Macron – diesmal kommt der Gegner von links
In TV-Serien sorgt das Stilmittel des Cliffhangers für Spannung – eine Folge endet am aufregendsten Moment. Frankreich veranstaltet Wahlen mit dem Mittel des Cliffhangers: zwei Wahlgänge bei der Präsidentschaftswahl im April, zwei bei der Parlamentswahl jetzt im Juni.
Politiker Mélenchon in einer Fernsehshow
Foto: STEPHANE DE SAKUTIN / AFP
Der heutige Tag liegt zwischen den beide Runden, die über die Mehrheiten in der Nationalversammlung bestimmen. Und ja, durch das Ergebnis des gestrigen Abends ist das Warten auf die entscheidende Runde am nächsten Sonntag besonders spannend. Das Wählerbündnis des im April erst im Amt bestätigten französischen Präsidenten Emmanuel Macron liegt bislang nahezu gleichauf mit der neuen Allianz der Linksparteien (NUPES) um Jean-Luc Mélenchon. Mélenchon ist kritisch gegenüber der EU und den Deutschen. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass Mélenchon Premierminister wird, wie er es sich wünscht. Dennoch ist er Macrons starker Gegner von sehr links – eine Gegnerin von äußerst rechts hat Macron in Marine Le Pen.
Egal sollte es den Deutschen nicht sein, ob es, wonach es eher aussieht, Macron tatsächlich gelingt, eine eindeutige Mehrheit seines Lagers im Parlament zu erreichen. Man muss zwar nicht sein Fan sein, aber anzuerkennen ist, wie sehr er sich um ein vertrauensvolles Verhältnis mit den deutschen Regierungschefs bemüht und für Europa brennt. Das muss sich durch die Sitzverteilung im Parlament zwar nicht ändern, aber die Frage wird sein, wie viel Kraft er für Außenpolitik übrighaben würde, sollte er von innenpolitischen Kämpfen zerrieben werden.
Erschreckend angesichts der ernsten Lage, in der sich die Welt nach zwei Jahren Pandemie und Russlands Krieg gegen die Ukraine befindet, ist die geringe Wahlbeteiligung: Gestern Abend hieß es, sie sei für eine erste Runde der Parlamentswahlen historisch niedrig gewesen: je nach Institut zwischen 47 und 47,5 Prozent.
Für gewisse Teile Deutschlands gibt es hier aber keinerlei Anlass für Überheblichkeit. Die Beteiligung bei den Landtagswahlen im Mai in Nordrhein-Westfalen, immerhin dem bevölkerungsreichsten Bundesland, fiel mit 55,5 Prozent ebenfalls auf einen historischen Tiefstand. Die Begründung dafür war besonders trostlos: Das Wetter sei am Wahltag einfach zu schön gewesen, hieß es.
Was für eine soziale Pflichtzeit spricht
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Wochenende eine Debatte über die Einführung einer sozialen Pflichtzeit für junge Frauen und Männer angeregt. So schnell werden Wünsche wahr: Die Debatte ist da. Allerdings mit wenig Zuspruch für Steinmeier.
Bundespräsident Steinmeier
Foto: BERND VON JUTRCZENKA / AFP
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sagte, Steinmeiers Vorschlag würde einen Eingriff in die individuelle Freiheit eines jeden Jugendlichen bedeuten, Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) äußerte sich ähnlich. Die Jungen Liberale meinten, die Idee gehöre »zurück in die Mottenkiste«.
Manchmal hilft es, sich in vergangene Zeiten zurückzubegeben, um den Blick aufs Heute zu schärfen. Es gab 2011 eine Gemengelage von Gründen, die Wehrpflicht und damit auch den zivilen Ersatzdienst, der in etwa einer sozialen Pflichtzeit entsprochen hat, in die Mottenkiste zu packen. Einer der Gründe war der damalige neoliberale Zeitgeist: schneller, höher, weiter, darum ging es. In fast allen Bundesländern wurde zwischen 2012 und 2015 auch die Schulzeit bis zum Abitur verkürzt. Man wollte die jungen Leute früher in den Arbeitsmarkt bringen.
Es wird kein Zufall sein, dass einige Bundesländer die Schulzeit inzwischen wieder verlängert haben und gleichzeitig der Vorschlag für eine soziale Pflichtzeit aus eben jener Mottenkiste geholt wird. Natürlich wären es wieder die Älteren, die von sozialen Diensten der Jüngeren profitieren würden – ohne deren Dienste wird sich der demographische Wandel nämlich kaum bewältigen lassen. Doch die Jüngeren könnten sich dennoch freuen, wenn die Erkenntnis sich verbreitete, dass es auf ein Schneller-Höher-Weiter nicht unbedingt ankommt, sondern vor allem auf die Substanz und die Tiefe einer Erfahrung.
Sparen ohne Ersparnis
Rabatte machen der Kundschaft nur dann Freude, wenn sie ein Gefühl dafür bekommen, wie viel sie im Vergleich zum eigentlichen Preis sparen. Am schönsten ist doch immer dieser rote Strich, der energisch die höhere Summe durchzieht, während darüber, daneben oder darunter, ebenfalls in Rot, die niedrigere Summe prangt. Wie wenig Freude hingegen ein Rabatt macht, der als solcher kaum zu erkennen ist, sieht man in diesen Tagen. Trotz des sogenannten Tankrabatts, dem Steuerabschlag auf Benzin und Diesel von bis zu 35 Cent pro Liter, ist das Tanken wieder kostspielig. Da liegt der Verdacht nahe, dass die Mineralölkonzerne Teile der Steuererleichterung einstecken, anstatt den Rabatt an ihre Kunden weiterzureichen.
Autofahrer betankt sein Auto (Symbolbild)
Foto: Felix König / dpa
Konzernvertreter dementieren das zwar, gleichwohl möchte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nun das Kartellrecht verschärfen, um im Fall der Fälle, so zitiert mein Kollege Gerald Traufetter aus einem Papier des Wirtschaftsministeriums, »verfestigte Märkte aufzubrechen und so für mehr Wettbewerb zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen«.
Eine solche Gesetzesverschärfung allerdings wirkt nicht sofort, weswegen im politischen Milieu auch andere Vorschläge, wie mit den hohen Preisen umzugehen sei, herumvagabundieren: zum Beispiel eine Übergewinnsteuer, eine neue Sondersteuer, die Krisengewinner belasten würde. Einen entschiedenen Gegner hat diese Idee aber mindestens in meinem Kollegen Christian Reiermann, der in seiner Analyse zu dem Schluss kommt: »Eine Übergewinnsteuer käme einem Angriff auf die Innovationskraft des Landes gleich. Sie kostet Wachstum und damit Wohlstand«.
Gewinnerin des Tages…
Corona-Impfungen des Herstellers Pfizer-BioNtech
Foto: Javier Pulpo / EUROPA PRESS / picture alliance / dpa
…ist Mal wieder die Impfung. Die früher übliche Pockenschutzimpfung soll zu 85 Prozent wirksam gegen eine Infektion mit Affenpocken sein, berichtet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Eine erleichternde Nachricht, wie es auch immer noch eine gute Nachricht ist, wie wirksam die Impfstoffe gegen Coronaviren sind.
Nicht gut aber wäre es, wenn diejenigen, die sich zwar gegen Covid haben impfen lassen, aber meinen, die Impfung schlecht vertragen zu haben, nicht sorgsam genug angehört würden, weil Ärzte und Politiker sich sorgten, man würde damit Impfgegnern in die Hände spielen. Nur zwei Unikliniken in Deutschland nähmen derzeit Verdachtsfälle auf, die nach ihrer Coronaimpfung unerklärliche Symptome entwickelt hätten , die Charité in Berlin und die Uniklinik in Marburg, so berichtet meine Kollegin Katherine Rydlink, die mit Betroffenen und Ärzten gesprochen hat. Die Impfkampagne war – wenn auch mit Abstrichen – insgesamt ein ordentlicher Erfolg. Grund genug für Ärzte und Gesundheitspolitiker, um souverän mit Zweiflern umzugehen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer