EU-Kandidatenstatus für die Ukraine: Entscheidung in Brüssel
Die gestrige Fahrt des Bundeskanzlers nach Kiew wird sich auf den heutigen Tag in Brüssel auswirken und auf den EU-Gipfel kommende Woche. Mit dieser Reise und allen Details der Inszenierung hat Olaf Scholz bewiesen, dass er als ewiger Leisetreter falsch eingeschätzt wird.
Italiens Ministerpräsident Draghi, Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz im Zug auf der Reise nach Kiew
Foto: Michael Fischer / dpa
Der Begriff »historisch« wird zurzeit zu sehr strapaziert – sagen wir also: Es war eine sehr wichtige Reise. Man sieht schon den Filmtitel vor sich: Nachtzug nach Kiew. Die entscheidenden Szenen in diesem Film würden im Salon des französischen Waggons spielen. Ausstattung: Samtstühle, geraffte Vorhänge und dunkle Wandverkleidung.
Dort im Salon traf Scholz sich nämlich mit seinen Mitreisenden, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi, zu nächtlichen Verhandlungen. Es war die Star-Besetzung der EU.
Rumäniens Präsident Klaus Johannis reiste am Morgen aus Bukarest an, als wichtiger Repräsentant der östlichen EU. Bei dieser Konstellation war klar, was das Gastgeschenk an die Ukraine sein würde: Die Gäste befürworten den EU-Beitrittskandidatenstatus der Ukraine.
Heute nun will die EU–Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob die Ukraine den erhofften Status erhalten soll. Darüber entscheiden, ob sie der Empfehlung folgen wollen, müssen alle 27 EU-Staaten. Voraussichtlich werden sie darüber beim EU-Gipfel kommende Woche verhandeln. Gerechnet wird zwar mit der Befürwortung des Kandidatenstatus unter Auflagen, doch ausgemacht ist das noch nicht, einige Staats- und Regierungschefs haben Bedenken.
Meine Kollegen Özlem Topçu schreibt im SPIEGEL-Leitartikel , der Beitrittskandidatenstatus der Ukraine sei »das Mindeste, was die Europäer der Ukraine zugestehen können. Dieser Status ist kein Geschenk an das Land, sondern liegt im geopolitischen Interesse Europas und ist die realpolitisch richtige Reaktion auf die Hilfe, die das ukrainische Volk derzeit für Europa leistet.«
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AfD-Parteitag: Was wird aus Tino Chrupalla?
Heute beginnt der Bundesparteitag der AfD, er wird drei Tage dauern. Austragungsort ist das sächsische Riesa. In Sachsen fühlt man sich wohl, trotz der für die Partei enttäuschend verlaufenen ersten Runde der Landrats- und Bürgermeisterwahlen am vergangenen Sonntag.
AfD-Chef Chrupalla: Neuer und alter starker Mann der Partei?
Foto:
SASCHA STEINBACH / EPA
Ein neuer Bundesvorstand soll in der Sachsenarena gewählt werden. Ursprünglich war das bereits für den Dezember geplant gewesen. Doch die Partei hat die Veranstaltung aus »Fürsorgepflicht« in den Sommer verschoben, ohne zu erwähnen, wovor die Teilnehmenden bewahrt werden sollten: vor einer Ansteckung mit Corona.
Die Coronazeit hat der Partei politisch nicht helfen können, so sehr exponierte Mitglieder auch versuchten, die Pandemiepolitik der aktuellen und der vorherigen Bundesregierung zu diskreditieren. Die AfD scheint seit vielen Monaten ohnehin weniger mit Inhalten beschäftigt zu sein als mit sich selbst. Sie zelebrierte öffentlich Machtkämpfe, woraufhin Jörg Meuthen als zweiter Parteichef zurücktrat und schließlich ganz aus der Partei ausschied.
Es läuft nicht gut für die Partei. Sie holte bei der Bundestagswahl 2021 zwei Prozent weniger als bei der vorherigen. Danach kamen drei Landtagswahlen, bei denen sie ebenfalls unter ihren Erwartungen blieb.
Seit Meuthens Rückzug wird die Partei von Tino Chrupalla allein geführt. Er stellt sich wieder zur Wahl und hat, so schätzen es meine Kollegen Ann-Katrin Müller und Severin Weiland ein, gute Chancen.
Ob er indes allein an die Spitze gewählt wird oder doch mit Alice Weidel (seiner bisherigen Co-Fraktionschefin im Bundestag), hängt auch von einer Satzungsänderung ab, die heute debattiert wird. Bislang sieht die Partei eigentlich drei Vorsitzende vor, war aber in den vergangenen Jahren immer von einem Duo geführt worden – eine Einer-Spitze gab es bislang noch nie.
Nach wie vor ist offen, ob der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke – den der Verfassungsschutz als Rechtsextremist führt – für den Bundesvorstand kandidiert. In der Partei halten viele dies, so hören es meine Kollegen, für unwahrscheinlich. Allerdings hören sie auch, dass Höcke bei den Beratungen zu vielen Anträgen eine zentrale Rolle spielen werde und womöglich sogar Vorsitzender einer neuen Parteistrukturkommission werden könne. Es wäre seine erste Parteiaufgabe mit bundesweiter Funktion.
Chrupalla wiederum hat fest vor, sich mit Höcke gut zu vertragen, das lässt sich daran ablesen, wer ihm im Bundesvorstand willkommen wäre. Meuthens Freunde kommen für ihn natürlich nicht in Frage, Höckes Freunde schon.
Eines muss man der Partei lassen. Bei der politischen Ausrichtung scheint sie keine Orientierungsschwierigkeiten zu haben: Es geht immer weiter stramm nach rechts.
Verlierer des Tages…
Eisdiele in Marseille: Frankreich hat die Hitzewelle schon erreicht
Foto: Daniel Cole / dpa
…ist der Sommer. Es soll warm werden heute, am Wochenende sogar sehr warm. Wir sollten es genießen, auch wenn das eben ganz ohne Sorgen nicht mehr geht. Der Zusammenhang zwischen Wetter und Klima ist kompliziert. Doch sobald die Temperaturen ungewohnt hoch werden, ist die Angst vor den Folgen des Klimawandels wieder da und die Unruhe, ob politisch auch das Notwendige dagegen getan wird. Gestern ging in Bonn eine Klimakonferenz zu Ende – Umweltschutzgruppen äußerten sich enttäuscht über die Ergebnisse. Das Treffen habe wieder einmal gezeigt, wie weit die Interessen der Verhandlungsteilnehmer von der Wirklichkeit der Menschen, die jetzt schon unter den Folgen des Klimawandels leiden, voneinander entfernt seien, teilte das Climate Action Network mit. Die zehntägige Konferenz in Bonn hatte die Aufgabe, den bevorstehenden Klimagipfel in Ägypten im November vorzubereiten. Die weiteren Aussichten: trübe.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer