Der spinnt, der Putin
Ich versuche Ihnen normalerweise Comic-Vokabular zu ersparen, liebe Leserin, lieber Leser. Aber meine Reaktionsweise auf den Auftritt des Kreml-Herrschers Wladimir Putin gestern in St. Petersburg lässt sich nun mal am besten so zusammenfassen: »Hä?«
Putin beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg
Foto: Dmitri Lovetsky / dpa
Er hatte der Ukraine doch die souveräne Staatlichkeit abgesprochen! Das war doch sein Hauptgrund für seinen Einmarsch! Und jetzt sagt er auf dem Podium des Internationalen Wirtschaftsforums zu einem möglichen Beitrittskandidatenstatus der EU: »Wir haben nichts dagegen. Es ist die souveräne Entscheidung jedes Landes, Wirtschaftsbündnissen beizutreten oder nicht beizutreten.« Lediglich die Nato, das Militärbündnis, störe ihn.
Verwirrung ist eine Kriegstaktik. Sollte man nicht drauf reinfallen. Ich sag nur: »Pffffff«.
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Lobbyismus für Russland: Es ist eben nicht nur die SPD
Die Scham für den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder kennt keine Parteigrenzen, aber es schien Unions-Mitgliedern durchaus entgegenzukommen, dass der Lobbyist für russische Konzerne der SPD angehört. Schröder zieht so viel Zorn auf sich, dass bei der CDU/CSU bisher nicht so genau hingeschaut wurde.
Nun aber haben meine Kollegen Frank Dohmen und Gerald Traufetter herausgefunden, dass der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und Ex-Bundesumweltminister Klaus Töpfer jahrelang mit hoch dotierten Beraterverträgen beim Leipziger Gaskonzern VNG auf der Gehaltsliste standen. Nach Informationen meiner Kollegen sollen die Summen zum Teil bis zu sechsstellig gewesen sein.
CSU-Politiker Stoiber
Foto: Peter Kneffel/ dpa/dpaweb
Die Unionspolitiker übernahmen Organisations- und Repräsentationsaufgaben im »Deutsch-Russischen Rohstoff-Forum«. Finanziert wurde das Forum über diverse Vereine und Stiftungen zuletzt von der VNG. Auch die deutsche Gazprom-Tochter Gazprom Export gehörte viele Jahre zu den Geldgebern. Auf Kongressen mit Vertretern aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft hielten die beiden Unionsleute Reden. Auch andere CDU-Politiker wie der ehemalige Kanzleramtsminister Horst Teltschik traten zum Teil gegen Bezahlung auf, so bestätigt die VNG – sie betont aber, das Forum habe ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken gedient. Weder Gazprom noch die russische Politik hätten Einfluss auf Arbeit und die jährlichen Veranstaltungen genommen.
CDU-Politiker Töpfer
Foto: Britta Pedersen/zb/ DPA
Tatsächlich aber fungierte als Schirmherr der russischen Seite der kremlnahe Wladimir Litwinenko, milliardenschwerer Direktor der Bergbau-Universität Sankt Petersburg, der auch Putins Doktorvater war und mehrere von dessen Wahlkämpfen geleitet hat. Litwinenko gehört zu den Unterzeichnern eines Aufrufs russischer Hochschulrektoren, der dazu motivieren soll, Land und Armee im Ukrainekrieg zu unterstützen.
Stoiber und Töpfer beteuerten auf Anfrage meiner Kollegen, ihnen sei es in all den Jahren nur um die wichtige Zusammenarbeit mit Russland und den wissenschaftlichen Austausch gegangen. Personen wie Litwinenko sieht zumindest Töpfer inzwischen kritisch. Beide Politiker verurteilen den Krieg gegen die Ukraine scharf. Die Arbeit des Deutsch-Russischen Rohstoff-Forums wurde mit Kriegsbeginn eingestellt.
Die Unterschiede zum leider unverbesserlichen Schröder sind also zu beachten.
Personalmangel in Bund, Ländern und Gemeinden
Für Deutsche ist es ungewohnt, keine Angst vor Arbeitslosigkeit zu haben. Denn diese Angst gab es immer, auch in den besten Zeiten. Und ja, selbst da konnte es auch gute Gründe für diese Angst geben. Doch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC formuliert jetzt eine andere Form der Angst: vor einem massiven Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst.
Polizisten bei einer Übung
Foto: picture alliance / Sven Hoppe / dpa
Bund, Ländern und Gemeinden fehlten 2030 rund eine Million Fachkräfte, schreiben die Experten in einem neuen Gutachten, das nächste Woche vorgestellt wird. Dies sei »eine völlig neue Dimension, mit massiven Auswirkungen auf Gemeinwohl und Daseinsvorsorge«, heißt es darin. »Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der öffentliche Sektor seine Kernaufgaben in Zukunft noch erfüllen kann«, so zitiert mein Kollege Christian Reiermann einen der Studienautoren.
Typisch deutsch wäre es, erst mit Gegenmaßnahmen zu reagieren, wenn die schlimmsten Befürchtungen eingetreten sind.
Meint sie wirklich uns?
»Wow« ist ein Ausdruck der Bewunderung, und dass wir Deutschen ihn so gerne nutzen, ist wiederum ein Ausdruck für unsere Bewunderung der USA: »Wow« sagen, Jeans tragen, Coca-Cola trinken, irgendwann haben wir uns das angewöhnt, wie wir uns auch sonst abschauen, was die großen Brüder (oder Schwestern) so machen.
Es ist für uns aber eher irritierend, wenn Amerikaner nach Deutschland blicken und dabei ihrerseits »Wow« ausrufen. Meinen die wirklich uns? Liegt da eine Verwechslung vor?
Karen Donfried, Staatssekretärin für Europa und Eurasien im Washingtoner Außenministerium ruft in einem Interview mit René Pfister, meinem Kollegen in Washington, tatsächlich »Wow« aus – und meint uns, beziehungsweise unseren Bundeskanzler Olaf Scholz, von dem deutsche Journalisten gelegentlich eher annehmen, er blamiere uns mit seiner Ukrainepolitik im Ausland und gerade in den USA.
Kanzler Scholz
Foto: TOBIAS SCHWARZ / AFP
Donfried aber ist von der Zeitenwende-Rede des Kanzlers, die er unmittelbar nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine hielt, »beeindruckt«: Waffen in Konfliktgebiete; Zusage, mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben; Ankündigung eines 100 Milliarden Euro schweren sogenannten Sonderfonds für die Bundeswehr; Aussetzung von Nord Stream 2 – »ich beobachte Deutschland schon sehr lange, und ich dachte: Wow!«
Die Diplomatin, die in München studierte, äußert sogar Verständnis dafür, dass die Umsetzung der Zeitenwende-Pläne Zeit brauche.
Da klingt allerdings der Ton der großen Brüder (und Schwestern) durch, die die noch Unreifen loben, um sie zu besseren Leistungen anzuspornen. Macht aber nichts. Jedes Lob, das ist unter Geschwistern so üblich, wird genommen.
Gewinner des Tages…
Verlobungsring
Foto: A0200 epa PA/ dpa/dpaweb
…ist die Verlobung. Ich habe in einem Text meiner Kollegin Nike Laurenz gelernt, dass man das wieder tut – mit Ring und gebeugten Männerknien. Ich finde, man muss immer auf der Seite der Liebenden sein. Sollen sie doch tun, was sie glücklich macht. Meine Kollegin sieht das ähnlich, schaute aber für ihren Text genauer hin. Ihr fällt auf, dass die jungen Frauen es den jungen Männern überlassen, die Anträge zu machen, auch wenn die Frauen nicht finden, dass das so sein sollte. »So machen wir nichts anderes, als die Zeit zurückzudrehen«, schreibt meine Kollegin.
Ich sehe ihren Punkt, finde aber, dass nicht jedes Ritual modernisiert gehört. Wenn bei einer Beerdigung zum Beispiel jemand zur Gitarre greift und Schubi-du-Töne ausstößt, fühle ich mich in meiner Andacht gestört. Doch da die Liebe wie der Tod eine ernste Sache ist, sollten sich die Liebenden tatsächlich darüber bewusst sein, was sie tun und welche Auswirkungen das haben kann. Der Text meiner Kollegin ist der perfekte Anstoß dafür.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer