Belgrad zürnt
Olaf Scholz absolviert heute den zweiten Tag seiner Westbalkan-Tour. Von Thessaloniki geht es heute früh (ja, wieder sehr früh, leider) nach Skopje und Sofia. Es ist im Vorfeld schwer vorherzusagen, wie spannend diese Kanzlerreisen sind. Manchmal wartet man einfach nur lange in zugigen Präsidentenpalästen bei wackeliger WLAN-Verbindung und liest notgedrungen das Heftchen mit den Länderinformationen, das bei der Abreise ausgeteilt wurde, während die Delegationen hinter verschlossener Tür verhandeln. Und in der anschließenden Pressekonferenz, wo aus jedem Land immer nur zwei Journalisten eine Frage stellen dürfen, beteuern sich der Kanzler und sein jeweiliges Gegenüber dann ihre unverbrüchliche Wertschätzung.
Olaf Scholz und Aleksandar Vučić in der Pressekonferenz in Belgrad
Foto: Michael Kappeler / dpa
Aber dann gibt es diese Pressekonferenzen wie gestern, wo alles anders läuft. Es ist ein Markenzeichen des noch neuen Kanzlers Olaf Scholz, dass ausgerechnet dieser so kontrolliert wirkende Mann in Pressekonferenzen mitunter einen raushaut. Einen spontanen Scherz vielleicht, wie damals in Moskau auf Kosten von Wladimir Putin, oder einen kurzen Satz mit explosiver Wirkung, wie gestern im Kosovo.
Das kleine Land kämpft um die Anerkennung seiner Staatlichkeit durch das Nachbarland Serbien, der nächsten Station der Kanzlerreise. Und in der Pressekonferenz stellte Scholz klar, dass er von Belgrad diese Anerkennung des Kosovo erwarte, wenn Serbien der EU beitreten wolle.
In Belgrad, wo Scholz wenig später landete, wurde diese Botschaft mit Empörung und Frust aufgenommen: Er reagiere nicht auf Drohungen, erklärte Präsident Aleksandar Vučić in der Pressekonferenz. Von der Bedingung, das Kosovo anzuerkennen, sei bisher beim Thema EU-Beitritt nie die Rede gewesen. »Machen Sie Ihre Arbeit, wir machen unsere«, grollte Vučić.
Man muss dem serbischen Präsidenten, der einen Kuschelkurs mit Russland verfolgt und sich weigert, die EU-Sanktionen gegen Moskau zu übernehmen, vielleicht nicht allzu sehr entgegenkommen. Dass ein EU-Staat den anderen anerkennt, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, da hat Scholz recht. Und doch dürfte der Kanzler mit seinem Spruch über die Anerkennung des Kosovo die Wirkung der positiven Botschaft zunichtegemacht haben, mit der er eigentlich nach Serbien gereist war: Der Kanzler hatte dem Land versprochen, den zähen Prozess der Annäherung Serbiens an die EU wieder mit mehr Elan voranzutreiben.
Und was der Kanzler auch unterschlägt: Fünf aktuelle EU-Staaten, darunter Spanien, erkennen das Kosovo bislang nicht an.
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Corona zermürbt
Eine Coronainfektion zu überstehen, ist schwer genug, mit Long Covid zu leben noch härter. Aber dann auch noch finanziell in die Klemme zu kommen, muss zermürbend sein. Matthias Kaufmann beschreibt im neuen SPIEGEL, dass Deutschlands soziale Sicherungssysteme nicht darauf ausgerichtet sind, die Langzeitfolgen von Coronainfektionen abzufedern.
Erschöpft von der Pandemie? Eine Statue im südkoreanischen Daegu.
Foto: DALSEO WARD / HANDOUT / EPA
Dabei leidet Studien zufolge jeder zehnte Infizierte an Long Covid. »Das wären in Deutschland annähernd eine halbe Million Menschen, von denen niemand weiß, wie lange ihre Beschwerden anhalten und ob sie je wieder vollständig gesund werden«, schreibt Kaufmann. Die Absicherung vieler Betroffener sei in Gefahr, und viele Kranke seien auch gar nicht in der Lage, sich Hilfe zu suchen.
Fällt eine Patientin oder ein Patient nach dem Ende von Krankengeld, Lohnfortzahlung und Arbeitslosengeld I irgendwann in das Hartz-IV-System, beginnt der gefürchtete Papierkrieg mit den Ämtern. Hinzu kommt, dass die Symptome von Long Covid so diffus sind und viele Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter schon mit der Diagnose überfordert.
Man wünscht sich für die Betroffenen, dass die Politik die Gesundheitsinfrastruktur bald auf die neue Volkskrankheit ausrichten kann – ohne dass Trittbrettfahrer sich das System zunutze machen.
Klimapolitik ernüchtert
»So sieht Klimaprotest heute immer häufiger aus: heroisch, verzweifelt, riskant, konfrontativ, und gern auch mal illegal« – so beschreibt ein Autorenteam um meinen Kollegen Jonas Schaible den Zustand der Klimaaktivisten-Szene. Die Bewegung besteht zwar aus sehr unterschiedlichen Gruppen. Allen gemeinsam ist jedoch: Sie durchlaufen eine Durststrecke.
Klimaaktivistin Luisa Neubauer auf einer Kundgebung gegen den Bau der A20
Foto: Hendrik Schmidt / dpa
Der Krieg verdrängt die Klimakrise aus der öffentlichen Wahrnehmung, und seit die Grünen regieren, ist es schwieriger, gegen das Feindbild der gleichgültigen Bundesregierung anzurennen. Trotz der neuen Mehrheiten scheint der Fokus der Umwelt- und Klimapolitik im Moment nur auf einem Thema zu liegen: eine von Russland unabhängige Energieversorgung herzustellen. Und dann gibt es ja auch noch die Pandemie, die auch die Aktivistenszene nicht verschont.
Jonas und meine Kolleginnen und Kollegen beschreiben eine Bewegung in der Sinnkrise. Wird die Szene noch radikaler werden? Oder die Mühen der Ebene auf sich nehmen?
Verliererin des Tages…
…ist die Juso-Chefin Jessica Rosenthal. Sie ist ein anderer Typ als ihr Vorgänger Kevin Kühnert, der die SPD-Jugend zu seiner Machtmaschine formte, mit der er 2019 maßgeblich dazu beitrug, seine Wunschkandidaten für den Parteivorsitz durchzuboxen – gegen den heutigen Kanzler Olaf Scholz. Jetzt ist Kühnert SPD-Generalsekretär und hat auch die Aufgabe, eben diesen Kanzler zu erklären und zu verteidigen.
Jessica Rosenthal
Foto: IMAGO/Florian Gaertner/photothek.de / IMAGO/photothek
Wie hätte wohl Kühnert agiert, wenn er jetzt noch immer als Juso-Chef im Bundestag säße? Hätte er für das Sondervermögen gestimmt oder es bekämpft? Hätte er die 48 Jusos im Bundestag als eine Fraktions-Kampftruppe für seine Haltung in Stellung gebracht? Wir werden es nie erfahren, aber man ahnt doch die Antwort. Natürlich ist ein Krieg eine andere Situation als eine Parteivorsitzenden-Wahl. Aber für die SPD ging es nach dem Abgang von Andrea Nahles auch um die Existenz.
Jessica Rosenthal lehnt das Sondervermögen ab, aber sie kämpft allein. Anstatt ihre Jusos gegen Scholz zu mobilisieren, erklärte sie lieber in einem Gastbeitrag für unsere Seite ihre ganz persönlichen Gründe für diese Haltung.
Rosenthal sei in der Klemme, analysieren meine Kollegen Kevin Hagen und Christian Teevs: »Torpediert sie allzu häufig den Kurs des Kanzlers, stört sie den Regierungsfrieden und droht zur Außenseiterin in der Fraktion zu werden. Reiht sie sich ein, enttäuscht sie die Erwartungen vieler Jusos.« Ob Kühnert dies seinerzeit als Dilemma gesehen hätte?
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann