Vermittlung á la Turca
Am Montag wollte der russische Außenminister Sergej Lawrow zu einem Besuch nach Belgrad, doch daraus wurde nichts. Weil die Nachbarländer Serbiens, einem Land, das in die EU strebt und traditionell gute Beziehungen zu Russland pflegt, der russischen Regierungsmaschine keine Überfluggenehmigung erteilt haben, wurde der Besuch abgeblasen.
Seit gestern Abend weilt der russische Außenminister zu einem Besuch bei seinem Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in der Türkei, einem Land, das nach eigenen Aussagen in die EU strebt und traditionell gute bis ambivalente Beziehungen zu Russland pflegt – und geografisch in der Nähe liegt. Überfluggenehmigungen stellten hier kein Problem dar.
Bei dem Besuch soll es auch um die »Sicherung von Weizenexporten aus der Ukraine und die Errichtung eines Sicherheitskorridors« auf dem Schwarzen Meer gehen. Das mutet natürlich fast schon seltsam an, da ja Russland in erster Linie dafür Verantwortung trägt, dass die Lage unsicher ist.
Die Außenminister Russlands und der Türkei, Sergej Lawrow (l.) und Mevlüt Çavuşoğlu bei einem Besuch des Russen in Ankara 2018
Foto: Burhan Ozbilici/ dpa
Mehr noch: Es droht eine globale Hungerkrise, die vor allem eine Folge von Putins Krieg gegen die Ukraine ist. Etwa 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte kamen bislang aus der Ukraine und Russland. Millionen Tonnen Getreide für den Weltmarkt stecken nun in der kriegsgebeutelten Ukraine fest. Sie drohen in Silos zu verrotten, weil Russland die ukrainischen Seehäfen blockiert, während Russland selbst wegen seiner Aggression mit Handelsbeschränkungen belegt ist.
Hier kommt die Türkei ins Spiel: Sie soll helfen, die Blockade der ukrainischen Häfen durch die Russen zu beenden und das wertvolle Gut abzutransportieren.
Als eines der wenigen Länder, das gute Kontakte sowohl zur Ukraine als auch zu Russland hat, tritt die Türkei seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder als Vermittlerin auf – eine Rolle, die die Regierung in Ankara offensichtlich sehr gern ausfüllen möchte. Es gab bereits Treffen russischer und ukrainischer Delegationen auf türkischem Boden, etwa in Antalya. Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie sich die Türkei gegenüber Russland derzeit positioniert. Sie hat das sogenannte Abkommen von Montreaux aktiviert und damit die Durchfahrt für ausländische Kriegsschiffe, sprich russische, durch den Bosporus gesperrt. Und sie verkauft und liefert Drohnen eigener Herstellung in die Ukraine.
Kurz vor Beginn des Krieges hatten beide Seiten sogar bei einem Besuch von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Ukraine vereinbart, dass die mittlerweile weltberühmte Bayraktar-Drohne auch in der Ukraine gebaut werden sollte. Diese Drohne, die Litauen per Crowdfunding für die Ukraine kaufen wollte, will der türkische Hersteller der Ukraine jetzt sogar schenken, wie der litauische Verteidigungsminister selbst fast ungläubig twitterte. Man kann davon ausgehen, dass ein solches Geschenk nicht ohne das Go der türkischen Regierung gemacht werden kann.
Insofern wäre es keine große Überraschung, wenn die beiden Außenminister bei der gemeinsamen Pressekonferenz heute tatsächlich einen »Getreide-Deal« präsentieren würden. Ein Abkommen könnte die Nahrungsmittelkrise und die jüngsten Preissteigerungen womöglich abmildern. Besonders für weite Teile Afrikas wäre das eine ersehnte Nachricht.
Es schließen sich allerdings Fragen an: Was könnte es bedeuten, wenn sich eine große Menge Weizen unter der Kontrolle der Präsidenten Putin und Erdoğan befinden?
Für den türkischen Präsidenten Erdoğan wäre ein Abkommen ein großer politischer Erfolg. Spätestens im kommenden Jahr wird ein neuer Präsident in der Türkei gewählt, der autoritär regierende Staatschef dürfte alles dafür tun, um an der Macht zu bleiben. Doch zuletzt waren die Zustimmungswerte nicht allzu gut für den erfolgsverwöhnten Politiker. Die Wirtschaft liegt brach, das internationale Image ebenso. Die Mittelschicht löst sich auf, Armut grassiert, die Regierung bekommt die Inflation nicht in den Griff (im Mai lag diese nach offiziellen Zahlen bei 73,5 Prozent ). Gleichzeitig erhöht die Regierung den Druck auf die Opposition im Land, wie die letzten Urteile etwa in den Gezi-Park-Prozessen gezeigt haben. Auch das kann man nicht losgelöst von der kommenden Wahl betrachten.
Doch den derzeitigen außenpolitischen Kurs scheinen die Wählerinnen und Wähler laut Umfragen zu goutieren.
Während also die Repression im Inneren des Landes höher wird, tritt die Türkei im russischen Krieg gegen die Ukraine derzeit außenpolitisch als eine Akteurin auf, an der man schlecht vorbeikommt.
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Eine Kanzlerin blickt zurück, nicht in Zorn, aber etwas zu kühl
Es ist wohl nicht zu waghalsig, zu behaupten, dass wohl die meisten meiner Kolleg:innen auch gern dieses Gespräch mit Angela Merkel geführt hätten, das unser Kollege Alexander Osang gestern im Berliner Ensemble vor Publikum führen konnte. Es war der erste große Auftritt nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft – und klar, alles daran war bemerkenswert und ließ einen wie gebannt auf den Bildschirm schauen.
Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel auf der Bühne im Berliner Ensemble
Foto: FILIP SINGER / EPA
Einiges, was die Kanzlerin a.D. gesagt hat, muss man sicher noch sacken lassen. Auffallend war für mich persönlich nicht nur, dass das Publikum eine recht heitere Frau zu sehen und zu hören bekam und offensichtlich auch nach ein wenig Eskapismus im Merkel-Stil dürstete (als sie etwa davon erzählte, dass sie das Genre des Hörbuchs neu für sich entdeckt hätte und unter anderem »Macbeth« von William Shakespeare an der Ostsee gehört habe – was auch sonst). Sondern, dass sie im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg, den sie als solchen bezeichnet und verurteilt hat, die Worte »Tragik« und »Trauer« benutzte, als sei die Aggression keine bewusste eingesetzte Handlung des russischen Präsidenten.
Die meisten ihrer Antworten auf die Fragen nach der Ukraine und Russland lassen sich wohl auf die Formel bringen: Ich/wir haben gemacht, was damals richtig erschien – und damals erschien es nicht richtig, ein »von Oligarchen dominiertes Land« in die Nato aufzunehmen.
Eine beklemmende Aussage, denn sie priorisiert in gewisser Weise aus heutiger Sicht so gar nicht die Problematiken. In diesen Momenten wirkte die Kanzlerin kühl – fast schon kalt. Auch als Alexander Osang sie darauf ansprach, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj sie Anfang April aufgefordert hatte nach Butscha zu reisen, damit sie sich selbst ein Bild ihrer »gescheiterten Russland-Politik« machen konnte. Eine Einladung, die sie bekanntlich nicht wahrnahm. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk kritisierte sie einige Tage später heftig, da sie Urlaub in Florenz machte: »Klar, in Florenz liegen ja keine ermordeten Frauen und Kinder auf den Straßen. Dafür gibt es aber so viel Kultur und Kunst. Herrlich«
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Bemerkenswerterweise reagierte Merkel auf diese harte Anklage zunächst mit Verständnis für die Ukrainer und sprach vom Mut und der Leidenschaft Selenskyjs, vor dem sie große Hochachtung hätte – um gleich wieder merkelmäßig herb umzuschwenken und sinngemäß zu sagen, dass sie ja nicht bei jedem Konflikt nur noch in die Uckermark reisen könne.
Seit wann ist Demütigung eine politische Kategorie?
Ich bin etwas late to the party. Aber meiner Ansicht nach kann man nicht oft genug betonen, wie grandios falsch es ist, für den Aggressor hörbar und vor der ganzen Welt zu sagen, dass er nicht gedemütigt werden dürfe – so wie es der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich in einem Interview gemacht hat. »Wir dürfen Russland nicht demütigen, damit wir an dem Tag, an dem die Kämpfe aufhören, mit diplomatischen Mitteln eine Startrampe bauen können.«
Russland nicht demütigen: Die Präsidenten Frankreichs und Russlands, Emmanuel Macron (l.) und Wladimir Putin bei einem Treffen 2017 in Versailles
Foto: PHILIPPE WOJAZER/ REUTERS
Er sagt zwar »Russland«, aber man kann den Satz eigentlich nicht anders verstehen, als dass er Putin meint – wenn die Diplomatie tatsächlich wieder ins Spiel kommen kann (woran Putin derzeit kein Interesse hat), dann wäre es ja nicht »Russland«, das darüber entscheidet, sondern der Präsident.
Dazu einige Fragen:
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Was ist mit der (zumindest versuchten) Demütigung der Ukraine und ihrer Menschen?
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Seit wann ist es Aufgabe der Politik, sich um die Gefühlslage von Aggressoren zu kümmern?
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Wie kommt man überhaupt darauf, dass es den russischen Präsidenten interessiert, wenn sich andere Staats- und Regierungschefs Gedanken um seine Gefühlslage machen?
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Was wäre es denn für ein Zustand, den der russische Präsident womöglich nicht als Demütigung empfinden würde und der demnach ein anzustrebender wäre?
Auch in Richtung der Ukraine ist dieser Satz von Macron fatal, weil er signalisiert, dass die Unterstützung für das angegriffene Land nicht eindeutig und klar ist. Dass Putin zu bewegen ist, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückt.
Doch jetzt ist nicht die Zeit für Uneindeutigkeiten, vor allem nicht aus Frankreich und Deutschland. Der Kreml dürfte nur darauf warten und diese Uneindeutigkeiten für sich nutzen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Özlem Topçu