beschäftigt sich aus der Perspektive der Opfer von Kolonialherrschaft mit deren Folgen und deckt auch Verbrechen der einstigen Kolonialherren auf. Deutsche tun gut daran, genau hinzuhören, was da vorgebracht wird. Deutschland hat eine koloniale Vergangenheit. Wer aber hinhört – und das mussten ja all diejenigen, die sich mit der Documenta befassten, ob es nun Kulturpolitiker, Kulturmanagerinnen oder Kulturjournalisten waren – konnte wissen, dass es innerhalb der – durchaus heterogenen – postkolonialen Bewegung auch Positionen gibt, die die Gründung Israels gleichsetzen mit kolonialistischen Verbrechen. Und es ist gar nicht möglich, sich als Deutsche oder Deutscher zu einer solchen Position nicht zu verhalten und nicht eine andere Sichtweise darzulegen: Anders als europäische Kolonialherren, die aus Gier und einer menschenverachtenden Überlegenheitsideologie zum Beispiel nach Afrika gegangen sind, flohen deutsche Jüdinnen und Juden aus schierer Not ins heutige Israel, sie flohen vor mörderischen Häschern, vor Folter und Entrechtung. Sie flohen vor Deutschland.
Vertreterinnen und Vertreter der postkolonialen Bewegung verbitten sich aus guten Gründen, von weißen Europäern belehrt zu werden. Wahrscheinlich wollten die deutschen Verantwortlichen für die Documenta auch genau das vermeiden: die Gäste belehren. Aber die Entscheidung, lieber nicht genau hinzusehen, hat jetzt den Skandal verursacht, der vermieden werden sollte.
Ist es denn überhaupt ein Akt der Belehrung, wenn man als Deutscher oder Deutsche darstellt, dass die Gründung des Staates Israel mit den deutschen Verbrechen zusammenhängt und dass hierin der entscheidende Unterschied zu kolonialistischen Bestrebungen liegt? Es ist doch erst einmal dies: Eine Aussage über uns selbst. Der Versuch, die Schuld der eigenen Vorfahren zu sehen, der Versuch, damit umzugehen. Ein Eingeständnis des Nazihintergrunds, den eben sehr, sehr viele hierzulande haben. Ein Eingeständnis, dass es in diesem Land einen aktuellen Antisemitismus gibt, der sich wiederum häufig hinter Israelkritik versteckt und der – das passiert eben leider auch – bei diesem Versteckspiel auch mal Israelkritik aus anderen Ländern nutzt.