Karl Lauterbach warnt wieder. Und entwarnt zugleich. Deutschland schlittere mitten in eine Sommerwelle, sagte der Gesundheitsminister zuletzt am Freitag. Die hochansteckende Variante BA.5 breite sich rasant aus. Mit den steigenden Corona-Infektionszahlen sterben auch wieder mehr Menschen, gerade ältere. Allerdings: Man müsse »nicht in Panik geraten«, so Lauterbach weiter. BA.5 sei noch lange nicht so aggressiv wie einst die Deltavariante, die vielen Geimpften und Genesenen im Land seien entsprechend gut vor schweren Erkrankungen geschützt.
Lauterbachs Fazit: Maßnahmen braucht es jetzt noch keine, aber um einen »betrüblichen« Herbst komme man wohl nicht herum.
Die Aussagen des Gesundheitsministers spiegeln ganz gut wider, wie die Ampelkoalition derzeit auf die Coronagefahr blickt: Alle wissen, dass die Pandemie immer noch da ist. Doch keiner will der Spielverderber sein, der bereits wieder über Einschränkungen redet. Selbst Lauterbach hatte sich am Freitag eilig bemüht, einen neuerlichen Anlauf für die allgemeine Impfpflicht auszuschließen.
»Die Politik wäre gut beraten, sich nicht blenden zu lassen«
Geht es nach dem gesundheitspolitischen Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen, müsste die Regierung nun dringend handeln. Die aktuelle Infektionsdynamik und die jüngsten Einschätzungen des Expertenrates geben »allen in Regierungsverantwortung Anlass genug, vorausschauend Vorsorge zu treffen«, sagte er dem SPIEGEL am Sonntag. »Die Politik wäre gut beraten, sich nicht blenden zu lassen, dass die Lage im Herbst und Winter ähnlich glimpflich bleibt wie im Sommer.«
Dahmen fürchtet, dass sich schon ab Ende September wieder mehr Menschen drinnen aufhalten. Gleichzeitig sei dann die letzte Auffrischungsimpfung vieler Deutscher zu lange her – eine große Gruppe an Menschen komme dann wieder weitestgehend ungeschützt zusammen. »Es braucht daher bereits über den Sommer ein breit angelegtes Auffrischungsprogramm«, sagte Dahmen, ganz besonders Hochbetagte und Vorerkrankte müssten mit frischem Immunschutz in den Herbst geschickt werden. »Wir müssen deutlich machen, dass die Pandemie nicht vorbei ist«, sagte Dahmen.
Auf der Bremse steht vor allem der Koalitionspartner FDP. Justizminister Marco Buschmann (FDP) erteilte möglichen Coronaeinschränkungen für den Sommer bereits eine Absage. Vorschriften müssten »evidenzbasiert und verhältnismäßig sein«, sagte der FDP-Politiker der »Rheinischen Post«. Über mögliche Maßnahmen könne man reden, wenn der Sachverständigenbericht zur Bewertung der bisherigen Maßnahmen vorliege.
Der Evaluationsbericht des Corona-Sachverständigenrats soll die Erfolge und Misserfolge des bisherigen Pandemiemanagements unter die Lupe nehmen. Der Abschlussbericht wird für den 30. Juni erwartet.
»Es wäre Quatsch, wenn die Politik jetzt Schutzmaßnahmen beschließt, bevor die überparteilichen Expertenempfehlungen vorliegen«, sagte entsprechend auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr dem »Tagesspiegel«. »Wir können Grundrechtseinschränkungen nicht aus Jux und Tollerei beschließen.«
Allerdings: Das Gremium soll zwar Empfehlungen für das Pandemiemanagement, das Datenmanagement und zur Risikokommunikation in der Pandemie abgeben. Doch der Vorsitzende Stefan Huster dämpfte im SPIEGEL bereits die Erwartungen : »Wer eine Liste mit einem Plus oder einem Minus hinter allen einzelnen Maßnahmen für ›wirksam‹ oder ›nicht wirksam‹ erwartet, der wird enttäuscht sein«, so Huster. Der Sachverständigenrat werde keine Empfehlungen abgeben, welche Coronamaßnahmen die Politik im kommenden Herbst ergreifen solle. Für eine hinreichende Evaluierung der bisherigen Maßnahmen sei die Datenlage nicht gut genug.
Gesundheitsexperte Dahmen pocht darauf, nicht mehr zwei Wochen zu warten, bis sich das Parlament über neue Schutzmaßnahmen beugen soll. »Die Menschen haben keine Lust, in einen dritten Herbst zu gehen, auf den die Politik nicht vorbereitet ist«, sagt der Grünenpolitiker. Es möge unter den Koalitionspartnern unterschiedliche Sichtweisen auf die Coronaregeln geben, »aber am Ende stehen wir alle in der Verantwortung«. Sich jetzt vom Sachverständigenrat zur Evaluation des Infektionsschutzgesetzes abhängig zu machen, diskreditiere die Arbeit der Wissenschaft durch völlig überzogene und absolute Erwartungen einiger in der Politik. Dort liegen Erkenntnisse über sinnvolle Schutzmaßnahmen nicht zuletzt durch den wissenschaftlichen Expertenrat der Ampel längst vor. »Den retrospektiven Bericht zur Wirksamkeit des Infektionsschutzgesetzes in der Vergangenheit abzuwarten, führt dazu, dass wichtige Vorbereitungen auf die Zukunft verzögert werden«, so Dahmen, »das darf nicht passieren«.
