SPIEGEL: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in dieser Woche erneut eine Politische Europäische Gemeinschaft vorgeschlagen, die aus der EU und anderen europäischen Ländern bestehen soll. Was halten Sie davon?
Enrico Letta: Es ist wichtig, diese Idee auf den Weg zu bringen – es ist der einzige Ausweg aus der Sackgasse, in der wir uns befinden. Wir können der Ukraine nichts versprechen, was wir nicht unmittelbar liefern können. Eine beschleunigte Aufnahme in die EU hat noch nie stattgefunden. Oder besser: Das hat es bisher nur einmal gegeben.
Enrico Letta, 55, ist seit März 2021 Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei Italiens »Partito Democratico« (PD). Von 2013 bis 2014 war er italienischer Ministerpräsident. Danach wurde er Professor für Politikwissenschaft am Institut d’Études Politiques de Paris. Seine Partei gehört zu den Koalitionspartnern der von Mario Draghi geführten technokratischen »Regierung der nationalen Einheit«.
SPIEGEL: Sie meinen den Beitritt der ehemaligen DDR.
Letta: Genau. Und das war ein außergewöhnlicher und nicht wiederholbarer Fall, in dem Westdeutschland alle Lasten getragen hat. Heute ist die Lage eine andere. Der Beitritt der Ukraine würde viele Jahre dauern. Es ist aber nicht vorstellbar, sie für die nächsten zehn oder 15 Jahre vor der Tür warten zu lassen. Es wäre eine Botschaft der politischen Machtlosigkeit, die Europa am Ende als Wertegemeinschaft schwächte. Ausgerechnet in diesen Tagen, in denen Scholz, Macron und Draghi in Kiew Einigkeit und Entschiedenheit vermittelt haben .
SPIEGEL: Wer könnte zu dieser Organisation gehören?
Letta: Neben den 27 Mitgliedstaaten wären es neun aktuelle oder potenzielle Beitrittskandidaten, von der Ukraine bis Albanien oder Nordmazedonien. Aber es könnten auch Nicht-EU-Länder, mit denen wir enge Beziehungen haben, dazu gehören – zum Beispiel Norwegen oder die Schweiz. Ich sehe es als eine große europäische Familie, deren Mitglieder die gleichen Vorstellungen von Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit haben. Also all das, was die europäische Identität ausmacht.
SPIEGEL: Wie könnte eine solche Organisation heißen?
Letta: Macron spricht von einer Politischen Europäischen Gemeinschaft. Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, nennt sie Geopolitische Europäische Gemeinschaft. Ich selbst bin mit der Gedankenwelt von Umberto Eco groß geworden. Er sagte, dass Namen wichtig sind. Mir würde Europäischer Staatenbund gefallen, das hätte ein größeres Gewicht.
SPIEGEL: Wann könnte so ein Staatenbund gegründet werden?
Letta: Schon im Oktober. Für mich ist die Entstehung der G20 das Modell. 2008, als die Finanzkrise um Lehman Brothers ausbrach, wurde in den USA zügig das erste Treffen der 20 größten Volkswirtschaften einberufen. Die Gruppe besteht bis heute, ohne dass es jemals einen Gründungsvertrag gegeben hätte.
SPIEGEL: Irgendjemand müsste es aber organisieren.
Letta: Das kann der Europäische Rat, also das Gremium der EU-Staats- und Regierungschefs, übernehmen. Beim ersten Treffen in Brüssel könnte eine leichte Vereinbarung geschlossen werden, eher informell, ohne dass ein langwieriger Ratifizierungsprozess beginnen müsste.
SPIEGEL: Wie soll der Staatenbund praktisch funktionieren?
Letta: Seine Staats- und Regierungschefs kommen zweimal im Jahr zusammen, im Juni und Dezember, im Anschluss an das jeweilige Treffen des Europäischen Rates in Brüssel – das wäre ein starkes Symbol. Ziel wäre unter anderem die Schaffung einer Freihandelszone für alle Mitglieder.
SPIEGEL: Neben der EU gibt es zum Beispiel noch die Nato, den Europäischen Wirtschaftsraum, die OSZE und den Europarat. Wozu braucht es eine weitere Organisation?
Letta: Erstens können wir damit die Ukraine sofort in unsere Familie aufnehmen. Präsident Wolodymyr Selenskyj neben den anderen Staats- und Regierungschefs in Brüssel, die ukrainische Flagge neben unseren, das wäre ein starkes Symbol. Und zweitens würde es den Beitrittsprozess befördern. Es würde sofort eine Identifizierung mit unserer Wertegemeinschaft schaffen, jenseits der Bürokratie. Als Politikwissenschaftler habe ich mich übrigens intensiv mit früheren Erweiterungsprozessen beschäftigt und die Vor- und Nachteile untersucht.
SPIEGEL: Was haben Sie dabei gelernt?
Letta: Dass wir Ungeduld und Frust vermeiden müssen. 1989 hatte der französische Präsident François Mitterrand schon einmal einen Staatenbund vorgeschlagen, als gemeinsamen Raum für Gründungsstaaten und künftige Mitglieder. Moskau sollte dazugehören, das war der Fehler. Die Idee ist sofort wieder verschwunden. Die Kandidaten hatten danach im wesentlichen nur bilaterale Beziehungen mit Brüssel. So entstand kein Gemeinschaftsgefühl, und das Beitrittsverfahren verlangsamte sich.
SPIEGEL: Auch diesmal scheint die Unterstützung für einen Staatenbund bei den Kandidaten nicht besonders groß.
Letta: Es gibt die Gefahr, dass die Ukraine den Vorschlag missversteht. Nach dem Motto: Okay, jetzt wollen sie uns im Kindergarten abstellen.
SPIEGEL: Das Gefühl wird es nicht nur in der Ukraine geben. Auch andere Kandidaten oder Bewerber wollen nicht ewig in der zweiten Klasse sitzen.
Letta: Aber so ist es doch nicht. Wenn wir einen Staatenbund gründen, verlangsamen wir damit nicht die Beitrittsverfahren. Im Gegenteil: Es kann das Reformtempo bei unseren Partnern erhöhen und die Angleichung an unsere Vorschriften beschleunigen.
SPIEGEL: Was erwarten Sie jetzt von den Deutschen?
Letta: Deutschland war immer ein Antreiber bei diesem Thema. Helmut Kohl hat sich sehr für die Erweiterung in den 1990er-Jahren eingesetzt. Die Haltung der Bundesrepublik ist auch deshalb fundamental für den Erfolg. Ich fahre daher demnächst nach Berlin und hoffe, dass es bei Ihnen bald eine Debatte darüber gibt.
SPIEGEL: Ein Staatenbund könnte auch zu einem leeren Symbol verkommen. Gibt es konkrete politische Projekte, die sie den osteuropäischen und südosteuropäischen Anwärtern vorschlagen?
Letta: Auf jeden Fall müssen wir die Organisation mit Inhalten füllen. Über den Freihandel habe ich schon gesprochen. Außerdem gäbe es Kooperationsprogramme und gemeinsame Projekte wie zum Beispiel den Klimaschutz.
SPIEGEL: Welche Reaktionen bekommen Sie von den Beitrittskandidaten und -bewerbern?
Letta: Ich habe mit einigen gesprochen. Es hat mich sehr berührt, was ich zum Beispiel aus Albanien oder Nordmazedonien, die im Beitrittsverfahren weit fortgeschritten sind, gehört habe: Müssen wir uns erst von den Russen überfallen lassen, bevor Ihr uns aufnehmt? So oder so ähnlich haben sie es mir gesagt. Sie fühlen sich in die Ecke gestellt, weil die öffentliche Meinung in der EU noch nicht für ihren Beitritt bereit war.
SPIEGEL: Und das ändert sich jetzt?
Letta: Wladimir Putin ist es in seinem Wahn gelungen, im Westen eine positive Stimmung für eine EU-Erweiterung zu schaffen. Deshalb müssen wir den Ländern im Osten erklären, dass der Staatenbund kein Kindergarten wäre, sondern ein wichtiger Schritt, um ihren Beitritt zu erleichtern.