Nach dem langen Gespräch mit SPIEGEL-Journalisten Alexander Osang hat sich Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel zum zweiten Mal nach Ende ihrer Kanzlerschaft ausführlich zu ihrem Leben als Spitzenpolitikerin geäußert. In einem Interview mit dem »Redaktionsnetzwerk Deutschland« (RND) sprach sie über die Prägung ihrer ostdeutschen Herkunft, über Stressmomente und persönlichen Verzicht im Beruf und das Nachlassen ihres Einflusses am Ende ihrer Amtszeit bei den Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie verteidigte zudem ihre damalige Haltung zu Nord Stream 2.
Merkel sagte, sie habe sich erst während der letzten Phase ihrer Kanzlerschaft klar für Ostdeutschland positioniert, weil sie als Ostdeutsche selbst keine »Verletzlichkeit« habe zeigen wollen. »Man hätte mir vielleicht Befangenheit vorgeworfen. Ich war Kanzlerin aller Deutschen, natürlich die ostdeutsche Kanzlerin aller Deutschen, und habe mich dabei um ein hohes Maß an Sachlichkeit bemüht«, sagte Merkel dem RND.
Bei ihrer letzten Rede als Kanzlerin zum Tag der Deutschen Einheit hatte Merkel selbst erlebte westdeutsche Überheblichkeit geschildert, doch sie hätte noch weitergehen können: »Ich hätte zum Beispiel auch die ›Zonenwachtel‹ noch zitieren können, mit der ich mal tituliert wurde.« Sie habe aber diese Rede in dem Wissen gehalten, dass sie das Amt bald verlassen werde. »Denn ich habe damit eine Verletzlichkeit gezeigt. Vorher hatte ich sicher die Sorge, mich damit angreifbar zu machen«. Das Amt erfordere, dass man kein Mitleid oder besondere biografische Erfahrungen thematisiere. Sie verwies außerdem darauf, dass sie »eine der letzten Helmut-Kohl-Schülerinnen« sei und zitierte ihn mit dessen Worten: »Entscheidend ist, was hinten rauskommt.« Sie selbst fügte hinzu: »Und nicht so sehr, was man an Betroffenheit zum Ausdruck bringt.«
»Jetzt bin ich frei«
Die Altbundeskanzlerin sprach auch über die stressigsten Phasen ihrer Kanzlerschaft und wie es ist, nach 30 Jahren Politik wieder Freizeit zu haben. »Manchmal ist es noch ungewohnt, dass ich keinen Termindruck mehr habe«, sagte Merkel. Nun sei sie in einem neuen Lebensabschnitt: »Jetzt bin ich frei.« Das sei ein schönes Gefühl. »Das gönne ich mir, weil ich finde, dass ich es lange genug gemacht habe.« Nach den 16 Jahren Kanzlerschaft sei sie erschöpft gewesen. »Ich war schon ganz schön geschafft«, sagte Merkel. Aber sie sei kein »halbtotes Wrack« geworden. Schon 1998 hatte sie erklärt, dass sie so nie enden wollte.
Während der Kanzlerschaft konnte Merkel nicht frei über ihre Zeit entscheiden: »Der Preis ist ein hohes Maß an Aufgabe der Privatsphäre und die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit. Immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, ob Weihnachten oder Neujahr. Das Amt ging immer vor.« Jetzt ist es anders: »Dass das vorbei ist nach so vielen Jahren, ist eine große Erleichterung.«
Kaum Zeit nach Tod der Mutter
Selbst für die Trauer um ihre Mutter, die im April 2019 wenige Tage vor einem EU-Gipfel starb, sei nur wenig Zeit geblieben. »Das gehört zur Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit. Wenn EU-Rat ist, ist EU-Rat. Wenn Nachtsitzung ist, ist Nachtsitzung. Wenn ich nicht mit 40 Fieber im Bett liege, fahre ich eben zum EU-Rat«, sagte Merkel. Das sei Teil ihres Amtsverständnisses.
Am stressigsten sei die Zeit der sogenannten »Flüchtlingskrise« gewesen: »2015/2016 war es eine extrem anstrengende Zeit, in der ich aber innerlich sehr gefestigt war«, sagte Merkel. Damals habe sie im Einklang mit den christlichen Werten der CDU und dem Grundgesetz gehandelt: »Mein Handeln 2015 entsprach aus meiner Sicht dem C meiner Partei und Artikel 1 des Grundgesetzes.«
September 2015: Ein Mann, der vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen war, knipst ein Selfie mit Merkel
Foto: Sean Gallup/ Getty Images
Die Auseinandersetzung um ihre Entscheidung für die Aufnahme von Flüchtlingen sei es wert gewesen. »Das war aber sicherlich die emotionalste Phase meiner Kanzlerschaft«, erklärte Merkel. Trotz der erheblichen öffentlichen und unionsinternen Auseinandersetzungen in dieser Zeit erklärte Merkel rückblickend: »Das sehe ich überhaupt nicht als Tiefpunkt. Da hat mich mancher Konflikt um Corona mehr mitgenommen.«
Merkel will Westdeutschland erkunden
Doch was will nun eine ehemalige Bundeskanzlerin machen, die plötzlich so viel Zeit hat? Westdeutschland bereisen, zum Beispiel: »Ich bin selten zweckfrei in den alten Bundesländern gewesen«, sagte Merkel. »Ich bin nie einfach so auf der Loreley gewesen oder an der Moselschleife oder alleine im Trierer Dom oder Speyerer Dom.«
Nun beginne für sie ein neuer Lebensabschnitt. Sie habe bisher nur wenig gemacht, was viele Menschen gern und selbstverständlich unternähmen, fügte sie hinzu. »Ich gehe jetzt in den Teil meines Lebens, der mir bisher verwehrt war. Als Mensch.« Ihre politische Zeit über gut 30 Jahre sei eine große Ehre gewesen. Darüber sowie über ihre Kindheit und Jugend in der DDR werde sie mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann ein Buch schreiben.
Gas war »keine Waffe«
Merkel gab auch Einblicke in ihre politischen Entscheidungen und verteidigte ihre positive Haltung zur Ostseepipeline Nord Stream 2 trotz der russischen Annexion der Krim. »Ich habe nicht an Wandel durch Handel geglaubt, aber an Verbindung durch Handel, und zwar mit der zweitgrößten Atommacht der Welt«, sagte Merkel. Vor diesem Hintergrund habe sie die Pipeline nach den Verhandlungen über das Minsker Friedensabkommen für die Ostukraine für vertretbar gehalten.
Merkel bei einem Treffen mit Wladimir Putin im Januar 2020 in Moskau
Foto: Mikhail Metzel/ imago images/ITAR-TASS
Die Kritik, dass die Pipeline die Ukraine einem höheren Invasionsrisiko durch Russland ausgesetzt habe, wies Merkel zurück. »Die damalige These lautete: Wenn Nord Stream 2 in Betrieb ist, wird Putin durch die Ukraine kein Gas mehr liefern oder sie sogar angreifen.« Der Westen habe jedoch dafür gesorgt, dass durch die Ukraine trotzdem Gas geliefert wurde und sie so weiter Transitgebühren erhalten habe. Putin habe dann die Ukraine am vergangenen 24. Februar angegriffen, obwohl durch Nord Stream 2 noch kein einziger Kubikmeter Gas geflossen war. »In diesem Sinne war Gas keine Waffe«, sagte Merkel.
Die Ex-Kanzlerin verteidigte ihre Haltung und verwies auf die damals schon hohen Energiepreise durch Förderung der erneuerbaren Energien, den Atomausstieg und den Beginn des Kohleausstiegs. »Die deutsche Wirtschaft hatte sich damals für den leitungsgebundenen Gastransport aus Russland entschieden, weil das ökonomisch billiger war als Flüssiggas aus Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten und später auch aus den USA.« Politisch sei es darum gegangen, ob anstelle russischen Gases das erheblich teurere und ökologisch umstrittene Flüssiggas »gegen den Wunsch der Wirtschaft, gegen die industrielle Stärke Deutschlands« gekauft werde.
Merkel betonte »Wir waren bereit, den Bau von zwei LNG-Terminals in Deutschland mit Steuergeldern zu fördern. Doch bis zum letzten Tag meiner Amtszeit baute kein Unternehmen einen LNG-Terminal in Deutschland, weil sich kein Importeur fand, der wegen des hohen Preises im Voraus langfristige Kapazitäten gebucht hätte.«
Wenig Einfluss auf Putin am Ende der Kanzlerschaft
In Bezug auf Russland und Kremlchef Wladimir Putin räumte Merkel ein, dass Ihr Einfluss auf den Moskauer Machthaber kurz vor ihrem Amtsende schwand. »Es war ja klar, dass ich nicht mehr lange im Amt sein würde, und so muss ich einfach feststellen, dass verschiedene Versuche im vorigen Jahr nichts mehr bewirkt haben«, sagte sie.
Sie schloss daher nicht aus, dass Putin mit seinem Angriffskrieg möglicherweise bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Amt gewartet haben könnte. »Mein Ausscheiden kann ein Beitrag gewesen sein wie zum Beispiel auch die Wahl in Frankreich, der Abzug der Truppen aus Afghanistan und das Stocken der Umsetzung des Minsker Abkommens«, sagte Merkel.
Putin sei im vergangenen Jahr nicht mehr zu einem Gipfeltreffen im sogenannten Normandie-Format mit Vertretern Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs bereit gewesen, sagte die CDU-Politikerin. »Andererseits gelang es mir auch nicht, neben dem Normandie-Format ein zusätzliches europäisch-russisches Gesprächsformat über eine europäische Sicherheitsordnung zu schaffen.« Auf die Frage, ob sie als Vermittlerin für eine Lösung in dem Konflikt zur Verfügung stehen würde, sagte Merkel: »Diese Frage stellt sich derzeit nicht.«