1. Was Sie wissen sollten, bevor Sie morgen nach Kassel fahren
Morgen wird in Kassel die Documenta eröffnet, weit mehr als 50.000 Tickets sind bereits verkauft. Sollten Sie in den nächsten hundert Tagen hinfahren, können Sie Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt kennenlernen , Actionfilm-Regisseure aus Uganda, queere Siebdrucker aus Argentinien, Spanier, die eine Käsewährung erfunden haben. Ein Land jedoch scheinen die Ausstellungsmacher, ein indonesisches Kollektiv namens Ruangrupa, vergessen zu haben. Welche Künstler aus Israel sich auf der Documenta befinden, war kurz vor Eröffnung nicht herauszufinden. Vielleicht gibt es in Israel nicht so viele Künstler. Oder ist der Grund ein anderer?
Israel sei »das Apartheidsregime unserer Zeit«. »Wir rufen Regierungen dazu auf, Handel, Wirtschaft und Kulturbeziehungen zu beenden.« So steht es in einem Pamphlet vom letzten Jahr, das mindestens zwei Mitglieder der künstlerischen Leitung der Documenta unterschrieben haben. Ein Boykottaufruf, der einem bekannt vorkommt: Kauft nicht bei Juden.
Haben Sie immer noch Lust, nach Kassel zu fahren?
Man muss es leider so deutlich sagen: Deutschlands wichtigste Kunstschau, gefördert von der Bundesregierung, eröffnet vom Bundespräsidenten und der Kulturstaatsministerin, bezahlt aus Steuergeldern, wird mitgestaltet von Leuten, die der einzigen Demokratie im Nahen Osten feindselig gegenüberstehen. Sie sympathisieren offen mit der BDS-Bewegung (»Boycott, Divestment and Sanctions«), die in Teilen das Existenzrecht Israels infrage stellt. Der Bundestag hat vor drei Jahren mit großer Mehrheit einen Beschluss gefasst, wonach die Methoden der BDS-Szene als antisemitisch eingestuft werden. Etwa beim Pink-Floyd-Mitgründer Roger Waters, der behauptete, israelische Experten brächten US-Polizisten Techniken bei, mit denen man schwarze Menschen umbringen kann.
Entscheidende Figuren der deutschen Kulturpolitik sind aber offenbar der Ansicht, die BDS-Bewegung sei halb so schlimm. Grünenpolitikerin Claudia Roth, inzwischen die Documenta-Beauftragte der Bundesregierung, stimmte damals im Bundestag dem Beschluss nicht zu. Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, kritisierte den Beschluss deutlich. Roth und Völckers argumentieren mit der Kunstfreiheit, die auch für Israelfeinde gelten müsse. Als ob es nicht die BDS-Leute sind, die ein ganzes Volk wegzensieren wollen.
Der Bundesgerichtshof entschied diese Woche über ein Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert, die »Judensau« an der Stadtkirche Wittenberg, ein Schwein, an dem zwei Menschen mit Spitzhüten saugen. Ich musste an Roger Waters von Pink Floyd denken, der bei Konzerten gern ein Gummischwein mit einem Davidstern aufsteigen ließ, eine Judensau der Neuzeit. Wie sich die Bilder ähneln.
Die Judensau von Wittenberg darf laut Urteil bleiben, weil die Gemeinde ein Hinweisschild angebracht hat, das aus dem Schandmal ein Mahnmal mache . Ich bin gespannt, ob demnächst auch in Kassel über Erklärtafeln diskutiert werden muss.
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Lesen Sie hier mehr: »Judensau« der Neuzeit
2. Was für den EU-Beitritt der Ukraine spricht und was dagegen
Die Ukraine ist einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union heute einen Schritt näher gekommen. Die EU-Kommission befürwortet, das Land zum Beitrittskandidaten zu machen, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel mitteilte: Die Ukraine habe gezeigt, dass das Land sich an europäischen Werten und Standards orientieren wolle. Die Empfehlung fiel einen Tag nach der Kiew-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz und seinen Kollegen aus Italien, Frankreich und Rumänien.
Geht es jetzt also ganz schnell? Natürlich nicht. Die EU wird den Beitritt an Bedingungen knüpfen. Und welche das sind, darüber herrscht in Europa keine Einigkeit. Manche seien von Kiew genervt, andere drückten aufs Tempo, schreiben unsere Korrespondenten im neuen SPIEGEL : »Und Olaf Scholz? Steht mal wieder irgendwo dazwischen.«
Die Lager sehen etwa so aus: Portugal, Spanien, die Niederlande oder Dänemark haben große Bedenken, die Ukraine hereinzulassen. Den Polen und Balten kann es dagegen kaum rasch genug gehen. Deutschland, Frankreich und Italien sehen sich in der Mittlerrolle, darüber waren sich Scholz, Macron und Draghi gestern bei ihrer gemeinsamen Zugfahrt nach Kiew einig. Wobei Macron eigentlich doch eher skeptisch ist und Draghi eher euphorisch.
Die Ukraine verdient unsere volle Unterstützung. Doch die Lage im Land ist nicht so rosig, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj behauptet. Meine Kollegen schreiben: »Im globalen Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International, dessen aktuelle Version kurz vor dem russischen Überfall veröffentlicht wurde, liegt die Ukraine auf Rang 122 – zwischen Niger und Sambia und nicht weit vor Russland.« Einige Staaten, insbesondere Österreich, warnen vor dem fatalen Signal, das man mit einer Vorzugsbehandlung der Ukraine in Richtung Westbalkan senden würde . Diese Sorge teilt man in Berlin.
Dennoch neige ich der Meinung des lettischen Ministerpräsidenten Krišjānis Kariņš zu. Er sagt, in Europas Osten gebe es nach Putins Überfall keinen Mittelweg mehr: »Entweder man ist demokratisch, dann sollte man Teil der EU sein. Oder man wird zu einem russischen Imperium gehören, das Putin neu erschaffen will.«
Vor allem eines sollte bei ganzen Debatte über einen EU-Beitritt nicht vergessen werden: Wichtiger als alle Solidaritätsbekundungen ist konkrete Hilfe für die Ukraine: Waffen und Geld, und zwar jetzt.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Die Ukraine soll in die EU – aber zu welchem Preis?
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Die Ukrainer verlangen zu Recht mehr Hilfe«: Die US-Diplomatin Karen Donfried ist besorgt über den Vormarsch Russlands im Donbass, lobt die »Zeitenwende«-Rede von Bundeskanzler Scholz und wünscht sich eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine .
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Eurovision Song Contest darf 2023 nicht in der Ukraine stattfinden: Das Kalush Orchestra triumphierte beim Eurovision Song Contest. Trotzdem kann der ESC 2023 nicht in der Ukraine ausgetragen werden. Das entschied die EBU »mit Bedauern«. Jetzt ist der Zweitplazierte von Turin am Zug.
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Gaslieferungen nach Frankreich kommen zum Erliegen: Die russische Regierung verschärft ihr inoffizielles Gasembargo gegen europäische Staaten. Weil weniger Gas aus Russland nach Deutschland geliefert wird, gehen die französischen Nachbarn nun leer aus.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
3. Ferda Ataman und der SPIEGEL
Die Publizistin und Politologin Ferda Ataman, 43, soll neue Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes werden, auf Vorschlag der grünen Familienministerin Lisa Paus. Es ist nicht das wichtigste Amt, das die Ampelkoalition zu vergeben hat. Trotzdem regen sich viele über die Personalie auf. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Bundestagsgruppe, Stefan Müller, nannte Ataman eine »krasse Fehlbesetzung«. Hier werde eine linke Aktivistin in ein Regierungsamt gehoben.
Wenn der Bundestag nächste Woche über Ataman abstimmt, dürfte es Widerstand geben. Die FDP-Politikerin Linda Teuteberg sagte: »Ein Vorschlag, dem ich meine Stimme nicht geben kann.«
Ferda Ataman hat schon mal in der Antidiskriminierungsstelle gearbeitet, als Referatsleiterin, außerdem im NRW-Ministerium für Integration. Sie baute einen Mediendienst auf, gründete eine Beratungsfirma und war Vorsitzende der »Neuen deutschen Medienmacher*innen« (NdM), ein Verein, der sagt, er wolle Rassismus in Medien bekämpfen. Zum Beispiel hat er ein Glossar erstellt mit Begriffen, die Journalistinnen und Journalisten möglichst nicht verwenden sollten. Auf eine nicht abschließend geklärte Weise ist dieses Glossar zunächst sogar in das Textverarbeitungsprogramm beim SPIEGEL eingeflossen. Wenn ich zum Beispiel das Wort »Flüchtlinge« tippte, schlug mir die Autokorrektur vor, besser »Geflüchtete« zu schreiben. Aber auch beim Wort »Staatsfunk« schlug das System Alarm. Was zeigt, dass der Verein ein offenbar recht weitgehendes Verständnis von Rassismus in den Medien hat. Inzwischen nutzt der SPIEGEL das System nicht mehr, zumindest bekomme ich keine woken Änderungsvorschläge mehr.
Womöglich sind wir beim SPIEGEL in Sachen Ferda Ataman befangen. Bis 2020 schrieb sie eine Kolumne für uns. Einige Kolleginnen und Kollegen kennen sie persönlich gut. Andererseits hat uns Atamans Verein 2020 den Negativpreis »Die Goldene Kartoffel« verliehen, für unsere Berichterstattung über Clankriminalität bei SPIEGEL TV. Unsere Beiträge seien »verzerrt«, »rassistisch«, »realitätsfern«, »verstießen gegen journalistische Standards«. Schon das Wort »Clankriminalität« sei diskriminierend, weil es fast ausschließlich im Zusammenhang mit arabischen Familien auftauche.
Falls sich die Familie Abou-Chaker über unsere Berichterstattung beschweren möchte, weiß sie jetzt jedenfalls, an welche Stelle der Bundesregierung sie sich künftig wenden kann.
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Lesen Sie hier mehr/Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Ferda Ataman soll neue Antidiskriminierungbeauftragte werden
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Britische Regierung macht Weg frei für Auslieferung von Julian Assange an die USA: Bis zu 175 Jahre Gefängnis drohen dem WikiLeaks-Gründer in den USA. Nun hat die britische Regierung der Auslieferung von Assange zugestimmt. Er hat allerdings noch eine letzte Chance.
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Kinderärzte warnen vor erneuten Schulschließungen im Herbst: In der Coronazeit blieben Schulen und Kitas teils monatelang geschlossen. Das dürfe nicht wieder passieren, heißt es vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Junge Menschen seien möglicherweise nicht resilient genug.
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Großkanzleien profitieren von Maskendeals: Der Streit über die Lieferung von Coronamasken kostet den Bund viel Geld: Nach SPIEGEL-Informationen zahlte das Gesundheitsministerium bereits mehr als 36 Millionen Euro an Großkanzleien.
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Frankfurt und Bayern eröffnen neue Bundesligasaison: Frankfurt und Bayern bestreiten das Eröffnungsspiel der neuen Bundesligasaison, die wegen der WM in Katar eine frühe Pause einlegen wird. Am ersten Spieltag steigt auch das Berlin-Derby. Aufsteiger Schalke muss nach Köln.
Meine Lieblingsgeschichte heute: 24 Stunden Le Mans mit Michael Fassbender
Der ebenso geschätzte wie erfolgreiche Schauspieler Michael Fassbender (»X-Men«, »Steve Jobs«), 45, verließ vor vier Jahren Hollywood, um seinen Lebenstraum zu verwirklichen: Er wollte Rennfahrer werden. Und zwar nicht irgendwo, sondern beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, wie Paul Newman im Jahr 1979. In einem Wagen mit mehr als 500 PS. Ein Spiel mit Leben und Tod. War der Mann verrückt geworden?
Doch Fassbender schaffte es. Letztes Wochenende trat er auf dem legendären französischen Rundkurs in einem Porsche 911 RSR 19 an. Mein Kollege Arno Frank hat Fassbender dabei beobachtet und war fasziniert . »Le Mans ist Exzess, eine beinahe para-religiöse Feier automobiler Raserei«, schreibt er: »Nachts kann man hier die Bremsscheiben glühen sehen. In der Dämmerung hat der Kurs bisweilen etwas Savannenhaftes, wirken die Fahrzeuge wie Raubtiere.«
Arno war überrascht, dass Fassbender trotz seiner Prominenz wie ein normaler Fahrer behandelt wurde: »Als Anfänger hat er keine Vorzugsbehandlung genossen und ein mehrstufiges Trainingsprogramm durchlaufen müssen. Im Rennen wird er seinen Porsche mal beim Boxenstopp abwürgen, mal mit durchdrehenden Reifen im Kiesbett stehen. Ein heftiger Unfall im Qualifying verläuft glimpflich.«
Fassbender überstand das Rennen, wenngleich mit Blessuren. Gegen Mitternacht rammte ihn ein Ferrari von der Piste, Fassbender landete im Kiesbett, ein Kran musste ihn zurück auf die Straße setzen. Am Ende landete er auf Platz 51 von 62 in seiner Wagenklasse. Paul Newman hatte 1979 den zweiten Platz im Gesamtklassement belegt. Fassbender trug’s mit Fassung. Zu Arno sagte er: »Vor der Kamera fühle ich mich sicher, hier nicht.« Er brauche wohl noch weitere vier Jahre, um wirklich gut zu werden.
Ich habe kein besonders großes Interesse an Motorsport, aber Arnos Text hat mich fasziniert. Vielleicht, weil er in Wahrheit davon handelt, wie ein Mensch seinen Traum verwirklicht, gegen jede Vernunft.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Nachts kann man hier die Bremsscheiben glühen sehen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Haus. Schluss. Vorbei.: Die Zeit der Niedrigzinsen ist vorbei, doch der Boom auf dem Häusermarkt geht weiter. Was Käufer jetzt wissen müssen – und was jetzt auch für Immobilienbesitzer zum Problem werden könnte. Der SPIEGEL-Titel .
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Doppelmord im Urwald: Ein Fischer hat den Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und dem Indigenenexperten Bruno Pereira gestanden – und führte die Polizei zu den zwei Leichen tief im Dschungel. Und eine Spur führt noch zur Drogenmafia .
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Muss Helmut Kohls Witwe Maike einen Teil des Nachlasses herausgeben? Es geht auch darum, wem die Geschichte Deutschlands gehört: Ein Gerichtsverfahren um den Nachlass Helmut Kohls lenkt Aufmerksamkeit auf die Frage, wohin eigentlich Regierungsakten deutscher Kanzler verschwinden .
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Noch immer schont Justizminister Garland Trump – wovor hat er Angst? Die Anhörungen im US-Kongress lassen kaum Zweifel: Donald Trump wollte sich mithilfe eines mörderischen Mobs im Amt halten. Trotzdem gibt es immer noch keine Anklage gegen ihn – weil sie das Land in Chaos und Gewalt stürzen könnte .
Was heute weniger wichtig ist
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Bühnenhorror: Ex-Beatle Paul McCartney, 79, wird auch im fortgeschrittenen Alter von Versagensängsten geplagt, bevor er auf die Bühne geht. Er habe Sorge, das Publikum zu langweilen, sagte er in einem Interview. Ein wiederkehrender Albtraum sei dieser: »Ich spiele, und die Leute fangen an zu gehen, und ich versuche, mir einen Song auszudenken, der sie zurückbringt – singe ›Long Tall Sally‹, schnell –, aber sie gehen weiter – let’s do ›Yesterday‹!« Es sei die typische Angst des Künstlers, die Leute zum Bierstand zu treiben. Ende des Monats will McCartney trotzdem wieder auftreten, vor bis zu 210.000 Zuschauern beim Glastonbury-Festival im britischen Somerset. Bereits morgen feiert er seinen 80. Geburtstag: Happy Birthday, Paul!
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Die Sommerwelle müsse man ernst nehmen, ›aber nicht in Panik geraten‹, so Lauterbach. Die Variante BA.5 verlaufe armloser.«
Cartoon des Tages: Waffenstillstand
Foto:
Illustration: Chappatte
Und heute Abend?
Es war eine harte Woche, also lassen Sie es mich kurz machen. Vor uns liegt ein herrlich lauer Sommerabend, warum sind Sie nicht längst im Biergarten?
Es hat Spaß gemacht, Sie durch die Woche begleiten. Schreiben Sie mir gerne, wenn Ihnen etwas aufgefallen ist, per Mail oder über Twitter . Am Montag begrüßt Sie hier mein Kollege Wolfgang Höbel.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Herzlich
Ihr Alexander Neubacher
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