Druck aus der Wirtschaft
Auch Industrie und Wissenschaft wünschen sich mehr Tempo von der Regierung. Es mache ihn »fassungslos«, dass die Politik erneut »sehenden Auges« in einen Coronaherbst laufe, sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Noch immer gebe es keine vernünftige Datenlage. Inzidenzen würden immer noch mit Zeitverzug per Hand eingesammelt. »Die Tatsache, dass eine Industrienation im dritten Jahr diese Pandemie teilweise immer noch mit den Mitteln des frühen 20. Jahrhunderts bekämpft, ist wirklich verstörend.« Es sei kein Konzept, bis Oktober abzuwarten, um erst dann verschiedene Lösungswege auszuprobieren und so die ohnehin schon angespannte wirtschaftliche Lage weiter zu verschärfen.
Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes, drängte ebenfalls darauf, möglichst bald einen Maßnahmenplan für das Ende des Sommers zu erarbeiten. Notwendig sei ein »Instrumentenkasten« aus Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und Impfen. Auch wenn die derzeit geltenden Coronaregelungen erst im Herbst ausliefen, könne man »jetzt schon die Nachfolgeregelungen definieren, statt alles auf den September zu verschieben, wie die FDP das will«.
Die Regierung muss für den Herbst gleich mehrere Baustellen abdecken: Wird es weiter kostenlose Bürgertests geben? Sollen sich die Menschen wieder verpflichtend mit Masken in Innenräumen schützen? Ab wann wird wer wieder geimpft? Und: Welche Instrumente braucht das Infektionsschutzgesetz ab Herbst?
Die Frage nach den Tests drängt am meisten. Ab Juli bezuschusst der Bund die Bürgertestzentren nicht mehr, schon jetzt hat die Nasenwischerei vielerorts massiv abgenommen. Das Robert Koch-Institut (RKI) warnt seit Längerem, dass es kaum noch zuverlässige Infektionszahlen gibt. Ob über den Sommer unbedingt weitergetestet werden muss, ist unklar. Spätestens zum Herbst muss aber eine Entscheidung stehen: Zu wissen, wie stark das Virus grassiert, kann dann essenziell sein.
»Es ist leider nicht so, dass das Virus statisch bleibt«
Eine Maskenpflicht im Sommer lehnen die Ampelparteien gegenwärtig einheitlich ab. Selbst Lauterbach wiegelte jüngst ab. »Die Daten geben das zum jetzigen Zeitpunkt nicht her, dass man das verpflichtend machen kann«, sagte der Gesundheitsminister am Freitag. Allerdings hofft Lauterbach darauf, dass viele den Mund-Nasen-Schutz schon jetzt wieder freiwillig in Innenräumen tragen.
Lauterbach und auch Dahmen drängen darauf, die Impfkampagne früher wieder hochzufahren. Zu hoffen, dass eine Infektion in der Sommerwelle verlässlich und umfassend genug schütze, um gut für den Herbst gerüstet zu sein, reiche nicht, sagt Dahmen. »Es ist leider nicht so, dass das Virus statisch bleibt.« Schon jetzt würden sich Menschen, die erst im Winter nach der Omikron-Variante BA.2 genesen waren, erneut anstecken – mit der abermals mutierten Nachfolgervariante BA.5. Um eine aktuelle, vierte Impfung kommen viele auch unter 70 Jahren aus Sicht Dahmens nicht herum – »die schützt wahrscheinlich breiter und nachhaltiger als eine bereits lange zurückliegende Impfung oder eine ältere Omikron-Infektion«.
Schließlich steht die Frage im Raum, wie ein neues Infektionsschutzgesetz Deutschland für den Herbst rüsten kann. Das gegenwärtige Gesetz läuft am 23. September aus, abseits der Hotspot-Regel bietet es den Ländern kaum die Möglichkeit zu harten und kurzfristigen Handlungsmaßnahmen. Expertinnen und Experten sind sich einig, dass das gegenwärtige Gesetz nicht ausreichen wird, um gut durch den Herbst und Winter zu kommen.
Für die Überarbeitung bleibt aber nur noch wenig Zeit. Wartet die Ampel tatsächlich den Bericht des Sachverständigenrats Ende Juni ab, sind vor dem 23. September im parlamentarischen Kalender nur noch 14 Sitzungstage im Bundestag, um ein neues Infektionsschutzgesetz zu debattieren. Den Großteil des Julis und im August haben die Abgeordneten – anders als das Coronavirus – Sommerpause.